Jules Vallès, der Insurgent – Extended Version
In den vergangenen 200 Jahren ist es immer mal wieder passiert: Da begegnen sich, in der Aktion, Leute, die eigentlich auf recht unterschiedlichen Baustellen an der Menschwerdung des Menschen werkeln.
»Ich schrie mit den Arbeitern, die in langer, feuerspeiender Prozession, der Gefahr nicht achtend, über die gepflasterte Erde stampften. Ich stampfte auch.«
Else Lasker-Schüler, die hier eine wirklich sehr kurze Episode ihres Lebens beschreibt, hatte allerdings Freunde, deren Liaison mit der revolutionären Arbeiterbewegung intensiver war – und die die Dichterin, nach ihrer Art, besungen hat: »Bewegt beuge ich meine Knie vor meinen dichtenden, schlichten Märtyrerfreunden Apostata. Zwei von ihnen, Gustav Landauer, der Jakobus, und Leviné, der erzengelhafte, fielen ihrer Erlösungsballade zum Opfer. Dem ersten riss man den gewaltigen roten Pocher aus der Brust, dem zweiten durchbohrte man im Gefängnishof der Schläfe gütigen Stern. Und noch zwei Dichter schmachten schon jahrelang (…) Erich Mühsam und der Toller. Diese vier Menschen der Liebe, die alle äußere Pracht verschmähten und den Nächsten liebten, wie sich selbst, ja über sich hinaus, unsere Könige.«
Die von Lasker-Schüler gekrönten Häupter (so asketisch wie besungen waren sie zum Glück nicht) waren aus ihrer Welt, aus der literarisch-philosophisch-utopischen Subkultur, der Boheme – und sie waren, wegen Tatkraft und Zufall, zu politischen Führern der Münchner Räterepublik geworden. Landauer im Moment der Niederlage erschlagen, Leviné hingerichtet, Mühsam (später von den Nazis ermordet) und Toller (Selbstmord im amerikanischen Exil) zu langjähriger Haft verurteilt.
Der »Urvater« dieses Zweiges der Boheme ist Jules Vallès (1832 bis 1885). Er hat selbst mehr als die Hälfte seines erwachsenen Lebens als pauperisierter (oft hungernder, zeitweise obdachloser) Intellektueller verbracht; er hat die Deklassierten von Paris literarisch beschrieben; er wurde zum einflussreichen Journalisten und Agitator in der Endphase der Diktatur Napoleons III. und zum führenden Aktivisten der Pariser Kommune, der er, als auch die »fortschrittlichen« Schriftsteller auf Distanz zu ihr gingen, die literarisch wohl beeindruckendste Ehrenrettung schrieb.
Natürlich ist Vallès nicht der Erste, der die (Pariser) Bohème beschreibt. Vor ihm – und mit weitaus größerem Erfolg beim Publikum – hat das Henry Murger getan. Dessen Roman »Scènes de la Vie de Bohème« – besonders bekannt als Vorlage für Puccinis Oper – lässt die Protagonisten, junge Künstler und Philosophen, recht unkonventionell, in Armut und bewusst politisch desinteressiert leben, manchen Streich spielen, aber führt sie alle am Ende ihrer wilden Zeit zum auch materiellen Erfolg als angesehene Dichter, Maler, Musiker und Philosophen. Die Akteure blicken, am Ende des Romans, abgeklärt und auch ein wenig sentimental auf ihre Abenteuer, die ihnen als gute Schule, als angemessene Probezeit für spätere Etabliertheit erscheinen. (Mit ähnlicher Masche, wenn auch ohne die schriftstellerische Begabung Murgers, avancierte 140 Jahre später der vorübergehende »Rebell« Matthias Horx zum Motivationstrainer).
