»Hitler war populär«

Ein Gespräch mit dem Politologen daniel jonah goldhagen über den 8. Mai, die deutsche Geschichtspolitik und Deutschland 60 Jahre danach.

Wie wird in den USA an den 8. Mai erinnert?

Bislang war der Jahrestag hier fast kein Thema. Am Tag selbst werden die Medien bestimmt darüber berichten. Aber es wird alles oberfächlich sein, mit wenig gesellschaftlicher Resonanz. In Deutschland und in Europa wird die Berichterstattung sicher viel größer ausfallen als in den Vereinigten Staaten.

Wie beurteilen Sie den deutschen Diskurs über den 8. Mai?

Ich habe diesen Diskurs in der Presse nicht aufmerksam verfolgt, so dass ich nur einige grundsätzliche Anmerkungen darüber machen kann, wie sich der Diskurs über die Naziära und den Krieg verändert hat. In den vergangenen zehn Jahren hat sich das Bild über den Nazismus gewandelt. Vorherrschend ist die Vorstellung, dass die deutsche Gesellschaft von einem totalitären Regime terrorisiert worden sei und die Täter unfreiwillig gehandelt hätten. Dieses Bild, das die tatsächlichen Begebenheiten ins Gegenteil verkehrt, hat immer existiert. Nun scheint es sich durchgesetzt zu haben.

Demgegenüber ist es kaum Bestandteil des deutschen gesellschaftlichen Bewußtseins, dass der Nazismus eine sehr hohe Popularität genoss und wenn nicht von allen, aber doch von einer großen Mehrheit der Deutschen unterstützt wurde; dass die Täter, ganz gewöhnliche Deutsche, dazu bereit waren, Juden, Sinti und Roma und andere Menschen zu massakrieren. Über die Gründe kann man streiten. Aber es gibt keinen Zweifel daran, dass die Täter willige Vollstrecker waren, die Juden, Polen, Russen und viele andere umbrachten und überzeugt davon waren, das Richtige zu tun. Hitler war der populärste Politiker der deutschen Geschichte. Jede Auseinandersetzung mit der Geschichte hat mit diesen grundlegenden Fakten zu beginnen.

In Deutschland wurde in den vergangenen Monaten viel über das Ende des Krieges gesprochen, über so genannte Bombennächte, die Bombardierung Dresdens usw. Gerade unter der rot-grünen Bundesregierung scheint sich die Lesart durchzusetzen, dass man sagt: »Wir erkennen die deutsche Schuld am Zweiten Weltkrieg an, aber wir gedenken auch unserer ›eigenen‹ Opfer.«

Es gibt in der Tat politische Bemühungen, Deutschland und die Deutschen in Opfer zu verwandeln und jenen gleichzusetzen, die im Zweiten Weltkrieg von Deutschen ermordet wurden. Dies muss zurückgewiesen werden. Wenn jemand einen Weltkrieg beginnt, wird er nicht unversehrt und unverletzt daraus hervorgehen. Das heißt nicht, dass alles, was die Alliierten taten, richtig und angemessen war. Es ist ebenfalls ein Verbrechen, wenn die erklärte Absicht einer militärischen Operationen darin besteht, Zivilisten zu töten. Einiges von dem Leid, das die Deutschen bei der Bombardierung und durch andere Dinge erlitten haben, muss anerkannt werden. Aber dies ist etwas anderes als der Plan, ein ganzes Volk auszurotten, den europäischen Kontinent zu erobern, Millionen Menschen abzuschlachten, um ein imperiales Reich zu errichten.

Sehen Sie die Gefahr, dass in Deutschland die Auseinandersetzung mit der Geschichte dazu dient, um wieder zu einer Weltmacht aufzusteigen?

Das ist nicht wirklich eine reale Gefahr. Die weltweite politische Konstellation ist so, dass Deutschland bestenfalls eine zweitrangige Macht sein kann.

