Geschichte machen

Wer zu spät kommt, dessen Geschichte wurde schon von anderen aufgeschrieben. RAF und militante Linke bevorzugen offenbar die Rolle des Objekts. von ivo bozic
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Wer schreibt die Geschichte der militanten Linken? Zum Beispiel die »gruppe 2«. Ein linksradikales Dokumentarfilm- und Archivprojekt in Unterhaching bei München, das 20 Jahre lang »Dokumentationen zur Zeitgeschichte« veröffentlichte und den Anspruch vertrat, die Kämpfe der radikalen Linken für die Zukunft festzuhalten. Vor fünf Jahren stellte sich dann heraus, dass die »gruppe 2« nur aus einer Person, Manfred Schlickenrieder, bestand, und der arbeitete für den Geheimdienst. (Jungle World, 52/00).

Schreibt also der Geheimdienst die Geschichte? Oder Leute wie Elmar Spicker? 1972 wurde er »Inspektor für Sicherheit und Ordnung« in der Kölner Haftanstalt Ossendorf. Dort hatte er als Aufpasser mit diversen RAF-Mitgliedern zu tun und berichtet davon gerne den Medien, etwa der Kölnischen Rundschau. Der verriet er u.a.: Bevor Ulrike Meinhof nach Stuttgart-Stammheim verlegt worden sei, habe sie ihm »eine korrekte Behandlung« bescheinigt und ihm »alles Gute« gewünscht. Also alles prima.

Oder ist Butz Peters der zuständige Historiker? Ein Jurist und Journalist, der ausgerechnet als Moderator der Polizei-Sendung »Aktenzeichen XY ungelöst« im ZDF bekannt wurde. Immerhin heißt sein kürzlich erschienenes Buch »Tödlicher Irrtum« im Untertitel: »Die Geschichte der RAF«. Das klingt vollständig und abschließend, und der Umfang von 863 Seiten untermauert diesen Anspruch.

Also noch mal: Wer schreibt die Geschichte? Die österreichische Band Schmetterlinge stellte in ihrer »Proletenpassion« schon 1977 diese Frage und hatte darauf auch eine einfache Antwort: wir. Wir sollten unsere eigene Geschichte schreiben. Problem: Wer sind wir? Und wer kann und will sich als »wir« zu erkennen geben, wenn es um Ereignisse geht, die entweder justiziabel oder gesellschaftlich geächtet sind? Vor allem Veteranen, die ihre Strafe abgesessen haben. Inzwischen haben viele ehemalige RAFler und auch Mitglieder der Bewegung 2. Juni ihre Geschichte aufgeschrieben, Bücher herausgegeben. Mit wenigen Ausnahmen sind es Autobiographien, sehr subjektiv und weitgehend frei von politischen Reflexionen. Also eher Geschichten als Geschichte.

Aber auch Geschichten sind ein wichtiger Baustoff für das, was später einmal »die Geschichte der RAF« sein wird. Vielleicht auch die Geschichten, die Butz Peters gesammelt hat. Denn auch wenn sein Werk geprägt ist von der grundsätzlichen Ablehnung der Ziele und der Mittel der Stadtguerilla, sind viele Anekdoten und Storys nicht ganz unbedeutend, um die RAF-Politik im Nachhinein zu bewerten. Manchmal sind es nur kleine Geschichtchen, die aber mehr aussagen als etwa die Zahlen, die Peters ebenfalls zusammengetragen hat: In 28 Jahren RAF gab es 34 Morde, 27 tote Guerilleros, 104 konspirative Wohnungen, 180 gestohlene Pkw, 31 Banküberfälle der RAF, bei denen sieben Millionen Mark erbeutet wurden. Weit über 1 000 Menschen wurden, Peters zufolge, im Zusammenhang mit der RAF verurteilt, davon 517 wegen angeblicher Mitgliedschaft und 914 wegen Unterstützung.

Warum aber sind die Geschichten interessanter? Zum Beispiel deshalb, weil wir sehen, dass auch ohne DNA-Analyse, Rasterfahndung und Lauschangriff die Kaufhausbrandstifter 1968 nach nur zwei Tagen überführt werden konnten. Dass also das von Revisionisten und Medien gebetsmühlenartig vorgetragene Argument, den Ausbau des Repressions- und Überwachungsapparates verdankten wir der RAF, jeder Grundlage entbehrt.