Während Murger im aufgeklärten Bürgertum dafür wirbt, der (künstlerischen) Jugend doch die Zeit zum Hörnerabstoßen zu gewähren, ist Jules Vallès, erklärter Gegner, nein Feind Murgers der Meinung, dass es für die Mehrheit der Pauperisierten kein Entrinnen aus ihrer gesellschaftlichen Stellung gibt. Die Romantisierung von Armut, gar als günstige Voraussetzung von Kreativität, hasst er.
In seinem ersten Buch (1865) »Les Réfractaires« (»Die Abtrünnigen«), zunächst als Folge von Artikeln in der Zeitung Figaro erschienen, schreibt er einleitend: »Meine Refrektären, meine Abtrünnigen, treiben sich umher auf den Misthaufen der großen Städte … Abtrünnige sind Leute, die alles angefangen haben und nichts geworden sind. Sie haben alle Fakultäten besucht (…) – sie bekamen keinen Grad, kein Patent und kein Diplom …
Der ist ein Abtrünniger, der mit den Füßen nicht im Leben steht, weil er keinen Beruf, keinen Stand, kein Handwerk übt und der sich nicht betiteln kann, sei es als Möbeltischler, Notar, Doktor oder Schuster, und dessen einziges Gepäck seine Manie ist – blöd oder gewaltig, fad oder berühmt und einerlei, ob er Kunst, Literatur, Astronomie, Magnetismus oder Handleserei betreibt, oder ob er per Zufall eine Bank, eine Schule oder eine Religion zu gründen trachtet (…)
Der Abtrünnige in Paris durchläuft die Spießrutengassen der Zischenden und der Auslachenden; er schreitet mit offener Brust und flammendem Stolze geradeaus, ohne den Weg zu überlisten. Das Elend bläst ihn mit eisigem Hauche an, packt ihn am Halse und schmeißt ihn in die Gosse; so fallen, welken und sterben gar oft die tapferen Naturen (…), weil sie, blind wie sie waren, der Lebenswirklichkeit ins Gesicht gelacht, weil sie der Gefahren und der Forderungen gespottet haben. Die Wirklichkeit (…) zwingt sie zu einem zehnjährigen Todeskampf ohne Größe, voll grotesker Schmerzen und ruhmloser Opfer.«
Man könnte sagen, in seiner Betrachtung der Boheme steht Vallès zwischen Marx und Mühsam. Der Erstgenannte hatte bekanntlich, verschiedene gesellschaftliche Gruppen in einen Topf werfend, diese als die soziale Basis des bonapartistischen Staatsstreichs von 1851 ausgemacht: »Neben zerrütteten Roués mit zweideutigen Subsistenzmitteln und von zweideutiger Herkunft, neben verkommenen und abenteuernden Ablegern der Bourgeoisie Vagabunden, entlassene Soldaten, entlassene Zuchthaussträflinge, entlaufene Galeerensklaven, Gauner, Gaukler, Lazzaroni, Taschendiebe, Taschenspieler, Spieler, Maquereaus, Bordellhalter, Lastträger, Literaten, Orgeldreher, Lumpensammler, Scherenschleifer, Kesselflicker, Bettler, kurz, die ganze unbestimmte, aufgelöste, hin- und hergeworfene Masse, die die Franzosen la bohème nennen.«
Überhaupt hat Marx, speziell in seinen (politisch absolut richtigen) Polemiken gegen die Szene der Geheimgesellschaften mit ihren putschistischen Plänen manch sachfremdes, mehr seine Auffassung von ›richtigem Leben‹ betreffendes, Argument einfließen lassen, etwa das »regellose Leben« (der »Konspirateure«), »dessen einzige fixe Stationen die Kneipen der marchands de vin sind (…) ihre unvermeidliche Bekanntschaft mit allerlei zweideutigen Leuten (…)«
Erich Mühsam, 60 Jahre später, hat dann (erzürnt über die Verbürgerlichung großer Teile des Proletariats) das von Marx so geschmähte Milieu eher zur Avantgarde stilisiert: »Verbrecher, Landstreicher, Huren und Künstler – das ist die Boheme, die einer neuen Kultur den Weg weist.« Später, als es Mode war, sich als Bohemien zu gerieren, hat Mühsam allerdings tüchtig geschimpft auf die »dieser Menschengattung so wesensfremden Elemente«, die »die literarischen Nachtcafés durchzirpen und sich größenwahnsinnig einbilden, ihre durch geistige Impotenz gebotene, absolute Unfähigkeit stempele sie zu Vertretern der Boheme«, obwohl sie doch davon träumten, »im Kreise einer liebenden Familie eine elegante Villa mit Park zu bewohnen«.
