In Ewigkeit. Amen

Von einer »Wiederkehr der Religion« kann keine Rede sein. Sie war nie verschwunden. von rudi thiessen

Wer staunend von der Wiederkehr der Religionen spricht, muss zuvor ihr Verschwinden diagnostiziert oder erhofft haben, wird sich also fragen müssen, warum seine Diagnose so realitätsfremd oder seine Hoffnung so trügerisch war. Seit Sokrates gilt das Staunen als ein guter Anfang, und so soll es mit einigen Bemerkungen gefördert werden.

Vater unser

Jedem Kind (und vielen Erwachsenen) ist der biblische Schöpfungsbericht allemal plausibler als die Urknalltheorie, nach der das ganze Universum aus einem Stecknadelkopf herausgebrochen sein soll. Zumal auch die Physiker bei der Frage nach der Sekunde davor häufig in einer mythogenen Geisteslage Zuflucht suchen. Überhaupt ist es mit der kopernikanischen Wende nicht so weit her. Sie drang nicht einmal bis in die Sprachen vor, in denen die Sonne immer noch an jedem Tag auf- und untergeht.

Gottfried Benn lässt seinen »Ptolemäer« fragen: »Meinst du, dass Kepler oder Galilei großes Meerleuchten war – das waren doch lauter alte Tanten. Es war ihr Strickstrumpf, dass sich die Erde um die Sonne dreht. Sicher ganz unruhige, extrovertierte Typen. Und nun beachte den Schrumpfungsprozess dieser Hypothese! Heute dreht sich alles um alles, und wenn sich alles um alles dreht, dreht sich nichts mehr außer um sich selbst.«

Es war Kardinal Joseph Ratzinger, der den Inquisitionsprozess gegen Galilei revidierte. Und er hatte dafür mindestens zwei starke Gründe. Es war ein Fehler gewesen, mit den Naturwissenschaften um das gültige Weltbild zu konkurrieren. Wenn in Galileis Himmel kein Ort für ihn ist, so kann das die Kirche nur anfechten, wenn sie selbst eine allzu kindliche, anthropozentrische Vorstellung Gottes vertritt. Viel schlimmer jedoch war die zweite Konsequenz im Streit mit Galilei. Wenn sich alles um nichts anderes mehr außer sich selber dreht, ist die Ethik außer Kraft gesetzt.

Um nicht in diese Falle zu gehen, muss Gott ontologisch anders situiert werden: in radikaler Transzendenz, als ewige Idee, die wirklicher ist als die Wirklichkeit. Und daran hat dann auch Ratzingers Kirche teil, die wirklicher ist als die Wirklichkeit, weil es sie schon gab, bevor sie als Gemeinde oder als ein Haus auf dieser Welt erschien. So dachte auch Augustinus im »Gottesstaat«. Und nun ist, im Unterschied zu Augustinus, aus dem Kirchenlehrer Ratzinger ein Papst, Benedikt XVI., geworden, und das erlaubt einen weiteren Blick auf kindliche Religionserfahrung.

Es brauchte schon den großen Religionsphilosophen Sigmund Freud, um die alles entscheidende Frage zu stellen: Was ist ein Vater? Und um die überaus einfache und eindeutige Antwort zu geben: ein Gott. Selbstverständlich hört ein jeder Vater irgendwann auf, seinem Kind ein Gott zu sein (oder das Kind hat ein ernsthaftes Problem). Aber da hat es schon einige, wichtige Jahre der Erfahrung mit einem Gott hinter sich, und darin gründet alle Autorität. Und deshalb heißt der Papst im Italienischen »papa«.

Geheiligt werde dein Name

Der Anlass der gegenwärtigen inflationären Rede über die Wiederkehr des Religiösen ist die weltweite Anteilnahme am langen Leiden und Sterben des Papstes Johannes Paul II. Dabei ist es keineswegs selbstverständlich, dass diese Anteilnahme etwas mit Religion oder Religiosität zu tun hat. Überall wurde sie als gigantischer Event gewürdigt und gezeigt.

