Drei Tage Weiß

In Orhan Pamuks Roman »Schnee« geht es um den Konflikt zwischen Islamisten und Säkularen, um das traurige Exil und das private Glück. von deniz yücel

Eigentlich hätte Orhan Pamuk dieser Tage seinen Roman »Schnee« in Deutschland vorstellen sollen. Doch der bedeutendste türkische Gegenwartsautor hat seine Auftritte abgesagt. Seit er Anfang Februar in einem Interview den Umgang mit dem Massenmord an den Armeniern kritisierte, läuft in der Türkei eine Kampagne gegen ihn, sogar ein Strafverfahren ist eröffnet (Jungle World, 10/05).

Das Armeniermassaker taucht auch in seinem Roman »Schnee«, der Anfang 2002 erschien und endlich in deutscher Übersetzung vorliegt, immer wieder auf. Doch bleibt die Kritik subtil: »Angeblich glaubten manche Touristen zunächst, es gehe dabei um Armenier, die von Türken abgeschlachtet worden waren, ehe sie mit dem Gegenteil konfrontiert wurden.« Im Mittelpunkt stehen stattdessen der Konflikt zwischen Säkularen und Islamisten, die Suche des Individuums nach dem Glück und der Schnee.

In Pamuks Romanen schneit es oft. In seinem noch nicht übersetzten autobiografischen Essay »Istanbul« schreibt er: »Wie manche Kinder die Sommerferien herbeisehnen, freute ich mich als Kind auf den Schnee. Nicht um draußen im Schnee zu spielen, sondern weil mir die verschneite Stadt viel schöner erschien. Mit ›schön‹ meine ich nicht nur das überraschende oder neuartige Gefühl, dass der Schlamm und der Schmutz, die Risse im Asphalt und die verwahrlosten Plätze der Stadt überdeckt waren, sondern vor allem die Hektik, ja die Katastrophenstimmung, die die Stadt erfasste. (…) Dieses eine Thema, der Schnee, vereinte die ganze Stadt.« Auch im Roman ist es der Schnee, der die Figuren an einen Ort bindet, sie für drei Tage isoliert und einen Ausnahmezustand schafft, der die folgenden Dinge erst ermöglicht. Nur ist der Schauplatz nicht Istanbul, sondern das heruntergekommene und verarmte Kars im äußersten Osten Anatoliens.

1992 kehrt der Dichter Ka nach zwölf Jahren des einsamen und erfolglosen Exils in Frankfurt zur Beerdigung seiner Mutter nach Istanbul zurück. Bald darauf reist er im Auftrag einer linkskemalistischen Zeitung nach Kars, um über die bevorstehenden Kommunalwahlen zu berichten, bei denen der Kandidat der islamistischen Wohlfahrtspartei, sein inzwischen konvertierter alter Dichterkollege und Genosse Muhtar, die besten Chancen hat. Außerdem soll Ka herausfinden, warum sich in Kars die Selbstmorde junger Frauen häufen.

»Junge Mädchen haben sich umgebracht, weil man sie zwang, das Kopftuch abzulegen«, berichtet der Klappentext etwas marktschreierisch. Tatsächlich hat sich lediglich eine Studentin aus diesem Grund erhängt. Eine andere Frau tötete sich, weil sie verheiratet werden sollte; eine ertrug die Schläge ihres Mannes nicht mehr, den sie aus Liebe geheiratet hatte; eine dritte war in den Verdacht geraten, keine Jungfrau mehr zu sein, was ihre Heiratsaussichten zerstörte. Diese Selbstmorde, die auf wahren Begebenheiten beruhen, sind für die Frauen ein finaler Akt, um den Männern die Kontrolle über ihre Körper zu entziehen.

Im Verlauf der Geschichte geraten die Selbstmörderinnen jedoch aus dem Blick. Denn kaum dass Ka in der Stadt ankommt und der Schnee alle Verbindungen abschneidet, überschlagen sich die Ereignisse. Der Rektor einer Hochschule, in der ein Streit mit den Kopftuchstudentinnen tobt, wird erschossen; bei einer Theateraufführung wird ein Schleier verbrannt; der Protest islamistischer Studenten löst einen Putsch aus, der sich von der Bühne auf die isolierte Stadt ausweitet. Angeführt wird er von dem abgehalfterten Schauspieler Sunay Zaim. Mit der Schneeschmelze endet der Spuk.

