Kein Tag der Freude

In den baltischen Staaten wird über die politische Deutung des 9. Mai diskutiert. Es war der Anfang einer neuen Besatzung, lautet die aktuelle Geschichtsschreibung. von franziska bruder

Seit Anfang des Jahres äußern ranghohe Politiker der drei baltischen Staaten Bedenken, an den Feierlichkeiten anlässlich des 60. Jahrestages des Kriegsendes am 9. Mai in Moskau teilzunehmen. Der 9. Mai 1945, so die Begründung, sei für die baltischen Staaten kein Tag der Befreiung, sondern der Anfang einer weiteren Besatzung gewesen, zu der sich Russland bislang nicht selbstkritisch geäußert habe. Diese Debatte wurde zuletzt in das Europaparlament getragen, wo unter anderem der ehemalige polnische Außenminister Bronislaw Geremek den russischen Regierungschef Wladimir Putin aufforderte, hierzu Stellung zu beziehen. Deutsche Abgeordnete der FDP und der CDU forderten sogar Gerhard Schröder auf, seine Reise nach Moskau abzusagen.

Hintergrund des Konflikts ist die Tatsache, dass auf der Grundlage des Hitler-Stalin-Paktes vom August 1939 und seiner geheimen Zusatzprotokolle die Rote Armee Litauen, Estland und Lettland besetzte. Durch eine fadenscheinige Wahl wurden sie als Sozialistische Sowjetrepubliken in die Sowjetunion eingegliedert. In allen drei Ländern wurden große Teile der Bevölkerung inhaftiert oder deportiert. In Litauen hatten vor dem Krieg allein in Wilna 100 000 Juden gelebt. Jüdische Organisationen wurden unter der sowjetischen Besatzung ebenfalls aufgelöst. Unter den 35 000 deportierten Litauern befanden sich auch 7 000 Juden. Kein Vergleich war dies aber zu dem Terror, der dem Einmarsch der Wehrmacht am 22. Juni 1941 folgte: 95 Prozent der litauischen Juden wurden bis Ende 1941 ermordet. Tatkräftige Unterstützung erhielten die Deutschen dabei von litauischen Nationalisten.

Im Juli 1944 befreite die Rote Armee Litauen von der nationalsozialistischen Besatzung. Mit dieser Befreiung oktroyierte Stalin erneut ein Regime, das direkt von Moskau abhängig war. Ein national-litauischer militärischer Widerstand wurde erst 1953 gebrochen. Russisch wurde als Amts- und Verkehrssprache eingeführt, und im Zuge der erzwungenen Kollektivierung wurden Hunderttausende deportiert. Dieser Zahl ist bei einer Bevölkerungszahl von derzeit 3,4 Millionen enorm hoch. Der Anspruch, von der russischen Regierung hierzu ein kritisches Statement zu erhalten, ist verständlich.

Die Geschichte zeigt aber ebenso, dass ein kompliziertes Geflecht von Opfer- und Täterschaft vorliegt. Eine legitime Diskussion über Verbrechen des sowjetischen Systems kann aber die nationalsozialistische Verantwortung für den Holocaust und die massenhafte Kooperation litauischer Nationalisten keinesfalls in den Hintergrund drängen. Die Diskussion über den Holocaust überhaupt und die Beteiligung von Litauern steht in Litauen erst ganz am Anfang. Exillitauer forcieren seit der staatlichen Unabhängigkeit die Forschung über die sowjetische Besatzung und wehren mit zumeist antisemitischer Argumentation die Frage nach litauischer Mittäterschaft ab. Das ist vergleichbar mit der ukrainischen Situation.

Im Januar 2005 erklärte Putin, er erwäge, den Hitler-Stalin-Pakt zu annullieren. Diese Bemerkung stand im Zusammenhang der noch nicht erfolgten Anerkennung der estnisch-russischen Grenze und verdeutlicht, wie eng die historische Debatte mit heutiger Machtpolitik auf allen Seiten verknüpft ist. Entsprechend gereizt war die Entgegnung der baltischen Regierungschefs, man könne nicht annullieren, was von Beginn an illegal war.

Deutschlands mörderische Geschichte im Baltikum ist lang. Freikorps meuchelten dort nach Ende des Ersten Weltkriegs Tausende Zivilisten. Ehemalige Freikorpsmitglieder wie Rudolf Höß waren eine wesentliche personelle Basis des NS-Regimes. Geremek, Überlebender des Holocaust, ist mit dem Anspruch, Geschichte umfassend zu thematisieren, ernst zu nehmen. Anders die deutschen Abgeordneten: Zurückhaltung wäre wohl das Mindeste.