Unschuld vom Lande

Österreich verklärt sich zum ersten Opfer des Nationalsozialismus und feiert sich im Jubeljahr als Friedensmacht. von stephan grigat

Dem Diktum Max Horkheimers, wer vom Kapitalismus nicht reden wolle, solle auch vom Faschismus schweigen, ist wohl niemand so konsequent gefolgt wie die Österreicher. Sie haben lange Zeit weder von dem einen noch von dem anderen gesprochen. Österreich ist jenes Land, in dem es die Bevölkerung in Komplizenschaft mit der Regierung geschafft hat, die ehemalige Gemeinschaft raubender und mordender Volksgenossen nach 1945 gleichzeitig hinter sich zu lassen und in die postfaschistische Demokratie hinüberzuretten, indem man sich erfolgreich als Opfergemeinschaft gerierte. Die Transformation der NS-Gefolgschaft in ein Opferkollektiv, wie man sie in Deutschland in verstärktem Ausmaß seit der Wiedervereinigung beobachten kann, ist in Österreich seit 1945 Realität. Und zwar mit einer sehr viel konsequenteren Begründung: Die Österreicher waren in ihrer Selbstsicht nicht nur Opfer der alliierten Kriegshandlungen, sondern auch Opfer der Nazis.

Im Gegenzug zur Erklärung der »immerwährenden Neutralität«, die vor allem von der Sowjetunion eingefordert wurde, ließen sich die Sieger des Zweiten Weltkriegs darauf ein, der Lüge, die Österreicher seien nicht Täter, sondern die ersten Opfer des nationalsozialistischen Expansionsstrebens gewesen, den Rang einer geschichtlichen Tatsache zuzuweisen.

Dieses Zugeständnis mildernder Umstände haben die Österreicher den Alliierten jedoch nicht gedankt. Entsprechend der Entstehungsgeschichte des staatstragenden Nationalismus der Zweiten Republik wird heute die Zeit der Besatzung in Österreich gerne auf 17 Jahre hochgerechnet. Die eigentliche Befreiung habe also nicht 1945, sondern erst 1955 stattgefunden, als die letzten alliierten Truppen abzogen. Bei den aktuellen Jubiläumsfeierlichkeiten ist von 1945 als Jahr der Befreiung vom Nationalsozialismus ohnehin kaum die Rede, sondern nur von der Staatsgründung im April desselben Jahres – zu einer Zeit, als noch jüdische Zwangsarbeiter durch österreichische Dörfer getrieben und ermordet wurden, was in den staatlichen Gedenkbroschüren keinerlei Erwähnung findet.

Mit der Verklärung Österreichs zum ersten Opfer des Nationalsozialismus ging eine Ausbürgerung des Antisemitismus einher. Der offiziellen Lesart zufolge brach alles Übel mit den deutschen Truppen über Österreich herein. Das eindrucksvollste Dokument dieser Sichtweise ist die österreichische Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945, auf die sich die Bundesregierung auch in ihrer offiziellen Broschüre zum Jubiläumsjahr 2005 bezieht. Zur Legitimation des neuen Österreich wurde angeführt, »dass die nationalsozialistische Reichsregierung Adolf Hitlers kraft (einer) völligen (…) Annexion des Landes das macht- und willenlos gemachte Volk in einen sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg geführt hat, den kein Österreicher jemals gewollt hat, jemals vorauszusehen oder gutzuheißen instand gesetzt war, zur Bekriegung von Völkern, gegen die kein wahrer Österreicher jemals Gefühle der Feindschaft oder des Hasses gehegt hat«. Während die antisemitische Tradition nach außen hin nicht thematisiert wurde, wurde im Inneren nahtlos an eben diese Tradition angeschlossen.

Mit Leopold Kunschak unterzeichnete einer der schlimmsten christlich-sozialen antisemitischen Hetzer der Zwischenkriegszeit die Unabhängigkeitserklärung. Kunschak, der sich noch im Dezember 1945 auf einer Massenkundgebung rühmte, er sei schon immer Antisemit gewesen, wurde zum ersten Präsidenten des Nationalrats gewählt und wird heute als einer der Gründerväter der Zweiten Republik verehrt.