Die Nachkriegsära, zu der auch die Teilung Deutschlands gehörte, wurde mit dem Zerfall der Sowjetunion beendet. Seither beobachten wir eine wachsende deutsche Selbstbehauptung. Ich habe prinzipiell kein Problem damit. Ich denke, dass Deutschland behandelt werden sollte wie andere Nationen und Politik betreiben sollte wie andere Nationen. Deutschland ist heute eine erfolgreiche Demokratie, die sich nicht grundsätzlich von anderen demokratischen Ländern unterscheidet.

Dennoch gibt es einige Fragen. »Wie andere Länder« bedeutet, dass Deutschland seine eigene Vergangenheit und die Sensibilität anderer Länder für diese Vergangenheit berücksichtigen muss. Das bedeutet, nicht die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen oder den Blick auf die Geschichte zu verändern, nicht anzunehmen, dass die Deutschen im Zweiten Weltkrieg gleichrangige Opfer gewesen seien. Die Bürde von Auschwitz, die Schröder als Teil der deutschen Identität anerkannt hat, erlegt Deutschland Pflichten auf gegenüber den Opfern des Nazismus – moralische, materielle und politische.

Mit einer »besonderen Verantwortung« argumentieren auch deutsche Politiker, wenn sie, wie Gerhard Schröder oder Peter Struck, die Stationierung deutscher »Friedenstruppen« in Israel ins Gespräch bringen.

Das ist lächerlich. Denn für die Israelis ist schwer vorstellbar, dass deutsche Soldaten sie beschützen sollen. Wer deutsche Truppen in das Land schicken will, in dem die meisten Überlebenden des Holocaust leben, ohne dabei auf ihre Gefühle zu achten, überschreitet eine Grenze. Falls Israel Deutschland zu einem solchen Engagement einladen sollte, spräche nichts dagegen. Aber Politiker in Deutschland oder in anderen Staaten sollten nicht von sich aus über eine solche Frage diskutieren.

Beim diesjährigen Gedenken an die Bombardierung Dresdens spielte die Verurteilung der Briten und Amerikaner eine große Rolle. Es scheint sich ein europäischer Nationalismus zu bilden, der sich gegen die USA richtet.

Das ist selbstverständlich problematisch. Man muss den Antiamerikanismus in Deutschland und anderswo ebenso zurückweisen wie den Versuch, in Abgrenzung von den USA, den echten oder vorgestellten, ein europäisches Bewusstsein zu schaffen. Europa kann sich vereinigen, kann zu einer politischeren, sozialeren und wirtschaftlichen Union heranwachsen und prosperieren, ohne sich von den USA abzugrenzen. Es wäre ein großer Fehler, die USA zu einer geächteten Nation zu machen, als die sie manchmal beschrieben werden. Wir können die amerikanische Politik sehr kritisch beurteilen. Aber es gibt einen Unterschied zwischen einer Kritik an der amerikanischen Politik oder an einem Präsidenten und der Verteufelung Amerikas als inhärent böse Macht. Und oft wird die Kritik an den USA verbunden mit der Rolle, die Juden dort vermeintlich spielen, was zutiefst antisemitisch ist.

Sie sagen, dass Deutschland eine erfolgreiche Demokratie sei. Andererseits wurde in Sachsen, dessen Hauptstadt Dresden ist, die NPD ins Parlament gewählt. Jeder fünfte Erstwähler gab dort seine Stimme dieser Partei. Sie sind nicht zu optimistisch, was den Erfolg der reeducation anbetrifft?

Wer hätte am 8. Mai 1945 angenommen, dass Deutschland jemals eine so erfolgreiche Demokratie sein würde? Wer hätte angenommen, dass sich die sozialen und politischen Institutionen Deutschlands nicht nennenswert von Großbritannien oder den USA unterscheiden würden? In diesem Sinn ist Deutschland erfolgreich. Aber natürlich gibt es ernste Probleme. Die NPD, die stärker werdenden Neonazis, das Wiedererstarken des Antisemitismus – all das sind sehr beunruhigende Entwicklungen. Man muss fragen: Ist der Aufstieg dieser Partei eine vorübergehende Erscheinung oder wird sie zum Kern einer bedeutsamen politischen Subkultur werden? Ich sehe eine gewisse Hilflosigkeit der demokratischen Parteien. Man will die NPD bekämpfen, weiß aber nicht, mit welchen Mitteln. Ich will die Gefahr nicht unterschätzen, aber die düsteren Prognosen scheinen mir zu übertrieben.

