Dancing at the Funeral Party

Leitet die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen das Ende der rot-grünen Epoche ein? Oder kann die Koalition weiter an Deutschlands Aufstieg zur Weltmacht arbeiten? von rainer trampert

Die Union müsste ihren bundesweiten Vorsprung ins Ziel retten können, möchte man meinen. Ein Nachruf auf Rot-Grün wäre aber verfrüht. Wenn Deutschland Fußballweltmeister wird, »Acker« Schröder volkstümlich den Ball traktiert, viele »Unvermittelbare« aus der Arbeitslosenstatistik fliegen und die Baukonjunktur anzieht, ist alles drin. Auch Nordrhein-Westfalen ist noch nicht verloren. Wer weiß, ob das Konzept der CDU, Jürgen Rüttgers zu verstecken, bis zum Wahltag durchzuhalten ist. Andererseits hat er Aphorismen wie »Kinder statt Inder« oder den katholischen Schwur bei Michel Friedman fast schadlos überstanden. Im Fernsehduell ließ er einfach Peer Steinbrück reden. Der hatte nachher bessere Werte, was seine Kompetenz angeht, aber Rüttgers soll die Herzen gewonnen haben.

Alles in allem sieht es für das rot-grüne »Reformprojekt« finster aus. Die Stimmung im Lande beerdigt seit geraumer Zeit eine rot-grüne Landesregierung nach der anderen. In Hessen übernahm die CDU, in Berlin eine Koalition aus SPD und PDS die Regierung, die Hamburger zogen das rechte Angebot mit Ronald Schill vor, die Niedersachsen die CDU, und auch in Schleswig-Holstein konnte man den Kneipenwitzbold, den die CDU in arger Personalnot aufbot, nicht besiegen. Heide Simonis scheiterte an der Undiszipliniertheit im eigenen Lager. Das »Reformprojekt« verströmt Leichengeruch.

Nach Münteferings »Kapitalismuskritik« fragte Schröder in der Koalitionsrunde bitter, welche Arbeiterlieder man zu singen gedenke. Er weiß, dass Müntefering die Niederlage antizipiert und der SPD die Oppositionsseele zurückgibt, zum Wohlfühlen und damit links nichts hochkommt. Das geschieht so verkommen, wie die Sozialdemokratie ist: Das Kapital wird in schaffendes und raffendes gespalten, um das Auslaugen der Lebenskraft bei RWE, VW, BMW, Bayer, im Mittelstand und im Handwerk zu heiligen und die Unzufriedenheit auf nomadisches Geld zu fokussieren, das in New York zu Hause sein soll, wo Eingeweihte Juden vermuten.

Die Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (Wasg) war beleidigt, weil der SPD-Vorsitzende ihre Rede geklaut hatte, und Attac lud ihn ein. Aber Grüne spüren den Untergang und präparieren sich für die CDU. Sie warnen die SPD davor, Unternehmen an den Pranger zu stellen, und Bütikofer lobt sogar Investment-Banker, die auf Münteferings Schwarzer Liste stehen. Drei Viertel der Deutschen mögen die »Kapitalismuskritik«, aber auch den Papst, der 150 Priester in Lateinamerika exkommunizierte, und 80 Prozent finden das »partnerschaftliche Miteinander« in Unternehmen »besser als die Konfrontation«. Sie werden die so genannten Heuschrecken bald genauso fürchten wie Schwarzarbeiter aus Polen.

Man hat es mit einem Brei aus rationalen Erwägungen und irrationalen Stimmungen zu tun. Vor allem betreibt die rot-grüne Regierung die Privatisierung der Lebensrisiken, büßt dabei ihren Ruf als kleineres Übel ein und nimmt der Union das Image des Bösen. Die meisten Beschäftigten wünschten Arbeitslosen stets die Zwangsarbeit an den Hals, doch heute denken sie an ihre eigene Kündigung. Dann wird ein rot-grünes Gesetz ihnen ihr Eigenheim und ihre Ersparnisse wegnehmen.

