Multikulti revisited

Neues vom Cultural-Studies-Theoretiker Stuart Hall. von jens kastner

Das allerorten diskutierte »Ende der multikulturellen Gesellschaft« könnte ein Anlass sein, sich noch mal einen mittlerweile zum Klassiker avancierten Theoretiker der Cultural Studies anzuschauen. Stuart Hall ist nicht nur dank seiner verschiedenen theoretischen Anleihen einer der meistgelesenen Autoren aus diesem Wissenschaftszweig. Bekannt ist er auch für sein Bemühen um eine Politisierung der bisweilen zu Konsumberatung neigenden Disziplin.

Nun ist der vierte Band seiner ausgewählten Schriften erschienen.

Darin stellt Hall den Multikulturalismus als umkämpfte Idee vor, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges aus verschiedenen Gründen ins Zentrum der politischen Debatte gerückt ist. Nämlich erstens durch die Entkolonisierungs- und nationalen Unabhängigkeitsbewegungen, die zu neuen Konstellationen innerhalb der alten und der neu gegründeten Nationen geführt haben, zweitens durch das Ende des Kalten Krieges und die Errichtung der »Neuen Weltordnung«, die neue soziale Probleme hervorgerufen hat. Und drittens durch die ökonomische Globalisierung, die mit vielen Formen der Enttraditionalisierung einhergeht.

Hall konstatiert dabei, dass diese Prozesse von einer »subalternen Verbreitung der Differenz« begleitet werden. Er betont damit, dass die Anwesenheit der zuvor als »fremd« Kategorisierten auch immense Auswirkungen auf das »Eigene« hat – und nicht nur den Druck zur Assimilation auf jene auslöst.

In drei Bereichen stellt Hall dann auch zersetzende Einflüsse durch die multikulturelle Frage fest. Sie verändere zum einen das Reden über Rasse und Ethnizität, zweitens das gängige Verständnis von Kultur, und drittens stelle sie die Grundlagen des liberalen Staates in Frage. Ebenso wie auf die Erfordernis eines Rassismusbegriffes, der auch die Behauptung unüberwindbarer kultureller Differenzen umfasst, weist die multikulturelle Frage auf die Starrheit eines Kulturbegriffes hin, der Durchlässigkeiten und Vermischungen ausschließt. Entscheidend bei den gegenwärtigen Abgesängen auf die multikulturelle Gesellschaft scheint aber insbesondere der dritte Punkt zu sein: Ein radikal verstandener Multikulturalismus zeigt immerhin auf, dass der liberale Nationalstaat ethnisch keineswegs neutral agiert. Er löst seinen eigenen Anspruch nicht ein, wenn er Einzelnen oder Gruppen aufgrund ihrer »anderen« Herkunft mangelnde Loyalität unterstellt oder sie per Ausländergesetz juristisch diskriminiert.

Hall kritisiert die ausschließende Seite ethnischer Identitäten und betont zugleich die Unumgänglichkeit, mit der jede/r in sie verstrickt ist. Dass er daraus weder die Ablehnung aller Identitätspolitik ableitet, noch der naiven Rede von der Identität als Ressource frönt, ist ihm hoch anzurechnen. Identitäten, das sollte allerdings dazu gesagt werden, sind, entgegen allen essenzialisierenden Konzepten jeder Leitkultur, für Hall »Positionen, die das Subjekt ergreifen muss«. Marxist genug, hält er dieses Ergreifen aber nicht einfach für einen Akt des freien Willens. Denn gleichzeitig sind Ideologien am Werk, die uns beeinflussen. In gesellschaftliche Diskurse über die multikulturelle Gesellschaft beispielsweise ist der prekarisierte weiße Intellektuelle anders eingeschrieben als die kopftuchtragende, muslimische Putzfrau. Diese unterschiedliche Positionierung wiederum hat verschiedene Auswirkungen auf die individuellen Praktiken. Handlungen lassen sich dadurch allerdings ebenso wenig ableiten wie vorhersagen. Nur Parameter sind beschrieben und Handlungsräume definiert, die aber wiederum auf die Strukturen zurückwirken.

Die imaginäre Beziehung, in der Marx zufolge Menschen zu ihren Existenzbedingungen leben, hat Hall zufolge reale Effekte. Bereits in den frühen achtziger Jahren hat Hall diesen Ideologiebegriff entwickelt, der in Auseinandersetzung mit Antonio Gramsci und Louis Althusser auch auf Erkenntnisse der Sprachtheorie zurückgreift. Gerade die Sammlung von Aufsätzen aus mehr als 20 Jahren macht neben einem recht beeindruckenden Themenrepertoire auch die Konsistenzen und Kontinuitäten von Halls Denken über die unterschiedlichen Fragestellungen hinaus deutlich.

Vor diesem Hintergrund wird auch klar, dass das berühmte Kodieren/Dekodieren-Schema von 1977 nicht nur ein Modell der Mediennutzung war, als welches es später von anderen VertreterInnen der Cultural Studies aufgegriffen wurde. Vielmehr war es als gesellschaftskritische Methode konzipiert. Die vereinfachende Vorstellung von einem Sender, der den trichterförmigen Empfänger mit Nachrichten versorgt, sollte dabei ebenso vermieden werden wie die von der widerständig eigensinnigen Aneignung beliebiger Telenovelas. Vielmehr sollte die Produktion von Bedeutung zwischen Determinierungen und relativer Autonomie der RezipientInnen ausgemacht – und damit der »Politikbegriff hin zur Kultur« geöffnet werden.

Aber wie Hall im Anschluss an Gramsci selbst sagt, werden Ideen nur dann wirksam, wenn sie mit einer bestimmten Konstellation gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse einhergehen. Die sind gegenwärtig wohl weder stark genug, um ein kommunikationstheoretisches Modell politisch zu lesen, geschweige denn um eine radikale Vision des Multikulturalismus durchzusetzen. Multikulturalismus, folgert und fordert Hall, dürfe nicht nur eine Doktrin bleiben, die dem Leben etwaiger Minderheiten gewidmet ist und dieses bestenfalls zu verbessern trachtet. Darüber hinaus sollte er eine Strategie sein, »die mit der Mehrheitslogik radikal bricht« und die bisherige Konfiguration der Nation in Frage stellt. Dass die Mehrheit da lieber das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft und damit ihrer Konzepte konstatiert, verwundert wenig.

Stuart Hall: Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4, Hamburg 2004, Argument Verlag, 236 S., 16,90 Euro