Das beinahe fröhlich zur Schau gestellte Selbstmitleid lässt in Österreich für die wahren Opfer der mordenden Volksgemeinschaft keinen Platz. Wenn das kollektiv begangene Verbrechen dennoch einmal öffentlich thematisiert wird, wie im Zuge der Verhandlungen über Entschädigungszahlungen oder die Rückgabe so genannten arisierten Eigentums, wird das gesamte Repertoire jenes spezifisch österreichisch-deutschen sekundären Antisemitismus aktiviert, das in der BRD beispielsweise aus der Diskussion über das Holocaustmahnmal oder der Walser-Debatte bekannt ist.

Die zaghaften und halbherzigen Versuche zu Beginn der neunziger Jahre, mittels einer von Regierungsseite verlautbarten partiellen Kritik an der Opferthese die staatlichen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Israel zu verbessern, sind von der ÖVP/FPÖ-Koalition nicht nur beendet, sondern wieder zunichte gemacht worden. Kanzler Wolfgang Schüssel wiederholte bei einem Israelbesuch im Jahr 2000 die Einschätzung, nicht nur der souveräne österreichische Staat, sondern auch die Österreicher seien »in der Tat die ersten Opfer« des Naziregimes gewesen.

Auch wenn im offiziellen Programmheft zu den Feierlichkeiten auf »den veränderten Umgang Österreichs mit seiner Vergangenheit« verwiesen wird, scheint Österreich auch in diesem Jahr der Anschluss an die modernisierte Variante der Vergangenheitspolitik des großen deutschen Bruders noch nicht vollständig zu gelingen. Nach wie vor tendiert man zur Verleugnung und hat noch nicht ganz begriffen, wie erfolgreich das offensives Bekenntnis zu den eigenen Verbrechen sein kann, wenn man sie nur in den richtigen Kontext stellt. Mit Sätzen wie dem folgenden aus der offiziellen Jubiläumsbroschüre zeigt man sich in dieser Hinsicht allerdings auch in Österreich lernfähig: »Der Zweite Weltkrieg hatte über 25 Millionen Soldaten den Tod gebracht, weitere 20 bis 30 Millionen Menschen haben als Opfer im Holocaust, bei Luftangriffen, im Widerstand, bei Vergeltungsmaßnahmen und auf der Flucht ihr Leben verloren.«

Derartiges sollte nicht als der immergleiche Geschichtsrevisionismus von vorgestern missverstanden werden. Solche Aussagen sind vielmehr im Zusammenhang mit Schüssels Versuchen zu sehen, auch auf anderen Gebieten einen Gleichklang mit dem rot-grünen Deutschland hinzubekommen. Als angebliches erstes Opfer der Naziaggression zeigt sich Österreich im Jubiläumsjahr als Friedensmacht. Hatte sich schon vor und während des Irak-Kriegs 2003 eine regelrechte Friedensvolksgemeinschaft in der Alpenrepublik herausgebildet, so gedenkt man 2005 auch gleich noch 45 Jahren österreichischer Friedenserhaltung. Als könnte man mittels des Abfeierns eines abstrakten Pazifismus vergessen machen, dass die Gründung der Zweiten Republik erst dadurch möglich wurde, dass die alliierte Militärmaschinerie die Österreicher vom weiteren Vernichtungskrieg gegen die halbe Welt abgehalten hat, wird auch die Vergabe des Friedensnobelpreises an Bertha von Suttner vor 100 Jahren in das Gedenken einbezogen. Und der Kanzler, dessen Partei zur bellizistischen Avantgarde bei der Vorbereitung des Jugoslawien-Kriegs gehörte, bescheinigt in seiner Rede zum Auftakt des Jubiläumsjahres dem »österreichischen Wesen«, dass es »nach Harmonie, nach Menschlichkeit und Augenmaß« dränge.

Zum endgültigen Anschluss an den kriegslüsternen Pazifismus und an den modernisierten deutschen Opferdiskurs der Marke Schröder/Fischer, der die Leugnung der eigenen Verbrechen nicht mehr nötig hat und stattdessen die Vorbereitung neuer Untaten mit den Mitteln der Gedenkkultur betreibt, wird es aber auch in Österreich einer rot-grünen Koalition bedürfen.