Betriebsräte wenden sich nun gegen »die wirtschaftsfeindliche Politik der Grünen«, um zu demonstrieren, dass ihnen die CDU genauso lieb ist wie die SPD. Dazu vermittelt Schröder jenes frostige Kalkül, dem kein Fehler gestattet wird. Seine Nähe zum Kapital brachte ihn auf den Kanzlerstuhl. Er gewährt dem Kapital Steuerbefreiung, aber es richtet aus Liebe zum Kapital keine Arbeitsplätze ein. Man sollte verzichten für den Standort, hat dafür aber nichts bekommen. Immerhin ein kommerzieller Gedanke, keine reine Vaterlandsliebe.

Nun wird der Regierung Geld fehlen, das sie wohl bald bei der Bevölkerung zu holen gedenkt, und hinter dem gescheiterten Konzernkanzler blüht die Ära Kohl / Blüm als das letzte Goldene Zeitalter des kleinen Mannes auf.

Als Führungspartei bekommt die SPD die Quittung für die Drecksarbeit. Auch Maggie Thatchers Konservative, die Krankenhäuser privatisierten, ganze Regionen und Gewerkschaften zerkloppten, kommen nicht auf die Beine. Die Grünen halten sich noch. Ihren gut situierten Wählern ist Hartz IV einen Diskurs wert, und die Praxisgebühr ist für sie ein Obolus fürs Gesundheitssystem, der ihr Gewissen beruhigt. Die Probleme kommen später. Die Grünen haben die sinkende Akzeptanz unter Jugendlichen und den Bedeutungsverlust in Zeiten ohne Minister wettzumachen. Ob es ihnen dann gelingt, mit Wirtschaftsberater Oswald Metzger bei den Liberalen zu wildern, ist fraglich.

Die alte Bundesrepublik wäre Weltspitze, wenn sie nicht fünf Prozent ihres Sozialprodukts ins östliche Armenhaus schicken müsste. Das hilft aber nicht. Das rot-grüne Bündnis wird wahrgenommen als Gespenst, das den Himmel über Deutschland verdunkelt. Mit ihm kamen Raubtierkapitalismus, Renten- und Finanzmisere und ein Methusalem-Komplex. Kinder, die später nicht beschäftigt werden, können dereinst zwar nicht für Renten sorgen, aber CSU-Politiker reden vom deutschen Familienglück.

Otto Schily bedauert wie der Papst himself den Geburtenrückgang als »Absage an das Leben« und er blickt dabei in die Kamera, als wolle er die Diktatur ausrufen und Kinderlose verhaften. Wenn Joseph Fischer im Visa-Ausschuss erläutert, nur mit etwas Reisefreiheit werde man Russland, die Ukraine und bald Weissrussland an Deutschland binden, denken die Leute nicht an Eroberung, sondern: Die Russen kommen!

Die Bundesregierung wickelt ab, was Kapitalvertreter und »Sachverständige« diktieren, doch denen genügt das nicht. Dabei wissen sie selber nicht, warum der Kapitalismus in einer Phase, in der er zu Lasten des Konsums den Kapitalblock technisch revolutioniert, die Profitmasse durch Firmenübernahmen konzentriert, einige Werkbänke woanders einrichtet und Märkten und hohen Ausbeutungsraten bis nach China hinterherläuft, im Zentrum mehr Menschen beschäftigen soll. Die immanente Lösung läge in einer Mixtur aus Zwangsarbeit, Lothar Späths Gesellschaft mit High-Tech und Bürgerhäusern voller Mägde und Knechte sowie der Rückkehr der Frauen in kinderreiche (christliche) Familien. Rot-Grün verwehrt solchen regressiven Stimmungen die Wärme und vermittelt ihren Anhängern soziale Kälte.

