Mythos, selbst gemacht

Die Bedeutung der Todesnacht von Stammheim für die Linke von wolf-dieter vogel

Die Geschichtsschreibung beginnt bereits am Morgen danach. »Sie haben sie umgebracht«, sagen zwei Freundinnen, die zu ungewöhnlich früher Zeit aus der Nachbar-WG gekommen sind. Alle schweigen, starren vor sich hin, doch niemand am Tisch wundert sich: Im Krisenstab wurden »exotische Lösungen« diskutiert, Arbeitgeberchef Hanns-Martin Schleyer ist immer noch entführt und in der süddeutschen Provinz stehen ständig seltsame Typen vor der Tür, um das vermeintliche Terrorumfeld zu observieren. Im Hintergrund scheppert einmal mehr die Nachricht aus dem maroden Radio: »In der vergangenen Nacht haben sich die drei RAF-Gefangenen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim das Leben genommen.« Am Tag darauf ist auf einer Kirche in der Nachbarstadt in großen schwarzen Lettern zu lesen: »Rache für unsere ermordeten Genossen«.

Damit war die Linie vorgegeben, obwohl bis heute nicht geklärt ist, was tatsächlich in der Nacht zum 18. Oktober 1977 im Stammheimer Knast vorfiel. Staatliche Stellen rückten nie – trotz zahlreicher Ungereimtheiten – auch nur einen Millimeter von der Selbstmordversion ab. Inzwischen sprechen jedoch auch viele ehemalige RAF-Leute vom Suizid. Auch solche, die einst in ihrer »antiimperialistischen Front« von Guerilla, Militanten, Gefangenen und legal agierenden Gruppen keinen Zweifel an der Mordversion aufkommen ließen. Wer Skepsis an den Tag legte, wurde schnell als »Staatschutzschwein« entlarvt.

Neben den »Antiimps« hielten aber auch die meisten der libertärer strukturierten Autonomen an der Mordthese fest. Schließlich gab sie die moralische Legitimation für radikalen Widerstand ab: Dieser Staat ist bereit, seine Gegner als Geiseln zu liquidieren. Die Toten von Stammheim wurden zu einem Fanal, das in der Organisierung der radikalen Linken in den folgenden Jahren immer eine Rolle spielte, im Häuserkampf, in militanten Zellen, am Bauzaun atomarer Anlagen. Bereitwillig verteidigte man einen Mythos, der sich schon damals ebenso gut als Lebenslüge hätte entpuppen können und sich – schenkt man einstigen Protagonisten heute Glauben – für viele mittlerweile auch als solche entpuppt hat. Nachgefragt haben hauptsächlich jene, die sich danach – teils als Konsequenz – auf den legalistischen Weg machten, um die Grüne Partei und alternative Gemüseläden zu gründen.

Mit der Mordversion lebten Linksradikale so gut wie Vertreter des Staates mit ihrer Rede vom Selbstmord. War die RAF bereits zuvor zur »Befreit-die-Guerilla-Guerilla« verkommen, haben die Vorfälle im Stammheimer Knast wesentlich dazu beigetragen, dass die RAF nur noch auf moralischer Grundlage ihren Kleinkrieg gegen den Staat legitimierte. Analytische Kriterien, die diese Form militanten Kampfes als Schritt zur Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse hätte begründen können, suchte man vergebens. So wollte man beispielsweise »nicht sehen«, wie der ehemalige RAFler Karl-Heinz Dellwo später selbstkritisch einräumte, »dass es zwischen Herrschenden und Beherrschten einen Konsens gab«.

Sicher, die RAF ist Geschichte. Doch die Bereitschaft, aus Lebenslügen oder zurechtgebogenen Informationen vermeintliche Stärke zu ziehen, ist in der Linken weiterhin verbreitet. Nicht zuletzt deshalb muss sich, wer heute die Geschichte der Stadtguerilla schreiben will, auch damit auseinandersetzen, warum die radikale Linke damals gern und schnell aus halb gesicherten Informationen »Wahrheiten« gestrickt hat. Und auch die RAF-Veteranen, die heute vom Selbstmord reden, sind immer noch einige Erklärungen schuldig.