Schwerer Rucksack

Tocotronic ist auf dem Eso-Trip. thomas blum wünscht eine gute Reise

Alles, was ich will, ist / Nichts mit euch zu tun haben.« Und: »Sie wollen uns glauben machen / Es gäbe was zu lachen / Und unsere Leidenschaft / Ist ihnen rätselhaft.« Und: »Ich bin viel zu lange mit euch mitgegangen / Ihr habt mir viel zu oft auf die Schulter geklopft.« Und: »Es ist mir egal, aber / So will ich’s doch nicht haben.« Und: »Hey, hey, my, my / Manchmal wünschte ich / Dieser Quatsch wär’ schon vorbei.«

Meist waren die Songs kurze, harte Statements gegen die deutsche Langeweile, feine Alltagsbeobachtungen der unentrinnbaren Trübseligkeit, die uns hierzulande permanent umgibt. Sie klangen unbeschwert, druckvoll bis dorthinaus und wurden mit unfassbar roher Verve vorgetragen, von leichter Hand mit brachialer Leidenschaft heruntergerockt, ungetrübte Wucht und Dynamik verströmend. Bummrattabumm, Rummsdibumms, Rengdengelditschackdeng. Und dann: Wall of Sound. Ja! So gefiel uns das.

Die Ratlosigkeit und die Frustration wurden hemmungslos herausgeschrien und -gebrüllt, dass einem das Herz im Leibe aufging wie einem 17jährigen, der zum ersten Mal eine E-Gitarre hört. Wir sind orientierungslos, aber auch dagegen, und wir haben Spaß dabei, hieß das ungefähr, wir machen bei eurer Rund-um-die-Uhr-Werbe- und Verkaufsveranstaltung zum Thema Deutschland nicht mit. Auf die Gitarre wurde berserkerhaft eingedroschen, und am Ende kam, die eine oder andere textliche Banalität hin oder her, immer eine nebulose, unbestimmte, aber gewaltig rumsende Dissidenz dabei heraus.

Ganz und gar liebenswürdige, rotzige, hübsche, geschmackvolle, höchst unzufriedene Buben, die wild at Heart waren, waren das, ganz so, als habe Nirvana jetzt plötzlich beschlossen, deutsche Texte zu machen. Man wollte beim Hören dieser Musik in seinem Zimmer Pogo tanzend im Viereck springen vor Erleichterung, dass es solche Musik noch oder wieder gab, und das tat man auch, bis einem der Rotz aus der Nase flog.

Man hörte den diffusen Überdruss aus jedem Song: »Ich bin nicht hier geboren / doch es ist mir auch egal.« Genau: Lauter! Härter! Schneller! Scheißegal alles, Hauptsache, es ist laut genug und hört und fühlt sich an wie echter Rock’n’Roll. Und das tat es so sehr, dass man beinahe weinte und befreit auf der Luftgitarre aufspielte. Katharsis! Overkill! Keep it coming! Alter, was für ein gigantisches Ding!

Dann hin und wieder schleppend langsam, mit meterdicker Melancholie, ganze Bibliotheken in zwei Zeilen zusammenfassend: »Ich möchte irgendwas für dich sein /Am Ende bin ich nur ich selbst.« »Mein neues Hobby ist die Einsamkeit.«

Schon allein die Plattentitel waren eine ganze, fertige, klare Philosophie der Verweigerung ohne deutsche Pathosscheiße: »Wir kommen, um uns zu beschweren.« – »Es ist egal, aber.« Irgendwie geht nichts mehr, aber einverstanden sind wir trotzdem nicht, so lautete die Mitteilung. Und dem Deutschquotentrottelverein, der die Band gelegentlich vereinnahmen wollte, machte sie beizeiten klar, dass sie ihn für geschmacklos und nicht satisfaktionsfähig hielt. Wir wollen in eurem Club nicht Mitglied sein. Großartige Sache, das. Wer machte denen so was nach? Kaum einer.

Seit den Fehlfarben zu Beginn der achtziger Jahre und der Kolossalen Jugend im Jahr der Wiedervereinigung war keine deutsche Band mehr so wenig deutsch, so wenig kitschig, so wenig blöd, so wenig prätentiös, und das war ungewöhnlich und schön. Tocotronic hießen diese Jungs, und ihre Konzerte waren … na, wie heißt das? … Epiphanie, irgendwie. Ein paar grünschnäbelige Flegel, die auf der Bühne standen und etwas veranstalteten, an das ich mich nicht erinnern kann, jedenfalls war ich hingerissen.

»Tocotronic stieg zur großen Deutschrockband für junge Menschen auf, die gerade Abitur, Zivildienst und / oder soziales Jahr bewältigt hatten«, analysiert messerscharf das Zentralorgan des Pop, die Berliner Morgenpost, die sich seit je mit derlei auskennt.

