Götz Aly nutzt den Nachweis, dass »ganz normale Deutsche« von Krieg, Raub und Mord profitierten, zu einer Entlastung des deutschen Kapitals

Kapital brutal

Götz Aly nutzt den Nachweis, dass »ganz normale Deutsche« von Krieg, Raub und Mord profitierten, zu einer Entlastung des deutschen Kapitals. So liefert er eine neue Variation der Totalitarismustheorie.

Angesichts der steigenden Flut an Literatur über die deutsche Bevölkerung als Opfer alliierter Kriegsführung könnten einzelne Passagen in Götz Alys Buch über »Hitlers Volksstaat« geradezu als wohltuende Richtigstellung empfunden werden – obgleich seine Betrachtungen über die sozialpolitische Flankierung nazifaschistischer Herrschaft während 79 Monaten Aufrüstung und 68 Monaten Krieg nur im Detail und nicht im Grundsätzlichen Neues enthalten.

Natürlich schäumen »die« Deutschen, wenn ihnen – auch nicht zum ersten Male – aktenkundig gezeigt wird, wie sie oder ihre Vorfahren jüdische Nachbarn »verwertet« haben. Denn ein solches Erinnern stört das »nationale« Gedenken an die Opfer des »Bomben-Holocaust«. Ebenso ist die Zunft in Gestalt der Herren Hans-Ulrich Wehler, Ludolf Herbst usw. darüber erbost, dass Aly am invertierten Führerkult kratzt, demzufolge die Deutschen dem Charisma des »Führers« erlegen seien, und wieder einmal zeigt, wie »ganz normale Deutsche« sich völlig ungerührt an den Resultaten von Raubmord und anderen Verbrechen bereicherten. Das hat zwar schon im März 1942 Bertolt Brecht in seiner Antwort auf die Frage: »Und was bekam des Soldaten Weib?« künstlerisch verdichtet dargestellt, aber Gedichte und Geschichte sind zweierlei, und es ist gut, dass nun auch Historiker zu einer solchen Sichtweise gelangen und sie aktenmäßig belegen.

Ein anderer Dichter jedoch, Gotthold Ephraim Lessing, bemerkte einmal zu einem Buch: In ihm ist viel Neues und viel Gutes – aber das Neue daran ist nicht gut, und das Gute daran ist nicht neu. Vom Guten in Alys Buch war im ersten Absatz die Rede. Wie sieht es mit dem Neuen aus?

In seiner Betrachtung der »Gefälligkeitsdiktatur« handelt Aly zunächst die »Steuermilde für die Massen« ab, sodann die »Steuerhärte gegen die Bourgeoisie«. Da wird der Wirtschaftshistoriker hellhörig und ist gespannt zu lesen, wie die Nazis im Interesse der »Volksgemeinschaft« den Herren Krupp, Flick, Krauch, Abs usw. das Fell über die Ohren gezogen haben. Aber ach, wie enttäuschend, von den Hausbesitzern ist die Rede, die hätten »im Haushaltsjahr 1942/43 gut 18 Prozent der inländischen Einnahmen aus Kriegssteuern« bezahlt. Das also ist für Aly »die« Bourgeoisie?

Nein, nicht ganz, denn die Gewinnsteuer ist während des Krieges erhöht worden. Als ob solch staatliches Tun Kapitalisten in Zeiten der Kriegskonjunktur zu anderem veranlassen könnte, als noch mehr zu investieren, also ihr Sachvermögen zu vermehren, auf dieser Basis die Rüstungsproduktion weiter zu forcieren und damit der Fortführung des Krieges zu dienen.

Nach den Berechnungen von Rolf Krengel, die 1958 vom im damaligen Westberlin ansässigen Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) publiziert wurden, waren die industriellen Nettoinvestitionen pro Jahr auf dem Gebiet der späteren BRD in den Kriegsjahren von 1940 bis 1944 (Kriegsverluste nicht eingerechnet) fast dreimal so hoch wie in den Jahren der Rüstungskonjunktur von 1933 bis 1939, und selbst unter Einrechnung der Kriegsverluste waren sie um 80 Prozent höher als in der Kriegsvorbereitungszeit. Noch besser entwickelte sich in dieser Zeit die Industrie auf dem Gebiet der späteren DDR, wie Manfred Melzer vom DIW 1980 aufzeigte.

Wenn Aly etwas von Ökonomie verstünde, beispielsweise Marx gelesen und auch noch begriffen hätte, wüsste er, dass Steuern auf Löhne ökonomisch denselben Effekt haben wie Steuern auf Profite. Die »Steuermilde für die Massen« trug also zum Investitionsboom bei, weil sie, neoliberalistisch formuliert, die »Lohnnebenkosten« reduzierte.

Hinsichtlich der Zwangsarbeitskräfte ist bei Aly zu lesen: »Plötzlich waren Millionen von Zwangsarbeitern zu verpflegen, während die Erträge (der Ernten) in weiten Teilen Europas unter der Einwirkung des Kriegs (…) zurückgingen.« Demnach hätten sie nur gekostet, nicht etwa gearbeitet, schon gar nicht in der deutschen Land- und Nahrungsgüterwirtschaft. Ohne die Zwangsarbeit wäre die jedoch schon 1941 zusammengebrochen.