Weder »Abhub« (Marx) noch Wegweiser einer »neuen Kultur« (Mühsam), vielmehr ein Gemisch aus liebenswürdigen, verrohten, durch die politischen Verhältnisse ins Abseits gedrängten, aber auch die Angebote des normalen Funktionierens ausschlagenden Gestalten – das sind die Abtrünnigen bei Vallès.
Wie kam er dahin – und wie fand er da raus?
Der erste Teil seiner autobiografischen Trilogie »Jacques Vingtras« (beendet 1882) schildert seine Kindheit. »Allen, die auf der Penne zu Tode gelangweilt, am häuslichen Herd zu Tränen gehetzt, endlose Kinderjahre von Bildungspaukern gefoltert und von den Eltern lieblos verprügelt wurden, widme ich dieses Buch«, stellt er als Motto voran.
Von allem hatte er selbst im Übermaß abbekommen. Sein Vater, aus bäuerlichen Verhältnissen kommend, hatte es zum Lehrer gebracht, und das Kind sollte den sozialen Aufstieg fortsetzen. Was ihm zu diesem Zwecke angetan wird, all die (durch körperliche »Züchtigung«, andere Strafen und die Methode, einem Kind ein schlechtes Gewissen zu machen untermauerten) Belehrungen über Ordnung, Disziplin, Sauberkeit und Askese schildert er ebenso grotesk wie traurig.
Allein der Abschnitt, in dem er die an ihm vollzogene pädagogische Übung schildert, dass man die Speise, von der man kotzt, so oft und so lange verzehren müsse, bis der Magen sie zu verarbeiten lernt, gehört zu den besten unsentimentalen Kindheitserinnerungen, die ich kenne. Der Gedanke an Selbstmord war dem kleinen Jules kein fremder – und seinen Hass auf Klerus, Schule und Familie hat er sich auch später nicht ausreden lassen, nicht einmal von Proudhon (den er zeitweise am heftigsten bewunderte), dem bekanntlich die familiäre Erziehung ziemlich heilig war.
Jedenfalls: Wo es nach Freiheit auch nur riecht, nach dem Gegenteil der elterlichen, schulischen und klerikalen Doktrin, muss der Heranwachsende einfach dabei sein.
Mit 16 läuft er mit, bei den Revolutionären des Jahres 1848.
Mit 19 empört er sich, nicht nur über den Staatsstreich Napoleons III., sondern auch darüber, dass die Massen sich nicht darüber empören und die Geheimgesellschaften, der Hort der Konspiration, auch nicht bewaffnet zuschlagen.
Als 21jähriger, im Jahre 1853, ist er in das (fehlgeschlagene) Attentat auf den Kaiser verstrickt, nicht als Schlüsselfigur, aber ganz schön nah am Geschehen.
Natürlich trifft es einen Teil der Wahrheit, wenn man Vallès’ Weg in die soziale Deklassierung als Resultat der politischen Repression beschreibt. Er und der Teil der Jugend, der ähnlich dachte, hatte kaum eine akademische Perspektive, waren doch z. B. die Universitäten von kritischen Gelehrten gesäubert. Auch bei den Lehrern wurde streng auf Staatstreue geachtet.
Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Vallès findet nämlich, wenn der Hunger und die Kälte der Nächte unter freiem Himmel ihn gebeutelt haben, immer mal wieder Gelegenheit zu einem Leben in so genannten bescheidenen Verhältnissen. Mal ist er für einige Zeit Schreiber in einem Bezirksamt, dann stellt ihn eine Schule in der Provinz als Hilfslehrer ein. Es ist schon eine Portion Selbstbestimmung, wenn er diese Episoden, meist mit einem netten Skandal, beendet.