Ka, der Künstlername des Protagonisten, mag auf die Stadt (Kars) und auf den Schnee (Türkisch: »Kar«) anspielen, die Assoziation mit Franz Kafka aber ist irreführend. Zwar kommt dessen K. ebenfalls in einem verschneiten Dorf an, doch bleiben ihm die Dorfgesellschaft wie die Hierarchie des Schlosses fremd. Pamuks Ka hingegen wird von Putschisten und Islamisten als bedeutender Journalist empfangen. Und er greift selbst in das Geschehen ein, versucht die oppositionellen Kräfte für eine Resolution zu einen, wird zum Doppelagenten und verscherzt es sich letztlich mit allen Seiten.

Pamuks Vorbild sind die russischen Erzähler des 19. Jahrhunderts, allen voran Iwan Turgenjew, den er mehrfach erwähnt. Wie in »Rauch« der Gutsbesitzer Liwinow in Baden-Baden in den Konflikt zwischen reaktionärem Provinzadel und exilierten Revolutionären gerät und dabei doch nur um seine Jugendliebe Irina kämpft, besteht auch Kas Mission darin, die schöne Ipek zurückzugewinnen, die es ebenfalls nach Kars verschlagen hat.

Ka erlebt die Tage in Kars im Rausch. Nach jahrelanger Schreibblockade kann er wieder dichten, er erlebt eine stürmische Liebe, wird zu einer gefragten Person und findet plötzlich zu Allah. Doch seine eigentliche Lektion lautet, »dass er in dieser dummen Stadt Kars gelernt hatte, dass das einzig Wichtige im Leben das Glück ist«, dass ihm die »unglücklichen Menschen, die sich unsinnigen politischen Konflikten überlassen hatten«, egal sein können. Vielleicht träumen aber auch die islamistischen Militanten, alten Kommunisten und polizeilichen Folterknechte, die sich allabendlich vor einer kitschigen Fernsehserie versammeln, von nichts anderem als dem kleinen privaten Glück.

Ka jedenfalls will nur eins: Ipek nach Frankfurt mitnehmen und glücklich werden. Keine politischen Umstände verhindern diesen Traum, sondern Ka selbst, und zwar aus einem Motiv, wie es für einen türkischen Mann nicht typischer sein könnte: Eifersucht. »Ich bin Türke«, sagt Ka. »Türke zu sein, ist meistens eine Entschuldigung für etwas Schlechtes oder eine Ausrede«, kontert Ipek.

Die Absage ans Politische erscheint umso verständlicher, wenn man die Kontrahenten des Konflikts betrachtet. Postulate wie Aufklärung und Fortschritt erscheinen nur in Gestalt folternder Polizisten, herrischer Bürokraten, listiger Provinzjournalisten und eines geckenhaften Bildungsbürgertums. In diesem Winkel Anatoliens ist die Moderne nur als grobschlächtige und lächerliche Veranstaltung angekommen, für die zu kämpfen nicht lohnt. Ebenso wenig wie für den Islamismus, selbst wenn dessen Vertreterinnen und Vertreter sanfter gezeichnet sind. Sie haben leidenschaftliche Affären, sie sind sexy, rebellisch, gebildet, verwegen und doch friedlich, entschlossen und zweifelnd. Das gilt natürlich auch für Ipeks Schwester Kadife, die die Kopftuchstudentinnen anführt und ihr Kopftuch als politisches Banner verstanden wissen will.

Seine Sympathien verteilt der Autor schon mit der Namensgebung, wofür sich das Türkische so gut eignet: Ipek (»Seide«) und Kadife (»Samt«) sind nach Stoffen benannt, zwei junge Islamisten heißen Fazil (»Tugendhaft«) und Necip (»Edel«), der islamistische Untergrundführer trägt den Decknamen Lapislazuli (im Original: »Dunkelblau«), während sich der Anführer der Todesschwadronen, die den Theaterputsch dazu nutzen, um Oppositionelle zu beseitigen, weniger schillernd Z. Eisenarm nennt.

Nun ist es in Ordnung, die islamistische Intelligenz nicht als Bande hinterwäldlerischer Berserker darzustellen. Bei diesen Figuren aber bleibt unklar, was ihren Fundamentalismus substanziell ausmacht. Selbst ihre Ablehnung des Westens richtet sich vor allem gegen dessen äffische Imitation. Lapislazuli und Kadife, Necip und Fazil erinnern an die verträumten linken Revolutionäre früherer Tage.