Heute ist alles anders. Heute hält der Sänger Dirk von Lowtzow Eskapismus für eine »radikalpolitische Geste« und meint, es sei »revolutionär, sich mit Spirituellem zu beschäftigen«, was er offensichtlich, bestückt mit einem Haufen Esoterikschinken, auch reichlich getan hat, was wiederum dazu geführt hat, dass sich diese Band heute so anhört: »Ich mag die Tiere nachts im Wald / Wenn sie flüstern, dass es schallt / Ich mag den Weg und das Ziel (…) Ich mag die Wolken und den Wind / Ich mag das Licht, das du mir bringst (…)Wenn die Träume Funken sprüh’n / Und die weißen Blumen blüh’n. (…) Ich mag die Spiegelung der Luft / Und wenn die Sehnsucht nie verpufft (…)«

Was ist geschehen? Wer hat der Band deutsche Naturlyrik des 19. Jahrhunderts oder Bücher von Marion Zimmer Bradley zum Lesen gegeben? Was ist hier los? Schon auf ihrem letzten (weißen) Album mit dem Titel »Tocotronic« deutete sich an, dass die Band den ungestümen Schrammelrock von einst satt hat und sich werweiß zu Höherem berufen glaubt.

Und nun, mit dem neuen Werk, wird endgültig offenbar, was hier los ist: Reinhard Mey und deutscher Schlager meet Weltflucht und frühe Midlife Crisis. »Weine nicht, denn dein Gesicht ist viel zu schön.« Und: »Wir sind so leicht, dass wir fliegen.«

Der recht gleichförmige, irgendwie altersmelancholisch sein wollende, unentschiedene, gänzlich überraschungslose, behäbiger und energielos gewordene Sound wirkt gebrochen, matt. Wie eine gefällig neben den Texten einherschwebende Gitarrengeplänkelklangtapete hört sich das an. Die Texte selbst wiederum sind gewollt … hm … nennen wir es: romantischer. Dunkles, orakelhaftes Geraune, das sich übermäßig wichtig zu nehmen scheint, häufig an der Grenze zum Prätentiösen, Gespreizten, Peinlichen. Und was säuselt der wie erschlafft wirkende Gesang? Von einer Zaubermacht, einem Verlies aus Gold und Tau, dem Ozean, dem Nachtwind, dem Wald, dem Mondlicht, leuchtenden Sternen, einer Reise ins Licht, dem Engel der Liebe oder dem Engel der Erinnerung wird da unter anderem so penetrant dahergesungen, dass man sich beinahe ein wenig schämt und hofft, dass einem beim Hören der Platte niemand zusieht. Manchmal wird auch im Chor »Lalala« gesungen, was dann im Geist längst verdrängte Bilder von Menschen hervorruft, die schunkeln und sich an den Händen fassen.

»Tagelang war ich im Bann / Vom Glanz des Himmels übermannt.« »Wir müssen durch den Spiegel gehen.« Wer ist für diese erbärmliche Primanerlyrik verantwortlich, die da mit solch feierlichem Ernst vorgetragen wird? Was soll das ganze Zeug, dieses ganze Gestelzte, Geschraubte, Hochtönende, Ergriffenheitsfordernde, Erhabenheitsselige, Mystikverliebte, bleischwer Bedeutungsheischende? Muss das sein? »Ich hab’ die Schwelle gekreuzt / In die Unendlichkeit / Der Weg war weit / Ich war wie Treibholz der Zeit (…) Ich habe Feuer gesehen (…) Alles wird umgeweiht / In eine Herrlichkeit / Jetzt bin ich bereit / Ich fürchte nichts weit und breit / Ich werde frei sein und gehen / Zur nächsten Station.« Eine Art verrätselte Sitz-, Horch- und Besinnungsmusik für unglücklich verliebte Gymnasiasten soll das wohl sein, es ist aber bloß überspannter Esoterikschwurbel.

Vermutlich bildet sich Tocotronic nun, da die Bandmitglieder über 30 sind, ein, sophisticated oder schlimmstenfalls irgendwie erwachsen oder gar nachdenklich oder »gereift« wirken zu müssen. Möglicherweise haben wir es mit einem Konzeptalbum zu tun. Oder vielleicht sind sie den Jusos, der evangelischen Kirche oder einer anderen Sekte beigetreten, was weiß denn ich?

Wie war das früher noch? »Ich möchte alle meine Freunde sehen / Ich bin erst wach, wenn sie schon schlafen gehen.« Diese Zeit scheint vorüber zu sein. Jetzt ist die Zeit gekommen, in der Schwellen in die Unendlichkeit gekreuzt werden. Von hier aus eine gute Reise. Und öfter mal den Bedeutungsrucksack absetzen und verschnaufen. Nur so als Empfehlung.

Tocotronic: Pure Vernunft darf niemals siegen (L’Age D’Or)