Die CDU muss nicht viel tun. Sie vermittelt einfach das diffuse Gefühl, sich mit der Wirtschaft gut zu verstehen und Deutschland vor Ungemach zu schützen. Die Medien kommentieren sowieso bis zum Dorfreporter: »Rot-Grün kann das nicht!« Im Bundesrat trägt die Union fast alles mit und in Nordrhein-Westfalen werde sie »nicht sofort alles anders machen«, sagt Angela Merkel. Sie macht düstere Vorhersagen: Investoren würden abgeschreckt, christliche Werte und kriminelle Ukrainer zu wenig beachtet. Falls nötig, grenzt sie sich volksparteilich von der FDP ab. Wenn die Liberalen wie eine Sekte den Markt, ihren Gott, vor irdischen Plagen behüten wollen, nimmt Angela Merkel »Gewerkschaften und Betriebsräte« vor ihnen »in Schutz«, und Edmund Stoiber sagt im Attac-Jargon, dies könne sich nur eine »neoliberale Partei« leisten. Seit der SPD kaum Chancen eingeräumt werden, fällt selbst der Auftrag, die FDP an die Leine zu nehmen, der Union zu.

Das Markante an der rot-grünen Epoche ist die Selbstaufopferung für zwei historische Aufgaben: die Beseitigung des in Kämpfen und Verhandlungen errungenen versicherten Lebens, an die Kohl sich nicht herantraute, und der kühne Aufstieg Deutschlands zur kontinentalen Großmacht. Beides kommt in die Geschichtsbücher, bringt aber keine Stimmen. Eine Meisterleistung Schröders war es, Arbeitslose als faule Säcke zu beschimpfen, bis sie zu Lohnnebenkosten mutierten, die man senken müsse. Das Arbeitslosengeld II funktioniert bereits als Erziehungsmodell. Armut und Zwangsarbeit vor Augen, sagen Beschäftigte sich: »Ich mach’ alles, um da nicht zu landen!« Wer fühlt sich zu schade, an der Dorfkirche Unkraut zu jäten? Müssen erst Polen kommen?

Schröder sagt: »Wer, wenn nicht wir? Wann, wenn nicht jetzt?« Das Schicksal hat ihn auserwählt. Die SPD bringt ihre Politik ohne größeren Protest über die Bühne, und ihre Preußentreue macht vorm eigenen Untergang nicht halt. Immer wieder attestieren »Linke« dem Staat, er werde durch streunende Finanzen am guten Handeln gehindert. Das Staatsmanagement verfolgt keine besseren Absichten als das Kapitalmanagement! Der Staat fördert als »die Form, in welcher die Individuen einer herrschenden Klasse ihre gemeinsamen Interessen geltend machen« (Marx), das expansive Kapital und verfolgt damit das eigene Interesse, so viel Profit wie möglich aus der Welt in das eigene Staatsgebiet zu lenken. Beide wollen Wertmasse, die von Menschen verzehrt wird, die selber keinen Mehrwert schaffen (Arbeitslose, Kranke, Rentner), und die in Zeiten der Nachfrage beim Staat aufgetürmt wurde, in den rentablen Kreislauf zurücktransferieren. Das Anwachsen dieser der Profitproduktion entzogenen Werte signalisiert die Gefährdung der Reproduktion des Kapitals und des Staates, der seine Aufgaben aus dem Überschuss der Wirtschaft finanzieren muss. Keynes’ Staatsnachfrage nimmt dem Kapitalismus die laufende Selbstreinigung und häuft so die unrentable Wertmasse an, die sich in einem umso lauteren Knall entlädt.

Fast noch couragierter etablieren Schröder und Fischer Deutschland als Großmacht. Während die Union zaudert, ob man nicht im transatlantischen Bündnis eher zurückhaltend sein sollte, modellieren sie die Kontinentalmacht, die mit Europa im Rücken und Russland und China vor Augen die USA beerben soll. In der Süddeutschen Zeitung war von einem Schritt »von der Ohnmacht zur Weltmacht« die Rede, und die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb: »Zum ersten Mal versucht ein Außenminister deutsches Streben nach Weltgeltung.« Im Bündnis mit Frankreich setzt man auf die »multipolare Welt« gegen »amerikanischen Unilateralismus« und hält sich für das Gravitationszentrum eines Gegenimperiums.

