174 mal Wettbewerb

In Frankreich sprechen sich rechte und linke Gruppen gegen die EU-Verfassung aus. Die Regierung muss sich anstrengen, damit die Abstimmung am 29. Mai nicht mit einer Ablehnung endet. von bernhard schmid, paris

Am Anfang stand die Arroganz der Macht. Wenn die Franzosen über den Verfassungsvertrag der Europäischen Union abstimmen, könnten sie nichts anderes tun als zuzustimmen. Davon war Präsident Jacques Chirac lange Zeit überzeugt. Denn die EU, so dachte und denkt man in der Staatsführung und in der Regierung, sei ein unausweichlicher wirtschaftlicher Sachzwang, verbunden mit einer bedeutsamen »Rolle in der Welt«, aber auch mit »Frieden seit 1945«. Die EU abzulehnen, bedeutet demnach, die Vernunft, den Frieden und andere hehre Ideale abzulehnen.

Zunächst glaubten Chirac und seine Gefolgsleute, dass sie für die Verfassung nicht einmal Argumente benötigten. Am Rande der Landwirtschaftsmesse im Februar in Paris fragte ein Mann den anwesenden Präsidenten, was er ihm entgegnen würde, wenn er ihm sage, dass er bei der Abstimmung mit »Nein« stimmen wolle. »Sie würden eine ordentliche Dummheit begehen«, lautete die einzige Antwort. Kritiker und Skeptiker sind Idioten: Die Replik des Staatschef machte Furore.

Doch dann kam alles anders. Ab März kippte die mehrheitliche Zustimmung zur EU-Verfassung in den Umfragen. Dazu trug vor allem die angesichts der Debatte um die Bolkestein-Richtlinie lauter werdende Kritik der Gewerkschaften bei. Zunächst glaubte die Regierung, zumindest auf das Stillhalten der Gewerkschaften hoffen zu können.

Der Europäische Gewerkschaftsbund, eine an die EU-Kommission angekoppelte Lobbyorganisation, hatte vorab den Entwurf des Verfassungsvertrags unterstützt. Doch diese Organisation ist im Grunde lediglich ein bürokratischer Wasserkopf mit etwa 40 hauptamtlichen Mitarbeitern, der versucht, die Brüsseler Institutionen zu beinflussen. Dennoch gehören ihm fast alle Gewerkschaften in Europa an, die nicht von der Entwicklung abgehängt werden wollen. Nach längeren Verhandlungen wurde im Jahr 1999 auch die französische »postkommunistische« CGT aufgenommen. Deswegen wurde von ihr auch ein »konstruktives« Verhalten erwartet.

Doch dann rebellierten bedeutende Teile der Basis sowie der mittleren Funktionärsebene. Im Februar beschloss eine Verbandstagung der CGT mit einer großen Mehrheit, zum »Nein« beim Referendum aufzurufen. Die »eigene« Führung unter dem Generalsekretär Bernard Thibault geißelte daraufhin wochenlang den Beschluss in allen bürgerlichen Medien als verantwortungslos.

Doch das tat der Entschlossenheit keinen Abbruch. Zur zentralen Gewerkschaftsdemonstration gegen die Bolkestein-Richtlinie Mitte März in Brüssel reisten 15 000 bis 20 000 Demonstranten der CGT an, die zahllose Transparente gegen den Verfassungsvertrag trugen. Von der rechtssozialdemokratischen CFDT waren nur 700 bis 1 000 Mitglieder und Funktionäre anwesend, die unter Pfiffen und Buhrufen mit Aufklebern zugunsten des Verfassungsvertrags marschierten.

Den diesjährigen Demonstrationen zum 1. Mai blieb die CFDT gleich ganz fern, obwohl sie der zweitgrößte Gewerkschaftsbund des Landes ist. Sie wolle keine »Veranstaltung für das Nein zur EU-Verfassung« unterstützen, lautete die offizielle Begründung. Damit hatten ihre Funktionäre die Stimmung wohl richtig eingeschätzt.