Kaum dass er einen Professor der Rhetorik, der erkrankt ist, vertritt, schon erschüttert er Schüler und Schulleitung mit Meinungen weit jenseits des Lehrplans: »Messieurs! … Ich gestatte mir, die Ansichten über das gangbare Erziehungssystem nicht zu teilen. Es ist meine unerschütterliche, durch nichts zu widerlegende Meinung, dass der Student nichts, ich wiederhole ausdrücklich nichts von dem lernen sollte, was das Gymnasium oder die Universität ihm empfehlen (…) Ich wünsche Ihrer Zukunft mehr Nutzen zu spenden, wenn ich Ihnen rate, Domino zu spielen, Dame zu spielen, Escarté zu spielen; die jüngeren Schüler dürfen sogar den Fliegen Papierschwänze anhängen.«
Nach der Kündigung kommt der ungeeignete Hilfslehrer zu dem Schluss, dass die elenden Jobs in Paris, also z. B. als Vertreter der »Zeitung der Badenden« mit dem Titel Die Nymphe Abonnenten zu werben, zwar auch nicht schön, aber irgendwie ungebundener sind.
Für Autoren traditionell-marxistischer Literaturwissenschaft arbeitet sich Vallès, als Schriftsteller, vom Makel des Fatalismus, der zu viel über »Opfer, Unterlegene« und den »Sieg des Unrechts« schreibt, dem der »Glauben an die soziale Revolution« fehle und der zu »revolutionärem Individualismus« neige, empor zu einem »ausgereiften Geschichtsbewusstsein« (was immer das sei), zum »sozialistischen Realismus« und zur »Kollektivrevolte«.
Parallel dazu muss selbstredend behauptet werden, dass all das, womit man so als Linker in Frankreich zwischen 1850 und 1880 konfrontiert war – die geheimbündlerische »Minoritätenrevolution« der Zirkel um Blanqui, die Idee des föderativen Eigentums für Kleinbauern und Kleinhandwerker bei Proudhon, die religiös-kommunistischen utopischen Kolonien eines Etienne Cabet, die sich später als Arbeitshäuser entpuppenden Sozialwerkstätten eines Louis Blanc –, von Vallès überwunden wurde, zugunsten einer stetig wachsenden Annäherung an die 1. Internationale, an Karl Marx.
Das soll nicht gänzlich bestritten werden. Vallès wandelte sich schon von sozialreformerischen Positionen zu solchen der Befreiung von Lohnarbeit. Seine Postulate für friedlichen Übergang und gegen revolutionäre Gewalt (vielleicht auch dem Druck der Zensur geschuldet) verschwinden völlig.
Aber das Konstrukt vom »Weg zu Marx« ist eher dem Wunsch der Konstrukteure geschuldet (ähnliches widerfuhr Erich Mühsam, als die »Wissenschaft« des Realsozialismus sich seiner annahm).
Vallès war, so weit ich das überblicke, den theoretischen und philosophischen Positionen der bekanntesten Denker seiner Zeit gegenüber weitgehend ignorant; er hat bei ihnen geräubert, hat sich rausgepickt, was seiner spontanen Parteinahme für Rebellion, für die Opfer des Systems dienlich schien. Das hat Nachteile, ich weiß. Aber die Nachteile mildern sich dank seiner negatorischen Ader, seiner agitatorischen Fähigkeiten, den Skandal zu enthüllen, die Empörung zu schüren.
Ab Mitte der sechziger Jahre arbeitet Vallès journalistisch. Seine Artikel werden zensiert, häufiger fliegt er – nach Interventionen des Innenministers – raus.
1867 gründet er die Zeitschrift La Rue, die es auf 27 Ausgaben bringt.