Sie haben kürzlich in der Los Angeles Times geschrieben, dass Joseph Ratzinger nicht »vollständig die Lektion« daraus gelernt habe, welche Folgen die Verachtung von Juden oder Menschen anderen Glaubens habe. Spielt für Ihre Kritik der Umstand eine Rolle, dass der neue Papst ein Deutscher ist?

Aus der Naziära sind ganz andere Lehren zu ziehen als jene, die der Papst mit seiner Rede gegen den »Relativismus« zu ziehen scheint. Eine dieser Lehren lautet, dass die Intoleranz gegenüber unterschiedlichen Lebensweisen und Überzeugungen im vorigen Jahrhundert Deutschland, Europa und die Welt in Katastrophen gestürzt hat. Damit meine ich nicht, dass Benedikt XVI. die Sicht der Nazis teile. Aber den Nazismus als Rechtfertigung dafür zu nutzen, um sich gegen Pluralismus und Toleranz auszusprechen, um den eigenen Weg als einzig wahren zu propagieren und für das Christentum weltweiten Vorrang zu beanspruchen, zeugt nicht davon, dass man viel von der Geschichte, dem Individuum und der Gesellschaft verstanden hat.

Teilen Sie die Beobachtung, dass die Erinnerung an den Holocaust christianisiert wird, dass er von seinem Kontext losgelöst und zu einem allgemeinen Menschheitsverbrechen erklärt wird?

Je mehr die Zeit voranschreitet, desto mehr entfernt sich der Diskurs über den Holocaust vom Ereignis selbst. Die meisten Leute in Deutschland oder anderswo wissen sehr wenig über die historischen Fakten. Der Holocaust wird zu einem Rorschach-Test, der fast beliebig gedeutet werden kann, je nach politischen, religiösen oder anderen Präferenzen. Es gibt viele verschiedene Diskurse über den Holocaust, und die meisten davon haben wenig mit dem zu tun, was tatsächlich stattfand. Ich erwarte, dass dieses Problem größer werden wird. Dabei ist nichts dagegen einzuwenden, wenn wir versuchen, den Holocaust aus vergleichender Perspektive zu untersuchen; ich arbeite gerade an einem Buch über Genozide. Was jedoch immer beachtet werden muss, ist der spezifische historische Kontext. Der Holocaust ist nichts, was auch andere Menschen an anderen Orten zu anderen Zeiten in anderen Formen erlebt haben oder hätten erleben können, sondern ein sehr spezifisches historisches Ereignis, ein in vieler Hinsicht einzigartiger Völkermord in der Geschichte der Menschheit.

Trotz der öffentlichen Debatte über die Nazizeit ist in Deutschland Ihre Studie über Hitlers willige Vollstrecker zehn Jahre nach ihrem Erscheinen kein Thema mehr.

Während der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. die meinem Buch folgte, bestätigte im Grunde genommen eine Studie nach der anderen meine Schlussfolgerungen. Das drang natürlich nicht immer durch im öffentlichen Diskurs, obwohl in den Medien darüber berichtet wurde.

Aber in Deutschland gibt es, ungeachtet allen öffentlichen Erinnerns, noch immer viele Menschen, einschließlich Angehörige der Eliten, die die Fakten nicht wahrnehmen wollen und die ihre Eltern oder ihre Großeltern und ihr Land zu entschuldigen versuchen. Es gibt einen enormen Widerstand dagegen, die historischen Fakten über die Popularität des Naziregimes, über die Willigkeit der Täter, über die Verbreitung des Antisemitismus usw. anzuerkennen und die Einzigartigkeit des Naziregimes, dessen Sieg das Ende der europäischen Zivilisation bedeutet hätte.

interview: stefan wirner

und deniz yücel