Hinterrücks zur Revolution

Ein Existenzgeld ist unter den gegebenen Verhältnissen nicht anders denkbar als in Gestalt des Arbeitslosengeldes II. von felix baum

Als der Bundestag im Juli 2004 das Hartz-IV-Gesetz verabschiedete, fand sich im Wissenschaftszentrum Berlin eine eigenartige Runde aus Sozialwissenschaftlern, Katholiken und Erwerbslosenaktivisten ein und gründete das »Netzwerk Grundeinkommen«. Worauf der deutsche Zweig des »Basic Income European Network« mit seiner Forderung nach einem bedingungslosen und bedarfsdeckenden Grundeinkommen hinaus will, ist nicht leicht auszumachen. Während einer der Sprecher erklärt, einen »Beitrag zur Kritik der Arbeit« leisten zu wollen, ist sein Amtskollege der Auffassung, dass »Unternehmen weitaus leistungs- und wettbewerbsfähiger werden können, wenn ihre Angestellten und Arbeiter sich nicht ständig mit der Angst vor einem abgrundtiefen sozialen Abstieg und vor wirklicher Armut quälen müssen«.

Dass sich linke Arbeitslose mit verwirrten Propagandisten eines Projekts, das an »Kraft durch Freude« erinnert, zusammenschließen, ist vermutlich Ausdruck schierer Verzweiflung. Anders als erhofft, hat die Forderung nach Existenzgeld noch nie irgendwelche Betroffenen hinter dem Ofen hervorgelockt, geschweige denn so etwas wie eine Bewegung ausgelöst.

Inspiriert von der Diskussion über einen »gesellschaftlichen Lohn«, die in der italienischen autonomen Bewegung um 1977 geführt wurde, griffen hierzulande in den achtziger Jahren vor allem Erwerbsloseninitiativen die Forderung auf, Ende der neunziger Jahre debattierten auch linksgewerkschaftliche Initiativen und die Zerfallsprodukte der Autonomen darüber. Eine Konferenz im Jahr 1999 sollte mit der Existenzgeldforderung unterschiedlichste Betroffenengruppen einigen und der Linken einen neuen Zugang zur so genannten sozialen Frage eröffnen. Stattdessen erwies sie sich jedoch ironischerweise als Ende der groß angelegten Kampagne.

Einer der Einwände gegen die Forderung nach Existenzgeld lautete damals, sie spiele unwillentlich der Gegenseite in die Hände, da sie einer entbürokratisierten Elendsverwaltung den Weg bahne. Auch auf besagter Konferenz warf ein linker Betriebsaktivist die Frage auf, ob die »alte Existenzgeld-Losung nicht schon längst von den Herrschenden zum reaktionären Grundsicherungsmodell umgedreht« worden sei. Heute lässt sich diese Frage unschwer mit Ja beantworten.

Die Existenzgeldforderung wird meist mit einer angeblichen »Krise der Arbeitsgesellschaft« begründet, die eine Entkoppelung von Arbeit und Einkommen auf die Tagesordnung setze. Weil Vollbeschäftigung nicht mehr zu haben sei, müsse der Staat die Versorgung seiner Bürger von der Erwerbstätigkeit ablösen und ihnen das benötigte Geld einfach so zukommen lassen. Die Bürger könnten dann in ihrer freien Zeit kreative und gemeinnützige Tätigkeiten verrichten, was wiederum dem Staat zugute komme.

In Gestalt des Arbeitslosengeldes II (ALG II) wird das Existenzgeld in der einzigen unter den gegebenen Verhältnissen denkbaren Weise eingeführt. Mit der Hartz-IV-Reform tritt ein staatlich finanzierter Minimalbetrag, der gerade zum Überleben reicht und insofern als Existenzgeld treffend beschrieben ist, an die Stelle von Bezügen aus der Arbeitslosenversicherung, die an das Beschäftigungsverhältnis gekoppelt ist.