Nach Artikeln über Polizeimethoden bzw. über den Staatsstreich von 1851 kommt er mal für einen, dann für zwei Monate in den Knast (über diesen findet sich ein sehr schönes Kapitel im dritten Teil – »Der Insurgent« – seines autobiografischen Romans).
Knast und Geldstrafen lassen auch seine nächste Zeitung – Le Peuple – nach 15 Ausgaben scheitern. Alles ist zu diesem Zeitpunkt noch gesellschaftlich marginal, jedenfalls unvergleichlich mit dem großen Einfluss, den Vallès’ Le Cri du Peuple vor und während der Kommune, als die Auflage die Zahl von 100 000 erreicht, haben wird. In der Zeit vor der Pariser Kommune und während ihres 72tägigen Bestehens gehört Vallès zum engeren Zirkel der politischen und militärischen Führung dieser ersten proletarischen Revolution der Weltgeschichte.
Drei Charakteristika zeichnen ihn politisch aus:
Er ist der Feind derer, die den Ausgleich, das Arrangement mit der nach Versailles geflüchteten alten Herrschaft suchen. Dadurch steht er gegen den »rechten Flügel« der Proudhonisten. kooperiert mit dessen linkem Flügel, den Anhängern Blanquis und den Parteigängern der 1. Internationale.
Er ist, für die Verhältnisse der Kommune – die sich ja auch über die Anklage des Kapitulantentums der bürgerlichen Herrschaft vor der deutschen Armee Zuspruch unter den Massen verschaffte – ausgesprochen unpatriotisch, also eher »proletarisch-pazifistisch« und internationalistisch.
Er misstraut allen asketisch-fanatischen Predigern für die Sache der Kommune; in ihnen sieht er gewendete Pfaffen. Gegen Zwangsmaßnahmen und Verbote, z. B. der liberalen Presse, sträubt er sich häufig. Ein guter Schuss anarchistischer Ablehnung von Staatlichkeit fließt in seinen Adern. Der Begriff Disziplin hat für ihn einen miserablen Klang.
Was aber sein Buch so lesenswert macht (vielleicht ergänzend zum »Bürgerkrieg in Frankreich« von Marx) ist seine, ihn oft selbst in Erstaunen versetzende, Sichtweise, dass so vieles in einer bestimmten historischen Situation tatsächlich möglich ist (jedenfalls temporär), dass eine Portion Entschlusskraft manchen Dilettantismus wettmachen kann.
Im Herbst 1870, beim ersten – gescheiterten – Aufstand gegen die bürgerliche Regierung, die im September Napoleon III. gestürzt hatte, führt Jules Vallès einen kleinen bewaffneten Trupp zu einem Rathaus eines Stadtteils von Paris:
»›Halt!‹ – das ewige Halt, das mich seit meiner Geburt an allen Pforten erwartet! (…) ›Platz dem Volk! (…) Das Volk ist an der Macht!‹ Die Gitter öffnen sich. Im Hofe der Mairie von La Villette drängen sich Soldaten, waffengespickt. ›Die Schärpe! Die Schärpe!‹ Zwei Beamte stürzen sich auf mich, packen mich und umwinden mich. ›Im Namen der Revolution sind Sie zum Maire des Arrondissements ernannt!‹ sprechen sie und schnüren den Gürtelteil der Schärpe (…) Ich empfange etliche geräuschvolle Küsse aus vollem Halse mit Zwiebel-, wenn nicht gar Knoblauchgeruch. Und nun ans Werk!