Wenn diese Wahrnehmung stimmt, dann war dieses Leiden und Sterben zumindest kein kirchliches Ereignis, sondern ein popkulturelles. Die Nachricht vom Tod löste sodann auch nicht Trauer aus, stattdessen riefen die Besucher »Santo subito«, wie sie nach einem Konzert nach »Zugabe« rufen. Folgerichtig, denn die Heiligsprechung oder deren Ankündigung entspräche dem Versprechen und der Verabredung zum nächsten Event. Dieses Massenkulturelle und wenig Sakrale zeigte sich auch nach der Bekanntgabe der Wahl des neuen Papstes: Die Benedetto-Rufe wurden nach einer Melodie skandiert, die Fans des Fußballclubs AS Roma benutzen.

Aber gerade wenn man sich sträubt, Kirche und Popkultur gleichzusetzen, wird man sich die Frage stellen müssen, welche genuin religiösen Momente der Popkultur selbst eigen sind und ob es eine Verbindung mit der Papstverehrung gibt. Popkultur braucht Ikonen und Idole wie die Luft zum Atmen. Selbstverständlich können die zuweilen reiner Hype sein (und das könnte auch auf den Papst zutreffen), doch dann haben sie als Idole äußerst kurze Halbwertzeiten und sind kulturtheoretisch wenig ergiebig. Nun gibt es in der Kirche (hier heißen sie Heilige) wie in der Popkultur auch Idole von großer Langlebigkeit. San Francesco oder Johannes XXIII., Marilyn Monroe, James Dean, Bob Dylan oder John Lennon. Religionsphilosophisch lassen sich Idole bestimmen als Verkörperungen, die zugleich ein gesellschaftliches Ideal und den Widerstand gegen dieses zum Ausdruck bringen.

Deswegen sind Idole immer auch Zerrissene und leben mit höchstem Risiko. Diese dionysischen Züge vermag man an Karol Wojtyla nicht wahrzunehmen. Vergegenwärtigt man sich dagegen Momente eines spezifisch jugendlichen Humors, so scheinen das jahrelange öffentliche Zittern, Stammeln und Röcheln als Elemente einer grandiosen und virtuos gegebenen Freakshow goutiert worden zu sein.

Dein Wille geschehe

»Schon der Mythos war Aufklärung …«. So anzuheben, setzt ein bestimmtes Fortschrittsverständnis voraus: Die Mythologie überwindet die magische Welt und wird ihrerseits überwunden und beerbt von aufgeklärter Philosophie. »Aber die vollends aufgeklärte Erde erstrahlt im Zeichen triumphalen Unheils.« Weil die Philosophie der Aufklärung beerbt wurde von den Wissenschaften, deren »positivistisch halbierter Rationalismus« (Jürgen Habermas) sich mit technischer Beherrschung der Welt begnügte.

So lautet die kurze Version der Kritischen Theorie, die natürlich die Dinge verkürzt, aber den Vorzug hat, auf einige Blindstellen in ihr hinzuweisen. Die frühen Philosophen sind nicht nur Aufklärer, die den Götterhimmel räumen, sondern erfinden einen transzendentalen monotheistischen Gott (wie Xenophanes). Sie zensieren nicht nur staatsfeindliche Mythen (wie Platon), sondern kreieren mit literarischer Virtuosität staatsfromme (wie Platon).

Die Philosophie, sofern sie mit Mythologie oder Theologie in Konkurrenz tritt, ist niemals einfach Aufklärung, sondern ihrerseits ein Heilsunternehmen mit Heilsversprechen. Dabei neigt die Philosophie (die frühe wie die späte) dazu, Konflikte, die sie nicht lösen kann, zu Scheinproblemen zu erklären, wodurch sich die Mythologien und die heiligen Bücher der Religionen als zuverlässigere Speicher unausgestandener Gattungskonflikte erweisen. Darauf beruht die ungeheure Bedeutung von Jerusalem, Athen (und Rom) für die Kultur des Abendlandes. Und das ist nichts, was irgendwann überwunden worden wäre oder dessen Überwindung anstünde. Es gerät nur gelegentlich in Vergessenheit.