Auch die USA sind zur aggressiveren Form der Weltherrschaft übergegangen. Der CDU wird der Kurswechsel schwer fallen, und sie müsste ihn gegen die deutsche Wirtschaft durchsetzen. Die »vermerkt« nämlich, schreibt die FAZ, dass »ihre Geschäfte unter Schröder leichter geworden« seien, als sie unter Kohl waren. Schröder reise durch die Welt, um »Globalisierung im nationalen Interesse zu gestalten«, er öffne die Türen zu Russland, zu China und in den arabischen Raum und wolle bis 2006 »Lateinamerika neu entdecken«. Dabei räume er nationalen Interessen »Vorrang vor Demokratie und Menschenrechten« ein. Die Erfolge sind markant. Sein Freund Putin verstaatlichte den Energiekonzern Yukos und ließ die Manager verhaften, weil sie mit dem Unternehmen Exxon Mobil kooperierten.

Man drängt in den ständigen Ausschuss der Uno, um dort denselben Rang einzunehmen wie Staaten, die Millionen von Deutschland Ermordete zu beklagen hatten. Schröder und Chirac basteln an einer kontinentalen Drei-Klassen-EU, in der ihre Staaten das Führungsduo bilden. Nach ihnen folgen ökonomisch starke, aber weltpolitisch wenig einflussreiche Staaten. Der dritte Stand ist Osteuropa, das nach Deutschland so viel liefert wie in alle übrigen alten EU-Staaten, und Deutschland exportiert dorthin so viel wie in die USA. Die neue Verfassung soll diesen Status festschreiben. Demzufolge darf der »freie Wettbewerb zwischen Ungleichen« durch öffentliche Beihilfen »nicht verfälscht« werden, und Beschlüsse müssen 60 Prozent der Bevölkerung der EU repräsentieren.

Die Zeit analysiert: »Ein Ja zur Türkei bedeutet ein anderes Europa-Bild. Kein Europa der Identität, sondern«, wie Fischer sage, »ein strategisches Europa: Brücke in den Nahen Osten, Agent des Wandels in der islamischen Welt, ein Pendant zu den amerikanischen Ideen von Weltveränderung und regime change.«

Im neuen Hochgefühl wird der strategische Gegner USA brüskiert. Schröder ließ verkünden, die Nato spiele keine Rolle mehr; ihm gehe es um »eine strategische Partnerschaft mit Russland« und um den »Respekt« vor »Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen des Iran«. Die geplante Aufhebung des Waffenembargos gegen China ist ein Affront gegen den »parteiübergreifenden Konsens« der USA, »dass Chinas Aufstieg zur Großmacht die nächste große Herausforderung für die Vereinigten Staaten in Asien und in der Weltpolitik darstellt« (FAZ). Der Vize-Außenminister der USA, Robert Zoellick, droht »schwerwiegende Konsequenzen« an, falls »in einem möglichen Krieg mit China europäische Ausrüstung dabei helfen würde, Amerikaner zu töten«.

Viele finden Gefallen am Antiamerikanismus, darunter der DGB, Attac, die Wasg, die PDS und Oskar Lafontaine; Jürgen Habermas und Jaques Derrida proklamieren die »Wiedergeburt Europas«, indem »Kerneuropa« Souveränität erlangen müsse, weil »die moralische Autorität Amerikas in Trümmern liegt«. Aber nationaler Eroberungspatriotismus will nicht recht aufkommen. Als deutsche Bomben auf Belgrad fielen, stieg die Anzahl der Verweigerungen und Alte befürchteten die dritte Währungsreform. Vielen Deutschen fehlt noch die Reife für neue Weltmachtambitionen. Womöglich steckt ihnen Dresden in den Gliedern, oder der Schrebergarten.

Es gibt atomisierte Emporkömmlinge und Gruppen in Kampfjacken, aber auch Arbeiter, die auf ihren Daimler warten, und vielen ist die Sorge um Lebensunterhalt, Zahnersatz und Rente näher als der Sudan. Daneben wachsen antimodernistische Strömungen. In unsicheren Zeiten suchen sie Führung, feste Regeln und Exorzisten. Sollte die christlich-abendländische Wehr uns nicht besser vor Türken schützen? Niemand mobilisiert so viele Jugendliche wie der Papst. Noch mehr Nahrung für die CDU und die CSU, wodurch aber eines nicht verdeckt werden darf: Der Schaden, den die rot-grüne Epoche angerichtet hat, ist immens.