›Ans Werk! Was soll ich denn tun?‹ – ›Eine Rede natürlich!‹ Kann man so dastehen, ohne zum Volk zu sprechen, ohne ihm zu sagen, dass man bereit ist, für es zu sterben? ›Denn, nicht wahr, Sie sterben doch fürs Volk?‹ ›Aber sicher, aber gewiss doch!‹ ›Steigen Sie auf den Tisch (…), so jetzt können Sie reden.‹ Ich rede. Als ich merke, dass mein Speichel ausbleibt, schließe ich: ›Citoyens! Die Zeit der Reden ist vergangen!‹
Und nun muss ich tun, was so Leute mit Bauchbinden tun. Was tun sie eigentlich? Wissen Sie das? – ›Verflucht, ich weiß es auch nicht‹, flüstert mein Nachbar, den man mir als Adjunkten beigeordnet hat (...) ›Sie müssen Gutscheine unterzeichnen‹, meint ein Alter, den meine Unwissenheit völlig verdutzt (…) ›Gutscheine für Wagen, für Lampen, für Öl, Papier, na so für alles Mögliche. Wie das so in der Revolutionszeit geht (…)‹«
Wie leicht zu erkennen, schildert sich Vallès nicht als den durchblickenden Helden, manchmal leidet er an den Unzulänglichkeiten, die man später wohl »Kadermangel« tituliert hätte, dann wieder ergötzt er sich an der Spontaneität der Revolte, die ja manchen in unerwartete Funktion bringt. Der Schuhmacher Rouiller z. B., schon lange ein »Tribun der Weinschänke«, ist plötzlich Minister für Bildung und erläutert Vallès, der sich das nicht erklären kann, die Umstände seiner Amtseinführung:
›Ja, das ist so eine Sache(...). Sie glauben alle, man bekommt Befehle und registriert sich dann. Ich hatte hier im Quartier Schuhe abzuliefern. Dabei sah ich die Inschrift, und ich bekam Lust, hier heraufzugehen. Der Sessel stand leer da. Ich habe mich darauf gesetzt, und da sitze ich noch.‹«
Den »Plan öffentlicher Erziehung«, den der »Vertreter der Autonomie« zu Papier gebracht hat, belehrt Vallès, dass der Schuster »einen klareren Geist für seine Aufgabe mitbringt als alle vergilbten Akademiker«, die »nach dem Geheimnis der Philosophie, den Gesetzen des Reichtums und dem Grund der Armut suchen.« Sogar an Details sei gedacht, zum Beispiel daran, da »für Schüler von 15 Jahren ab ein Viertelliter Wein zum Frühstück gefordert wird.«
Vallès erklärt, dass der Schuster »einen klareren Geist für seine Aufgabe mitbringt als alle vergilbten Akademiker«, die »nach dem Geheimnis der Philosophie, den Gesetzen des Reichtums und dem Grund der Armut suchen«. Sogar an Details sei gedacht, zum Beispiel daran, dass »für Schüler von 15 Jahren ab ein Viertelliter Wein zum Frühstück gefordert wird«.
Um nicht falsch zusammenzufassen sei erwähnt, dass Vallès zwar die Groteske schätzt, aber nie die Tragik der Überforderung jener, die ja mehrheitlich für ihr Abenteuer erschossen wurden, verschweigt. Und was er auch nicht verschweigt, ist, dass der so oft geträumte Traum von der Verschmelzung von Intellektuellen und Arbeitern in der revolutionären Situation nicht Wirklichkeit wird.
Jules Vallès gelang, nach der Niederlage der Kommune, eine ebenso wundersame wie abenteuerliche Flucht. Er wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt, kam aber, im Rahmen einer Generalamnestie, aus seinem Exil in London nach Paris zurück. Er gibt sogar noch einmal für kurze Zeit den Cri du Peuple heraus – nicht sehr erfolgreich, aber sehr sicher, dass dem ersten Anlauf gelingende folgen werden.
Gewisse Zeitverzögerungen in Rechnung stellend – und ohne empirischen Beleg durch heutige Wirklichkeit – darf man hoffen, daß er sich noch als großer Prognostiker erweisen wird.
Hommage an Julès Valles mit Schorsch Kamerun, Thomas Ebermann, Frank Spilker: Berlin: 12. und 13. März, 20 Uhr, Prater, Kastanienallee 7–9. Köln: 19. März, 18.30 Uhr, Theaterhaus, Stammstr. 38–40