Auch von Statistik versteht Aly nichts. Erstens ist seine Umrechnung von Reichsmark in Euro (eine RM gleich zehn Euro) falsch, weil er, dem Quellenverweis nach zu urteilen, D-Mark und Euro verwechselt hat. Zweitens: Da ihm der Anteil der durch »Entjudung« gewonnenen Mittel (ca. fünf Prozent der deutschen Kriegskasse) zu gering erscheint, meint er, dass der Betrag wegen der 50prozentigen Kreditfinanzierung zu verdoppeln sei. Was er übersieht: Wenn alle Einnahmen zu verdoppeln sind, bleibt der Anteil der einzelnen Einnahme derselbe; ob nun fünf von hundert Mark oder zehn von zweihundert – der Anteil bleibt fünf Prozent. Drittens: Die von ihm geschätzten »Einnahmen aus dem besetzten und abhängigen Ausland 1939–1945« differieren bei den einzelnen Ländern von der Summe der Einzelposten (Besatzungskosten und Clearing) um bis zu 50 Prozent. Eine Erklärung dazu fehlt.

Alys Daten können daher bestenfalls und entgegen seiner Absicht nur als Anregung für sorgfältige Eigenberechnungen dienen. Womit einmal mehr klar gestellt ist, dass auch die dümmsten Fehler zu weiterem Nachdenken animieren können.

Die im Kriege akkumulierten Sachwerte bildeten in den westlichen Besatzungszonen, wie ebenfalls schon bei Krengel nachzulesen ist, einen der wesentlichen Ausgangspunkte für das »Wirtschaftswunder« der Nachkriegszeit, während sie in der Ostzone zu einem beträchtlichen Teile den Demontagen zum Opfer fielen.

Die bei den »kleinen Leuten« vorhandenen Geldwerte aber gingen hier wie dort den Bach runter. Erstens infolge von im Kriege aufgestauter und in der Nachkriegszeit durch die Ernährungskrise forcierter Inflation, zweitens durch die anschließende Währungsreform. Das war der kleine Unterschied zwischen den langfristigen Wirkungen von Krieg und Geldentwertung auf Lohnarbeitende und Kapitalisten. Aly interessieren diese langfristigen Wirkungen ebenso wenig wie die Zusammenhänge von Kriegs- und Nachkriegszeit. Für ihn ist allein die relativ kurze Kriegszeit von Interesse. Das jedoch ist nur eine andere Version der Rede von der angeblichen Stunde Null.

Vor Jahren schon strickten in der alten BRD Leute wie Hans-Eckardt Kannapin die Legende von einer »Wirtschaft unter Zwang«. Das war ein Beitrag zur Entnazifizierung der Konzerne. Ganz in diesem Sinne, aber noch schlimmer, formuliert Aly: »Auf gut Deutsch ging es darum, ähnlich wie zuvor die Juden, nun die arischen Wertpapierbesitzer zu zwingen, Aktien gegebenenfalls in solchen Staatsanleihen anzulegen, die bis auf weiteres nicht gehandelt werden durften.« Was der gegebene Fall war, bleibt unerläutert. Aber sicherlich wird Aly über kurz oder lang entdecken, dass die Tresore des 1940 errichteten Gebäudes der Reichsbank als Zellen für »gegebenenfalls« zu verhaftende arische Aktionäre vorgesehen waren.

In der »Struktur der nationalsozialistischen Steuer- und Sozialpolitik« sei »ein linkssozialdemokratisches Grundmuster« zu erkennen, meint Aly in seiner Replik auf Adam Tooze und Hans-Ulrich Wehler in der Zeit vom 6. April. Damit er den Genossen der Bosse, dem Schröder und dem Clement usw., nicht ins Gehege kommt, muss das Muster linkssozialdemokratisch sein. Dieses Bild passt auch besser zu der »freiheitlich-demokratischen Grundordnung« neoliberaler Prägung, in der Leute wie Joseph Goebbels – Aly zufolge der »Schutzpatron der Unter- und Mittelschichten« – nichts zu suchen haben.

Aber so ganz neu ist auch diese Art der »Vergangenheitsbewältigung« nicht. Sie steht in der Tradition von »modernisierter« Totalitarismustheorie und (westdeutschem) Historikerstreit, der Rede vom »Kommunofaschismus« (so das Ideologem des Philosophen Adam Schaff) eingeschlossen. Damit schließt sich der Kreis auf sehr unspektakuläre Weise: Statt die SED- und die Nazi-Diktatur auf eine Stufe stellen zu müssen, was immer den Vorwurf der historisch unzulässigen Relativierung des Holocaust hervorruft, wird nun die »Gefälligkeitsdiktatur« der Nazis auf eine Stufe mit der »Konsensdiktatur« in der DDR gestellt. Es lebe der kleine Unterschied!

Und mit der Abschaffung des Sozialstaats werden nur die letzten Reste »kommunofaschistischer« Vergangenheit beseitigt. Geschichtsklitterungen Aly’scher Art können dabei sehr hilfreich sein.