Das westliche Ethos von Menschenwürde und Menschenrecht sollte wohl keinesfalls leichtfertig der Vergessenheit anheimfallen. Die eine ist nicht zu haben ohne jüdischen Monotheismus, das anderen nicht ohne christlichen Universalismus.

Dein Reich komme

Die »Rückkehr der Religionen« stand zum ersten Mal mit der iranischen Revolution auf der Tagesordnung. Martin Riesebrot verglich daraufhin den islamischen Fundamentalismus mit dem protestantischen in den USA der zwanziger Jahre und analysierte beide als patriarchalische Protestbewegungen gegen Modernisierungsprozesse. Die Analogien zur nationalsozialistischen Bewegung lagen auf der Hand. Es kann sich dabei also nicht um die Wiederkehr vormoderner Phänomene handeln, sondern um spezifisch moderne, um eine Bewegung von Modernisierungsverlierern, die es ohne Modernisierung schlechthin nicht geben könnte. So sehr diese Lesart als patriarchalische Protestbewegung einleuchtet, so sehr scheint sie das spezifisch Religiöse nicht zu treffen, was der Vergleich mit dem NS schlagend belegt: Der war nicht nur antisemitisch, sondern, wenngleich mit gänzlich anderen Konsequenzen, auch antichristlich.

Die Rede von der Rückkehr der Religionen scheint sich in zweierlei Hinsicht als eurozentrische Sichtweise zu enthüllen. Erstens kann von einem Schwinden des Religiösen ernstlich nur in Westeuropa die Rede sein. In Osteuropa, in China, in Tibet oder auch in Äthiopien von einem Schwinden des Religiösen zu reden, wäre grob zynisch. Es wurde, zuweilen mit aller denkbaren Brutalität, unterdrückt. Die Präsenz des Religiösen als ein Zeichen gesellschaftlicher Rückständigkeit zu deuten, verlangt, dass man die Gesellschaft der USA für eine kuriose Ausnahme nimmt, die die Regel bestätigt.

Es ist dies eine europäische Sicht, vor allem gestärkt durch deutsche und französische Philosophie, die Religion als vormodernes Phänomen deutet, das sich seit der Aufklärung im Schwinden befindet. Die Religion mag im einfachen Volk noch für eine gewisse Zeit eine Basis haben und somit die Kirche eine soziale Funktion, aber mit zunehmender Volksbildung wird sie auch dort obsolet werden und die Menschen werden sich anspruchsvolleren geistigen Vergnügungen hingeben – insbesondere natürlich den schönen Künsten. In Westeuropa spricht wirklich einiges dafür, aber noch einmal: eben nur da.

Aber es steckt hierin noch ein weiteres eurozentrisches Moment. Bis zum Ende der siebziger Jahre schienen sich die verschiedenen Regionen der Erde nach Maßgabe zweier europäischer Projekte zu entwickeln: Kapitalismus oder Sozialismus. Der Sozialismus hatte sich in China durchgesetzt, der Kapitalismus hatte sich die andere große ostasiatische Kultur unterworfen: Japan. Unterentwicklung konnte gleichsam gemessen werden an der Fähigkeit einer Kultur, sich dem einen oder dem anderen Projekt europäischer Moderne zu amalgamieren.

Dass das in Lateinamerika nirgends überzeugend funktionierte, dass es in Afrika durchgängig katastrophale Verläufe zeitigte, dass es auch in Asien nur wenige Erfolgsgeschichten gab, doch milliardenfaches Elend – das alles konnte diese Sicht der Welt nicht ernsthaft irritieren. Und dann kam die iranische Revolution, die eben nicht nur eine patriarchalische Protestbewegung war, sondern ein entschiedenes Nein zum Kapitalismus als Kultur und Religion.

Wie im Himmel

Der Grundfehler aller rationalistisch halbierten Aufklärung ist, dass sie Religion für Meinung hält und glaubt, sie diskutieren zu können wie Meinungen. Religionen sind Lebensformen, Kulturen, spezifische Zivilisationen und als solche extrem langlebig, einige scheinen geradezu unsterblich: Judentum, Buddhismus, Hinduismus; das Christentum hat nun auch schon ein gehöriges Alter und sogar der Islam ist nicht mehr taufrisch. Und geographisch sind sie erstaunlich tief verwurzelt, wie der französische Historiker Fernand Braudel gezeigt hat.

