Mit Moos bewachsen

Eine kleine Rezeptionsgeschichte von Alain Resnais’ Film »Nacht und Nebel«. von jan-frederik bandel

Vor vier Jahren, mitten in der Debatte um den Straßenkämpfer Fischer, lief in den Kinos »Die innere Sicherheit« an, Christian Petzolds Versuch über das späte Untergrundleben einstiger RAF-Mitglieder. An einer Stelle des Films baut Petzold eine thesenartige Szene ein, um beiläufig zu beleuchten, was seine Protagonisten einst bis hin zur Radikalisierung bewegt haben mag. Man sieht Jeanne, die 15jährige Tochter eines RAF-Pärchens, wie sie bei ihren Streifzügen durch Hamburg-Bergedorf zufällig in die Schulvorführung eines KZ-Dokumentarfilms gerät.

Mit ihr sieht man die letzten Minuten des Films, eine langsame Kamerafahrt über das grasbewachsene Gelände von Auschwitz, vorbei an rostenden Folterinstrumenten, mit ihr hört man den Kommentator aus dem Off von »neuen Henkern« sprechen, von der aufrichtigen Illusion, »als schöpften wir neue Hoffnung, als glaubten wir wirklich, dass all das nur einer Zeit und nur einem Lande angehört«, einer Illusion, die uns dazu verlocke, dass »wir vorbeisehen an den Dingen neben uns und nicht hören, dass der Schrei nicht verstummt«.

Die Szene ist auch ein Verweis auf Margarethe von Trottas Ensslin-Film »Die bleierne Zeit« (1981), in dem zwei Schwestern eben durch diese Dokumentation, Alain Resnais’ »Nacht und Nebel« (»Nuit et Brouillard«) erschüttert und politisch aufgerüttelt werden.

Auf eine monumentalistische Geschichtsdeutung, derzufolge 1968 die Demokratie auf die Füße gestellt wurde, die 1945 bloß formal installiert wurde, lässt sich Petzolds Verweis so wenig festlegen wie auf die Einschreibung der schließlich in seinem Film vom Staatsschutz liquidierten RAF-Mitgliedern in eine Opfergeschichte seit Auschwitz. Petzold belässt es bei Fragmenten auseinander- und gegenläufiger Interpretationen.

Schließlich war auch »Nacht und Nebel« nicht nur tatsächlich ein Film, der »eine Generation geformt hat« (Ewout van der Knaap). Charakteristisch für seine Entstehung und Aufnahme ist vielmehr ein Gemisch höchst widersprüchlicher Geschichtsdeutungen. 1955 wurde der Film gedreht, 1956 aufgrund von Protesten der Bundesregierung in Cannes abgesetzt und dann außer Konkurrenz und außerhalb des Festspielkontextes vorgeführt.

Resnais’ Dokumentation über das KZ-System lässt sich zwar in die Tradition alliierter Filmproduktionen stellen, der Film versucht zugleich aber auch einen neuen Zugriff auf das Thema. Er gehört nicht mehr in den Kontext alliierter Umerziehungspolitik, zumal am 5. Mai 1955 die Souveränität der Bundesrepublik proklamiert und damit das Besatzungsrecht aufgehoben worden war. Von diesem neuen Status kündet auch der deutsche Protest gegen die Aufführung. Indem man dem Einspruch stattgegeben habe, habe sich aber, schrieb daraufhin der Schriftsteller Jean Cayrol in der Zeitung Le Monde, auch Frankreich »zum Komplizen des Schreckens gemacht«.

Die unmittelbar nach Kriegsende produzierten und gezeigten KZ-Filme dienten noch ausdrücklich als Anklage, Konfrontation und auch als Beleg für die NS-Verbrechen und korrespondierten so als Mahnung mit zahlreichen anderen Re-education-Produktionen, durch die den Deutschen Schritt für Schritt die unerbetene Demokratie nahe gebracht werden sollte. Etwa mit Schulungsfilmen für staatsbürgerliche Rechte und Pflichten.

Anklagefilme traten mit Zunahme des Antikommunismus bald zurück, obwohl auch sie von Anfang an nur wenige Täter und zahllose Verführte kannten. Die amerikanische Produktion »Die Todesmühlen« (1945) wurde bereits 1947 zurückgezogen und war nur noch gelegentlich zu sehen, ein britischer Film über die Lager wurde nicht fertiggestellt, über die Aufführungsgeschichte des französischen Films »Les Camps de la Mort« (1945) ist wenig bekannt.