Dass ALG II und die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen in dieser Hinsicht »in eine ähnliche Richtung laufen«, ist auch dem Netzwerk Grundeinkommen nicht entgangen. So bemerkte eine Sprecherin, Leistungen seien nach der Neuregelung »nicht an vorangegangene Beitragszahlungen und früheres Einkommen gekoppelt, alle Leistungsbezieher haben unabhängig von ihrer Erwerbsbiographie Zugang und werden im Prinzip gleich behandelt«.

Natürlich macht sich die direkte Abhängigkeit vom Staat, die in der Existenzgeldforderung naiv als Zustand individueller Autonomie ausgemalt wurde, als willkürliche Verfügung des Souveräns über seine Untertanen geltend. Entsprechend findet die »gemeinnützige Tätigkeit« jenseits der Lohnarbeit unter Androhung von Leistungskürzungen in Form von Ein-Euro-Jobs statt, wobei derzeit mit nachträglichen Korrekturen an der Arbeitsmarktreform die Bildung eines aufgeblähten öffentlichen Sektors verhindert werden soll (Jungle World, 8/05). Die vermeintliche Krise der Arbeitsgesellschaft ist tatsächlich das Ende einer mehrere Jahrzehnte währenden Ausnahmesituation annähernder Vollbeschäftigung in den Metropolen. Normal in der Geschichte des Kapitalismus ist die Existenz einer größeren industriellen Reservearmee, die die Verhandlungsmacht der Beschäftigten in Grenzen hält. Entsprechend dient die Absenkung des Arbeitslosengeldes auf Sozialhilfeniveau der Durchsetzung eines breiten Niedriglohnsektors.

Das alles hat selbstredend mit dem Existenzgeld, wie es sich seine linken Befürworter vorstellen, nicht viel gemein. Konfrontiert mit der neuen Grundsicherung, verdoppeln die Aktivisten daher ihre propagandistischen Anstrengungen, ähnlich wie viele Linke auch schon den illusorischen Ruf der Montagsdemonstranten nach Vollbeschäftigung nur mit der Schimäre eines kommoden Daseins als rundum versorgte Staatsbürger zu kontern wussten. Eine schlüssige Antwort auf die nahe liegende Frage, warum der Staat den Zwang zur Lohnarbeit abschaffen und dergestalt mit der Mehrwertproduktion seine eigene Grundlage aufheben sollte, sind sie bis heute schuldig geblieben.

Der Soziologe André Gorz formulierte das Plädoyer für eine »dualistische Gesellschaft«, die einen weiter bestehenden Sektor der Lohnarbeit mit einem staatlich finanzierten »Reich der Freiheit« verbinden sollte, immerhin unmissverständlich als Alternative zum Sozialismus, und nicht umsonst trug sein Buch den Titel: »Abschied vom Proletariat«. Die Wiener Zeitschrift Grundrisse hingegen propagiert zurzeit das Grundeinkommen als Waffe im Klassenkampf: »Sollte es das Grundeinkommen geben, so besitzt das Proletariat eben mehr als nur seine Arbeitskraft, nämlich das gesellschaftlich durchgesetzte Recht auf Grundeinkommen. (…) Höhere Löhne und Arbeit für alle kratzen nicht einmal an der Oberfläche am Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft. Das Grundeinkommen hingegen beseitigt die Lohnarbeit zwar nicht, aber sie relativiert sie, sie nimmt ihr den Stachel.« Der Schönheitsfehler des Konzepts, dass ausgerechnet der Staat die Proletarisierten aus ihrer Zwangslage befreien soll, kommt in der Schwärmerei schon gar nicht mehr zu Bewusstsein.

Andere Anhänger des Existenzgeldes wiederum biegen gerade den illusorischen Charakter der Forderung zu einem strategischen Vorteil um. Weil sie unter den bestehenden Verhältnissen letztlich nicht erfüllbar sei, weise sie über den Kapitalismus hinaus und sei daher, anders als linksradikale Kritiker behaupteten, nicht reformistisch. Man verspricht ein Schlaraffenland auf dem Boden der kapitalistischen Produktionsweise, an das man selbst nicht glaubt, und bekennt somit offen, »die Leute«, denen man mit realistisch klingenden Formeln näher kommen möchte, nicht für voll zu nehmen und gewissermaßen hinter ihrem eigenen Rücken zur Revolution treiben zu wollen.