Seit März ermittelten Umfragen, dass 52 bis 58 Prozent der Befragten das Vertragswerk ablehnten. Doch in den vergangenen zwei Wochen ist die Tendenz wieder gegenläufig, so dass derzeit kaum verlässliche Vorhersagen über das Ergebnis der Abstimmung möglich sind. In den Befragungen liegt mal die eine und mal die andere Position vorne.

Der leichte Aufschwung zugunsten der Befürworter hängt damit zusammen, dass die großen staatstragenden Parteien und vor allem die beiden konservativ-liberalen Formationen, die Regierungspartei UMP und die christdemokratische UDF, damit beginnen, ihre Anhängerschaft zu mobilisieren. Auch die intensive Medienpropaganda spielt dabei eine Rolle. Selbst nach den offiziellen Angaben der Fernsehaufsichtsbehörde CSA haben in den vergangenen Wochen die Unterstützer des Verfassungsvertrags drei Viertel der Sendezeit eingenommen. Und dabei zählt der »Hohe Fernsehrat« die Auftritte von Präsident Chirac nicht einmal mit, weil dieser nach den Regeln der Aufsichtsbehörden als eine Person gilt, die »über den politischen Lagern steht«.

Die Befürworter der EU-Verfassung heben in ihrer Kampagne vor allem darauf ab, dass das Vertragswerk eine Grundrechtscharta enthalte und die Rechte des Europäischen Parlaments ausweite. Aber auch künftig wird das Europaparlament kein gesetzgeberisches Initiativrecht besitzen. Entwürfe für Richtlinien und Verordnungen können weiterhin nur vom Ministerrat und der EU-Kommission, als Vertreter der nationalen Regierungen und der Brüsseler Exekutive, vorgelegt werden. Eine Gewaltenteilung wird es auf der Unionsebene also nicht geben.

Die Grundrechtscharta fällt zudem in weiten Teilen hinter die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Uno und andere internationale Bestimmungen zurück und beschränkt sich an vielen Stellen auf wohlklingende Allgemeinplätze. So haben die Unionsbürgerinnen und -bürger künftig zwar ein »Recht auf Zugang zu Gesundheitseinrichtungen«. Ob sie diese selbst bezahlen müssen oder nicht, bleibt allerdings unklar. Sie haben kein ausdrückliches »Recht auf Gesundheit«, das institutionell garantiert wäre. Ähnlich sieht es in anderen Bereichen aus.

Worüber die Befürworter in der Öffentlichkeit kaum reden, ist das dritte Kapitel der EU-Verfassung, das aber bei weitem das umfangsreichste ist und rund 70 Prozent des Vertragswerks ausmacht. Es enthält eine große Anzahl konkreter Bestimmungen, die dazu dienen, eine Politik festzuschreiben, die dem Wirtschaftsliberalismus entspricht. Eines der häufigsten Worte des Textes lautet »Wettbewerb«, 174 Mal kommt es vor. Kritiker wie der frühere hohe EU-Beamte Yves Salesse, der heute dem linken Think Tank Fondation Copernic angehört, monieren, dass eine Verfassung normalerweise nur den institutionellen Rahmen einer Politik bilden dürfe. Sie habe aber nicht dazu zu dienen, die Inhalte der Politik selbst vorzugeben. Dies erscheine umso gravierender, da die Verfassung in Wirklichkeit nur ein zwischenstaatlicher Vertrag sei, gleichzeitig aber nur mit Zustimmung aller wieder abgeändert werden kann – was bei 25 oder mehr Staaten quasi unmöglich sein dürfte.

Dagegen betonen vor allem viele sozialdemokratische und grüne Befürworter, dass der Verfassungsvertrag zwar in ihren Augen »nicht optimal« sei. Aber er sei besser als keiner, und man könne ihn als ersten Schritt betrachten, dessen Inhalt noch verbessert werden könne.