Kürzlich klagte eine Muslima, dass der Islam für bestimmte Bräuche wie Zwangsheirat oder Frauenunterdrückung im Allgemeinen haftbar gemacht werde, obwohl darüber überhaupt nichts im Koran stehe, sondern dies ganz und gar vorislamischen arabischen, persischen oder türkischen Traditionen geschuldet sei. Unabhängig davon, ob man ihrer Interpretation des Korans zustimmt oder nicht, ist ihr Argument falsch. Es gibt keinen reinen Islam, so wenig wie es ein reines Christentum oder Judentum, überhaupt reine Religion geben kann. Religion amalgamiert sich immer mit vorgefundener Kultur, und dabei ändern sich immer beide, entwickeln sich und schaffen etwas Neues. So ist es ein Unterschied, ob man Christ in Polen, in Italien, in Spanien, in Mexiko oder in Tansania ist.

Im Übrigen ist nicht jede Zivilisation gleich zivilisiert. Und obgleich man das Toleranzgebot wahrlich sehr hoch halten muss, sollte man nicht auf die Haltung verfallen, jede Religion und gar ihre Praxis seien gleich nah zu Gott. Diese gut gemeinte Form von religiösem Relativismus spiegelt nur Denkfaulheit.

So auf Erden

Da nun der Kampfbegriff des neuen Papstes, Relativismus, gefallen ist, empfiehlt es sich, mit einigen Bemerkungen zu den Erwartungen, die mit seinem Pontifikat verknüpft werden, zu schließen. Einige der Erwartungen oder Forderungen, die in den vergangenen Tagen und Wochen geäußert wurden, haben etwas Urkomisches. Der Papst möge doch endlich das Zölibat aufheben, die Frauen zur Priesterweihe zulassen, seine Haltung zur Abtreibungsfrage modifizieren – kurz: er möge Protestant werden.

Anders: Wer immer das will, zumal in Deutschland, hat hierfür mit der evangelischen Landeskirche ein seriöses religiöses Angebot. Man kann ja auch der Meinung sein, das Beste für die Welt wäre es, die katholische Kirche würde sich auflösen, aber warum das die Aufgabe Joseph Ratzingers sein soll, bleibt doch schleierhaft. Auch ist seine Wahl für die Liberalen oder Progressiven (oder wer immer sich angesprochen fühlt) kein Grund, in Panik zu geraten. Benedikt XVI. wird kein deutscher Papst, wie Johannes Paul II. ein polnischer war.

Wojtyla wurde auch gewählt, weil er Pole war, Ratzinger wurde gewählt, obwohl er Deutscher ist. Er wird ein Papst in Rom sein, viel mehr, als es Wojtyla war, und er wird auf die Befindlichkeiten der deutschen Katholiken und ihrer Bischöfe keine besondere Rücksicht nehmen. Er wird als Papst tun, was ein Papst seiner Überzeugung nach tun muss: konservativ sein und den Glauben bewahren.

Die Drohung, dass seine Haltung in Westeuropa als nicht zeitgemäß empfunden und somit die Kirchenbindung noch schwächer werde oder dass fundamentalistische Protestanten in lateinamerikanischen Gemeinden wildern, wird ihn nicht anfechten. Er wird keine Konzessionen an den Zeitgeist machen, und man kann sich nicht vorstellen, dass er den Ehrgeiz entwickeln wird, jeden Flecken dieser Erde zu küssen.

So wird er bei weitem nicht die Popularität seines Vorgängers erreichen, aber möglicherweise theologisch eine größere Wirkung erzielen. Johannes XXIII., der andere 78jährige bei der Wahl zum Papst, brauchte nur ein Pontifikat von viereinhalb Jahren, um das Zweite Vatikanische Konzil einzuberufen und zum theologisch bedeutendsten Papst des 20. Jahrhunderts zu werden.