»Das Wort ›Genozid‹ ist nicht entscheidend«

Hrant Dink

Am Sonntag jährte sich zum 90. Mal der Beginn des Massenmordes an den Armeniern in der Türkei, dem von 1915 bis 1923 schätzungsweise 1,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Während an vielen Orten daran erinnert wird, leugnet die Türkei bis heute den Genozid. Wer die offizielle Version kritisiert, muss mit Repressalien rechnen, wie zuletzt der Schriftsteller Orhan Pamuk.

Auf Initiative der Fraktion der CDU/CSU debattierte der Bundestag in der vorigen Woche über das Thema. Eine Resolution wurde nicht verabschiedet, weil man sich auf einen gemeinsamen Antragstext aller Fraktionen verständigen will. An der vorangegangenen Beratung in einem Ausschuss des Bundestages nahm auch Hrant Dink teil. Er ist Herausgeber der zweisprachigen türkisch-armenischen Wochenzeitung Agos, die seit 1996 in Istanbul erscheint. Mit ihm sprach Deniz Yücel.

Wie haben Sie den 90. Jahrestag des Massakers verbracht?

In den Tagen zuvor war ich auf einer internationalen wissenschaftlichen Konferenz in Eriwan. Erfreulich war, dass auch einige türkische Intellektuelle teilnahmen. Auch wenn es mitunter Meinungsverschiedenheiten gab, war es wichtig, dass alle Teilnehmer forderten, dass sich die Beziehungen zwischen der Türkei und Armenien verbessern müssen. Am 24. April selbst gab es in ganz Armenien die traditionellen Gedenkfeiern, an denen sich über eine Million Menschen beteiligte, also ein Drittel der Bevölkerung.

Und in der Türkei?

Dort haben die Armenier nie eine Tradition entwickeln können, um der Ereignisse zu gedenken. In den Jahren unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg gab es einige größere Veranstaltungen. Aber als in der Türkischen Republik das Thema tabuisiert wurde, war dies nicht mehr möglich, bis heute nicht. Etwas anderes ist es natürlich, dass viele in privatem Rahmen ihrer getöteten Vorfahren gedenken. Aber das gesellschaftliche Klima erlaubt keine öffentlichen Veranstaltungen. Unter den türkischen Armeniern herrscht Angst vor nationalistischen Reaktionen, aber auch die Furcht, missverstanden zu werden. Initiativen von außen, die sie unterstützen, gibt es nicht.

Wenn die türkischen Armenier eines Tages in der Lage wären, ihrer getöteten Vorfahren zu gedenken, könnte das Problem wahrscheinlich als gelöst betrachtet werden. Ein Klima, in dem dies möglich wäre, würde zeigen, dass man Verständnis aufbringt. Eine solche Entwicklung würde meines Erachtens auch den Interessen der Türkei dienen.

Wird in der Türkei überhaupt nicht über die Ereignisse gesprochen?

Allenfalls unter anderen Vorzeichen. Es heißt, damals habe es einen Konflikt zwischen Türken und Armeniern gegeben. Zahlreiche Mahnmale erinnern heute an Türken, die von Armeniern getötet wurden, an vielen Orten gibt es alljährlich Gedenkveranstaltungen. Wenn es aber damals eine Auseinandersetzung zwischen zwei Seiten war, hatten auch die Armenier Verluste zu beklagen. Dann muss es heute möglich sein, dass auch sie das Andenken an ihre getöteten Vorfahren lebendig halten.

Kann man über den Massenmord an den Armeniern reden und dabei von der offiziellen Sicht abweichen?

Man muss dafür einiges in Kauf nehmen. Wenn Sie darüber schreiben, müssen Sie mit kampagnenartigen Reaktionen rechnen, die bisweilen eine Lynchstimmung erzeugen und versuchen, Sie zum Schweigen zu bringen.

Haben die Umbrüche, die in den vergangenen Jahren in der Türkei stattgefunden haben, diese Frage unberührt gelassen?

Wie bei anderen Themen, die lange tabuisiert worden sind, bewegt sich auch hier einiges. Das ist nicht nur ein Resultat des Drucks von außen, etwa von der Europäischen Union, sondern ebenso ein Ergebnis der inneren Demokratiebewegung. Gäbe es sie nicht, könnte auch von außen nichts bewirkt werden. Dennoch herrscht im Großen und Ganzen die alte Sicht vor. Aber sie wird sich ändern müssen. Die Türkei ist auf der Suche nach einer neuen Perspektive, und hierzu müssen wir alle beitragen.