Die Kritik widerum kommt aus zwei unterschiedlichen Richtungen. Es gibt ein »Nein von links« ebenso wie ein »Nein von rechts«. Doch beide Seiten treten nicht gemeinsam auf und betreiben voneinander getrennte Kampagnen. Das rechte »Nein« wird vor allem von Jean-Marie Le Pen und dem katholischen Nationalkonservativen Graf Philippe de Villiers vertreten. Den Ablehnungen aus den unterschiedlichen Lagern liegen jeweils spezifische Fragen zugrunde.

Die Frage, die hinter dem »linken Nein« steht, ließe sich in etwa so formulieren: »Nach welcher gesellschaftlichen Logik soll das Zusammenleben von 400 Millionen oder mehr Menschen funktionieren?« Dabei wird eine Logik des Wettbewerbs und der Anpassung sozialer Standards nach unten strikt abgelehnt, stattdessen wird »eine Angleichung sozialer und demokratischer Standards nach oben« gefordert. Eine solche Anpassung nach oben habe noch bei der Aufnahme Spaniens und Portugals in die damalige EG stattgefunden, heute hingegen werde von offizieller Seite eher eine Logik des neoliberalen Sozialdumpings favorisiert.

Die Frage der rechten Verfassungsgegner lautet unterdessen: »Wer darf zu Europa gehören, und wer muss draußen bleiben?« Eine zentrale Rolle nimmt dabei ein möglicher Beitritt der Türkei ein. Die Ablehnung einer türkischen EU-Mitgliedschaft macht einen großen Teil der rechten »Nein«-Kampagne aus, während sich die KP, die trotzkistisch-undogmatische LCR und der linke Flügel der Grünen dafür aussprechen, falls die Türkei demokratische Mindeststandards erfülle und den Genozid an den Armeniern endlich anerkenne.

Bei dem Aufmarsch von 3 000 Anhängern Le Pens am 1. Mai war eines der beliebtesten Plakate das Bild einer russischen Puppe mit der Aufschrift »Verfassung« und den EU-Sternen, aus der ein bärtiger Türke zum Vorschein kommt, begleitet von dem Text: »Islam raus aus Europa!« Le Pen warnte in seiner Rede vor einem »überdehnten, der Sowjetunion ähnlichen, kosmopolitischen, von seinen christlichen Wurzeln abgeschnittenen und vom Islam überschwemmten Europa«. Ähnliches ist vom bürgerlichen Rechtskatholiken Graf de Villiers zu hören.

Die rechten Gegner der EU-Verfassung können das Rennen auf jeden Fall nicht entscheiden. Denn in den vergangenen zwei Jahrzehnten gab es in Frankreich ein stabiles Wählerpotenzial von gut 15 Prozent, das sich Le Pen und de Villiers teilten; wenn der eine erstarkte, ging der Anteil des anderen zurück. Die wirkliche Frage bleibt die Verteilung der linken und gewerkschaftlichen Stimmen. Doch die konservative Regierung und mehr noch die Sozialdemokratie versuchen derzeit, Le Pen als Schreckgespenst zu nutzen, um vor allem das Publikum mit höherem Bildungsniveau zur Zustimmung zu bewegen: Ein Sieg des »Nein« am 29. Mai stelle einen Erfolg des »Populismus« und damit Le Pens dar, behaupten sie landauf und landab.

Für den offiziellen Fernsehwahlkampf in den 14 Tagen vor der Abstimmung hat die Regierung vier Parteien als offizielle Vertreter des »Nein« ausgewählt. Drei von ihnen sind national-autoritäre bis rechtsextreme Parteien, allein die KP soll von links für die Ablehnung werben. Sie will allerdings die Hälfte ihrer Sendezeit an andere progressive Vertragsgegner abgeben. Ob das Kalkül der Regierung aufgeht, wird sich erweisen müssen.