Die Überbleibsel der Linken sind ebenfalls präsent. Die Islamisten Lapislazuli und Muhtar entstammen ihr ebenso wie die kemalistischen Putschisten Sunay Zaim und Z. Eisenarm. Sofern die früheren Linken sich nicht auf eine Seite geschlagen haben, sind sie bedeutungslos: »Sie verfassten unentschiedene Resolutionen, die niemand las.« Oder sie haben sich mit einem bescheidenen Leben abgefunden: Ipek trauert um ihre Jugend, die sie ihren Idealen geopfert hat; Ka vegetiert mit Überzeugungen, an die er selbst nicht mehr glaubt, im Exil; ihre alten Genossen sind tot, haben sich der Mafia angeschlossen oder den Verstand verloren.

Mal spricht ein allwissender, mitunter vorausgreifender Erzähler, mal Kas Freund Orhan, der die Ereignisse einige Jahre darauf rekonstruiert. Auf die journalistische Rekonstruktion zieht sich Pamuk dann zurück, wenn er von Dingen berichten müsste, die er nicht beschreiben will. Dies gilt vor allem für die 19 Gedichte, die Ka in Kars verfasst (oder von Allah erhält). Ihr Inhalt wird referiert, sie werden in eine schneekristallartige Struktur eingeordnet, aber nicht wiedergegeben.

»Schnee« ist ein politischer Roman. Aber nicht im Sinne der marxistisch inspirierten Gesellschaftsromane, die auch in der Türkei aus der Mode gekommen sind. Pamuk unterhält seine Leser mit einer turbulenten Geschichte, lässt verschiedene politische Ansichten zu Wort kommen, ohne dabei Partei zu ergreifen, auch nicht für das Apolitische und Private. Seine Schilderung ist melancholisch, komisch und zweifelnd. Dass er für diese Erzählweise, die man eine postmoderne nennen könnte, wenn sie nicht schon die Turgenjews gewesen wäre, die Kritik von Kemalisten, Islamisten und Linken auf sich zog, verwundert kaum. Aber dieser Ärger hielt sich in der Türkei in Grenzen, debattiert wurde eher über die beispiellose Werbekampagne, mit der das Buch auf den Markt gebracht wurde.

In seinem vorletzten Roman »Rot ist mein Name« (1998) verlegte Pamuk den Konflikt zwischen dem Islam und der Moderne ins Istanbul des späten 16. Jahrhunderts. In »Schnee« variiert er dasselbe Thema als gegenwartsbezogene Farce. Aber auch dieser Roman ist ein historischer, was die begeisterte Kritik im Ausland, etwa in den USA, übersah. Pamuk historisiert vielmehr eine Phase, die abgeschlossen ist.

Der Konflikt zwischen dem Staat und den Islamisten (und den kurdischen Nationalisten), wie er Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre tobte und in »Schnee« skizziert wird, existiert in dieser Form nicht mehr. Als die Islamisten Anfang 1997 von den Generälen abserviert wurden, gründete ihr gemäßigter Flügel eine neue Partei, die seit zwei Jahren in Ankara regiert und das Land in die EU führen will. Das heißt nicht, der Konflikt wäre erledigt – erst jüngst widersprach der kemalistische Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer einer Amnestie für die suspendierten Kopftuchstudentinnen. Nur der umstürzlerische Elan der Bewegung ist vorerst verflogen. Im Epilog wird dies auch angedeutet.

»Ich bin inzwischen verheiratet, ich habe ein Kind«, sagt Fazil. Seine Angst, Atheist zu werden, habe ebenso nachgelassen wie sein Wunsch, Allah noch mehr zu lieben. »Ich bin an diesen Dingen nicht mehr so interessiert wie früher.« Dafür diktiert er dem Erzähler eine andere Botschaft: Die Leser sollten nichts von dem glauben, was im Roman über Kars und seine Menschen zu lesen sei. Denn »um sich selbst klug, überlegen und human zu fühlen, werden sie glauben wollen, dass sie uns so verstehen und sympathisch finden können. Aber wenn Sie das, was ich jetzt sage, schreiben, bleibt ihnen wenigstens ein Zweifel zurück.«

Orhan Pamuk: Schnee. Aus dem Türkischen von Christoph K. Neumann. Hanser Verlag, München 2005, 512 Seiten, 25,90 Euro