Oder deshalb, weil man zu erahnen beginnt, dass die Rolle Horst Mahlers für die Konstitution der RAF gewichtiger war, als oftmals dargestellt. Rechtsanwalt Mahler, heute ein aktiver Neonazi, begleitete die Gruppe auf ihrer ersten Reise in den Libanon, wo die Sponti-Militanten von der palästinensischen al-Fatah eine erste Ausbildung an Waffen erhielten, mit der die RAF sozusagen in ihre militärische Phase eintrat. Eine Reise, die von Said Dudin organisiert wurde, der noch heute aktiver Antizionist ist. Die Geschichten, die Peters aus diesem Ausbildungscamp erzählt, zeigen, wie die RAF von Anfang an mit dem Antisemitismus verstrickt war. Aussagekräftig auch, dass es die Genossen offenbar nicht störte, dass Mahler noch 1966 vor Gericht einen KZ-Aufseher verteidigt hatte.

Reaktionär wird Butz Peters vor allem da, wo er die angeblich paradiesischen Haftbedingen der RAF-Gefangenen beschreibt und sich über das »Gejammer« der RAF-Mitglieder geradezu lustig macht. Eine Tendenz in der Geschichtsschreibung, die auch von einer vor ein paar Tagen ausgestrahlten WDR-Dokumentation untermauert wurde. Wie es eben kommt, wenn man ehemalige JVA-Bedienstete und Anstaltsleiter als Zeitzeugen befragt.

Die Geschichte des DDR-Exils von zehn ehemaligen RAF-Kämpfern wird gerne von ehemaligen Stasi-Offizieren erzählt: als »erfolgreiches Resozialisierungsprogramm« und »Umerziehungsmaßnahme«. Dazu kommen die Erzählungen der Exilanten, die, von Inge Viett abgesehen, alle als Kronzeugen plauderten, um bei der Verurteilung besser wegzukommen. Trotz der Zweifelhaftigkeit dieser Quellen: Zusammen mit Stasi-Akten und der Autobiographie Vietts ist inzwischen ein recht umfassendes und vermutlich halbwegs authentisches Bild dieses deutsch-deutschen Kapitels entstanden. So finden sich denn auch bei Butz Peters keine Überraschungen.

Sein Buch ist keine politische Auseinandersetzung mit der RAF, und da, wo er es versucht, ist es schlecht. Es ist eine Fleißarbeit, bei der trotzdem vieles nicht stimmt. Kein Wunder, wenn man sich seine Quellen anschaut: Vor allem hat er 220 Gerichtsentscheidungen ausgewertet. Er hat aber auch mit Zeitzeugen geredet und sich die Mühe gemacht, die Texte der RAF und Berichte der Veteranen zu lesen. Immerhin hat er so die Grundstrukturen der RAF verstanden. Er beschreibt, soweit das heute beurteilt werden kann, zutreffend die drei Generationen, und er schafft es auch, im Gegensatz zur Justiz und den ihr folgenden Medien, zwischen RAF, 2. Juni, RZ und dem der RAF nahe stehenden »antiimperialistischen Widerstand«, also den seit etwa 1984 entstandenen »kämpfenden Einheiten«, sauber zu unterscheiden. Und er erkennt auch, welche wichtige Rolle das Mai-Papier von 1982 und das daraus folgende Frontkonzept für die dritte Generation tatsächlich spielte.

Anderen, die im Gegensatz zu Peters als Linke gelten, fehlt dieses Verständnis. So etwa den Verschwörungstheoretikern Gerhard Wisnewski, Wolfgang Landgraeber und Ekkehard Sieker, die ebenfalls beanspruchen, die RAF-Geschichte zu schreiben, dabei aber nichts als Desinformation betreiben (Jungle World, 22/01). Ihr Buch »Das RAF-Phantom« mit der Grundthese, die RAF habe seit 1984 nicht mehr existiert, wird von jungen Linken als Standardwerk verstanden, um sich der Geschichte des bewaffneten Kampfes zu nähern. Verheerend, denn dort stimmt wegen der falschen Ausgangslage so ziemlich gar nichts.

Wer also schreibt die Geschichte? Verschwörungstheoretiker? BAW und BKA? Die Stasi? »Aktenzeichen XY ungelöst«? Aussteiger und Kronzeugen? Künstler und Ausstellungsmacher? Ehemals gefangene Mitglieder der RAF? Warum eigentlich nicht die RAF selbst? Schließlich gibt es noch ein paar ehemalige Fighter im Untergrund. Eine politische Aufarbeitung jedenfalls müsste mit dem Antisemitismus beginnen, der sich mit hartnäckiger Kontinuität durch alle drei Generationen zieht, vom ersten Ausbildungscamp im Nahen Osten über Entebbe bis zu dem Anschlag auf einen Bus mit 31 jüdischen Migranten in Ungarn im Jahr 1991. Die RAF stand mit diesem allzeit virulenten Antisemitismus allerdings nicht allein. Im Gegenteil. Die Geschichte der RAF ist auch die Geschichte der deutschen Linken.

Butz Peters: »Tödlicher Irrtum. Die Geschichte der RAF«, Argon Verlag, Berlin 2004, 862 S., 24,90 Euro