Als »Nacht und Nebel« entstand, waren diese eindeutigen geschichtspolitischen Programme also bereits ausgelaufen und hatten Platz gemacht für eine erstmals auch ästhetisch avancierte Darstellungsform der Lagerrealität. Das historische Material aus den alliierten Archiven wurde für »Nacht und Nebel« in seiner dokumentarischen Entsetzlichkeit scharf gegen die völlige Indifferenz des langsam abgeschrittenen verlassenen »Dekors« geschnitten: »Gebäude, die Ställe sein könnten, Scheunen, Werkstätten; ein verödetes Stück Land, ein gleichgültiger Oktoberhimmel: Das ist alles, was uns bleibt, um uns die Nacht hier vorzustellen, diese von Appellen und Läusekontrollen zerrissene, diese zähneklappernde Angst.« So kontrastiert das sehr konkrete historische Bildmaterial auch mit dem auf eine universalistische Deutung hinauslaufenden Kommentar. Doch der Kommentar nennt durchaus auch deutsche Realitäten wie »Steyr, Krupp, Heinkel, I.G. Farben, Siemens«, spart aber die Bedeutung der Juden als Hauptopfergruppe und des Antisemitismus als zentraler Ideologie fast vollkommen aus. Nur ein einziges Mal ist von einem »jüdischen Studenten« die Rede. Auch hier folgt der Kommentar den frühen alliierten Produktionen.

Die Tendenz zur Universalisierung verhinderte zwar keineswegs, dass der Film in Deutschland primär als historische Darstellung des NS-Faschismus begriffen wurde, trug aber sicherlich zu seinem Erfolg bei. Zumal in den von der SPD regierten Bundesländern wurde der Film überall gezeigt. Nach antisemitischen Vorfällen in Berlin zeigte ihn z.B. die Junge Union im Juni 1961 unter dem Titel »Verbrechen als System« im überlaufenen Zoo-Palast. Selbst die Soldatenzeitung lobte den Film und nutzte ihn als Anlass, nicht bloß den guten Wehrmchtssoldaten, sondern auch gleich die Waffen-SS für ihre Pflichterfüllung zu loben, die »KZ der Franzosen« und »Hungerlager der Amerikaner« anzuprangern und das »große KZ sowjetischer Prägung« zu beklagen. Allerdings fand man den Film dann doch zu »einseitig«, um gleichzeitig zu behaupten: »Wer die Kräfte sind, die an einer ausschließlich gegen Deutschland gerichteten Einseitigkeit interessiert sind, wissen wir.«

Auch jenseits solch wahnwitziger Hermeneutik aber bot der Film den Deutschen offenbar ein akzeptables Modell: Setzte die Umerziehung darauf, sie mit dem zu konfrontieren, was direkt in ihrer Nachbarschaft passiert war, rückte in dem Film das Geschehen zeitlich, räumlich und politisch deutlich in die Ferne. Auschwitz war weit weg, das Lager grasüberwachsen, die Botschaft eine, die alle Menschen etwas anging.

Wer heute diesen Film sieht, wird aber weniger auf den Kommentar reagieren als auf die Bilder, die so anders wirken als die heute gar zu geläufigen Abstraktionen rund um die Chiffre »Auschwitz«. Man sieht Leichenberge, riesige Landschaften von Haaren, Brillen, Schuhen, die abgetrennten Köpfe in Bottichen der Seifenlabors, die Fingerrillen im Beton der Gaskammern. Und die Körper, die Blicke der geschundenen Überlebenden.

So greifen die Geschichtslehrer – ob nun in Hamburg-Bergedorf oder sonstwo – heute wohl auch eher zu »Schindlers Liste«, um ihre Schüler über den Nationalsozialismus aufzuklären. Obwohl »Nacht und Nebel« nach wie vor über die Bundeszentrale für politische Bildung zu beziehen ist.

Wer etwas zu »Nuit et Brouillard« ergoogeln will, landet gar zuerst auf der Seite eines französischen Dark-Wave-Mailorder-Anbieters, der von »Der Blutharsch« über »Death in June« und »Genocide Organ« bis »Von Thronstahl« alles auf Lager hat, was der neurechte Neofolk- und Industrialhörer begehrt. Unter demselben Titel betreibt der Versand auch ein eigenes Label, auf dem zuletzt eine CD-Wiederveröffentlichung der mit dem »Blutharsch« befreundeten »Military-Pop«-Band Dernière Volonté erschienen ist. Man bekommt auf Wunsch die CD als Vorzugsausgabe mit Postkarten von Fotos aus dem Zweiten Weltkrieg. Diese böten die »perfekte Reflexion des Klimas der dreißiger und vierziger Jahre«, verspricht das Label, nämlich: »Wut, Schmerz und Tränen«.