Warum sagt man in der Türkei nicht: Ja, dieses Verbrechen fand statt, die Türkische Republik erkennt die Schuld an, die das Osmanische Reich auf sich geladen hat?

Lange Zeit hat die Türkei eine Politik des Verleugnens betrieben. Nun geht die Tendenz dazu, dass man sagt: »Wenn etwas passiert ist, dann handelte es sich um gegenseitiges Töten.« Aber vordringlich geht es heute weniger um Leugnung oder Anerkennung. Das Problem ist die mangelnde Kenntnis der Historie. Natürlich gibt es einige, die diese Kenntnisse besitzen, und sie sind es auch, die die Gesellschaft in ihrem Sinne lenken. Aber ich bin davon überzeugt, dass der größte Teil der türkischen Gesellschaft, von Politikern und Wissenschaftlern bis zu den einfachen Leuten, die historische Wahrheit nicht kennt. Die nächste Etappe besteht für uns darin, über die historischen Fakten aufzuklären. Erst wenn das Wissen verbreitet ist, kann die Frage nach Anerkennung gestellt werden.

Sie haben in der vergangenen Woche vor dem Ausschuss des Bundestages gesagt, wer auf den Begriff »Genozid« beharre, sei nicht an einer Lösung interessiert. Warum vermeiden Sie das Wort »Genozid«?

Das Wort »Genozid« ist für mich nicht entscheidend. Wenn wir uns der Geschichte mit juristischen Begriffen nähern, die international eine spezifische Bedeutung haben, verhindern wir, dass wir begreifen, was damals passiert ist. Wir brauchen eine ethische Annäherung an die Geschichte.

Wie beurteilen Sie den Antrag der CDU, in dem auch von der deutschen Mitverantwortung die Rede ist?

Unabhängig vom Wortlaut der Entschließung, über den das Parlament noch beraten will, ist mein grundsätzlicher Standpunkt gegenüber den westlichen Staaten folgender: Bei den historischen Ereignissen trug der Westen, insbesondere Deutschland, eine große Mitverantwortung. Bis jetzt ist man sich dieser Verantwortung nicht bewusst. Ihr kann man sich nicht entziehen, indem man im Parlament Resolutionen von ein, zwei Sätzen beschließt. Und man sollte sich davor hüten, den türkischen Umgang mit diesem Thema für die eigenen politischen Interessen zu instrumentalisieren. Die Initiative der CDU macht auf mich leider diesen Eindruck. Und das ist das Schlimmste für mich, dass die Katastrophe des Jahres 1915 zu einem politischen Instrument gemacht wird.

Von Europa erwarte ich etwas anderes. Europa muss dabei helfen, dass sich die Beziehungen zwischen der Türkei und Armenien verbessern, und dies in jedem erdenklichen Sinne, auch materiell. Damit könnte Europa seiner historischen Mitverantwortung gerecht werden.

Wie ist das alltägliche Verhältnis zwischen Armeniern und Türken heute?

Natürlich gibt es viele Schwierigkeiten. Zum Beispiel wird unseren Kindern in der Schule gesagt, dass unsere Vorfahren die Türkei verraten und Türken ermordet haben. Ein anderes Problem ist die Frage der Besitztümer, die früher armenischen Institutionen gehörten und die im Laufe der Zeit aus verschiedenen Gründen verloren gingen, die Agos zur Zeit zu bilanzieren versucht. Trotz allem haben wir unsere Identität bewahren können. Aber etwas anderes wäre es, unsere Kultur weiter zu entwickeln.

Dennoch sind wir insgesamt mit dem türkisch-armenischen Dialog zufrieden. Weil wir mit Türken zusammenleben, konnten wir uns besser von unserem Trauma befreien als die Armenier anderswo in der Welt. Deshalb sind wir türkischen Armenier, junge wie alte, an einer einvernehmlichen Lösung des Problems interessiert. Wir wollen, dass sich das Verhältnis zwischen Türken und Armeniern verbessert. Das unterscheidet uns von einem Teil der armenischen Diaspora.