It’s the Economy, Münte!

Wer nur den Finanzsektor kritisiert, hat von Wirtschaft nichts begriffen. Denn dieser ist ein unverzichtbares Element des Kapitalismus. von georg dorn

Vor kurzem unkte Rainer Brüderle, der stellvertretende Partei- und Fraktionsvorsitzende der FDP, die Sozialdemokraten sollten schnell wieder zur Vernunft kommen, sonst landeten sie noch im Karl-Marx-Museum in Trier. Leute wie Brüderle blamieren sich regelmäßig, wenn sie den Namen Marx in den Mund nehmen und dabei so tun, als wüssten sie, worüber sie reden. Tatsächlich haben die Heuschreckenvergleiche des SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering weder mit Marx etwas zu tun noch mit einer Kritik am Kapitalismus. Es handelt sich schlicht und einfach um eine Schmutzkampagne. Allerdings um eine sehr gefährliche.

Für Müntefering mag es bloß Wahlkampfgeklingel sein, das er nach der absehbaren Niederlage in Nordrhein-Westfalen über kurz oder lang wieder sein lassen dürfte. Dass er die Wähler für dumm verkaufen will, ist kaum der Rede wert. Wirklich schlimm aber ist, dass er eine Stimmung getroffen hat, die sehr ernst genommen werden muss. Allerdings auf eine Art und Weise, die den meisten Kommentatoren gar nicht klar sein dürfte.

Müntefering nimmt einzig und allein das Finanz- und das Großkapital in die Kritik und vergleicht sie mit Heuschrecken, die angeblich gut gehende Betriebe aufkaufen und ausschlachten. Sie hält er für die großen Übeltäter, die allein an der Wirtschaftsmisere schuld seien, während er offenbar glaubt, dass der ganze Rest der Marktgesellschaft voll funktionsfähig sei, sofern dieser nur von besagten »Schädlingen« freigehalten werde.

Dahinter steckt eine grob vereinfachende Darstellung der ökonomischen Verhältnisse. Müntefering und seine Mitstreiter gehen in dieser vermeintlichen Kapitalismuskritik davon aus, dass sich die Vorgänge im Finanzsektor von den anderen ökonomischen Prozessen im Kapitalismus trennen und anschließend bekämpfen ließen. Das ist völlig falsch.

Der Finanzsektor ist vielmehr ein unverzichtbares Element des kapitalistischen Gesamtsystems. Er entsteht ganz von selbst, wenn Geldbesitzer ihr Vermögen nicht selbst direkt in die Produktion investieren können oder wollen. Sie lagern das entsprechende Geld dann in Form von Konten oder Wertpapieren wie zum Beispiel Aktien ein. Auf dieses Geld können anschließend Investoren zugreifen, die selbst nicht über das nötige Kapital verfügen. Große Projekte, für die niemand allein über genügend Mittel verfügt, werden auf diese Weise überhaupt erst möglich.

Wie man sieht, ist der Geldmarkt und die mit ihm verbundene Finanzspekulation eine unvermeidbare Erscheinung des Kapitalismus. Wie in allen gesellschaftlichen Bereichen kam es auch hier zu ständig fortschreitenden Differenzierungen. Es entstanden Aktienfonds, Warenterminbörsen, Hedge Fonds usw. Gerade die zuletzt genannten erscheinen unbedarften Zeitgenossen als besonders anrüchig, weil sie von fallenden Aktienkursen profitieren.

Aber ganz unabhängig davon, wie weit der Prozess der Differenzierung auch vorangeschritten sein mag, basieren die Gewinne auf dem Finanzmarkt letztlich auf den Investitionen in die reale Warenproduktion. Zinsen, Dividenden auf Aktien, Kursgewinne etc. sind im Kern nichts anderes als weitergereichter Profit allein aus diesem Bereich. Sie sind gewissermaßen Gebühren für das zur Verfügung gestellte Geld.

Der Geldmarkt ermöglicht es, auf künftige Gewinne zu spekulieren. Dabei geschieht es immer wieder, dass die Anleger jede Bodenhaftung verlieren und auf Einkünfte spekulieren, die die reale Warenproduktion selbst in 1 000 Jahren nicht erzielen könnte, selbst wenn alles glatt ginge und keinerlei Störungen auftreten würden – eine haltlose Annahme. Die Aktien und andere Papiere werden folglich in Höhen gejubelt, die von keiner realwirtschaftlichen Aktivität mehr gedeckt sind.

Faktisch sind es heute allein diese spekulativen Blasen, die Investitionen im entwickelten Kapitalismus überhaupt noch als rentabel erscheinen lassen. Allein auf der Grundlage der besagten irrationalen Gewinnerwartungen wird die reale Warenproduktion überhaupt noch in Gang gehalten. Eine drastische Einschränkung des spekulativen Sektors, wie sie Müntefering und anderen vorschweben mag, würde daher die Wirtschaftskrise enorm verschärfen und könnte sogar zum völligen Zusammenbruch führen.

Dieser Umstand spricht beileibe nicht für den Geldmarkt, sondern besagt nur, dass man das kapitalistische System und die Probleme, die es schafft, in seiner Gesamtheit im Auge behalten muss.

Dummerweise reagiert der unreflektierte und vermeintlich »gesunde« Menschenverstand um so wütender auf die Auswüchse des Kapitalismus, je weiter sie sich von der eigentlichen Grundlage in der Sphäre der Warenproduktion entfernen. Die Vorgänge im Rahmen der Güterherstellung werden als »gute und ehrliche Arbeit« aufgefasst, aber alles was mit Handel zu tun hat, gilt bereits als verdächtig. Wogen des Hasses schlagen regelmäßig dem Finanzkapital entgegen. Dem gemeinen Alltagsverstand erscheinen Vergleiche mit Heuschrecken oder Geiern nur zu oft als treffend. Im Hintergrund steht die Trennung zwischen einem guten »schaffenden« und einem schmarotzenden »raffenden« Kapital. Diese Unterscheidung ist gerade in rechtsextremen Kreisen sehr beliebt und wurde bereits von den Nazis verwendet.

Besonders stark in der Kritik stehen derzeit die Private Equity Fonds, die ihr Kapital wiederum vor allem aus amerikanischen Pensionsfonds beziehen. Diese kaufen gut gehende Unternehmen auf, nehmen auf deren Kosten hohe Kredite auf und führen damit drastische Optimierungsmaßnahmen in den frisch erworbenen Firmen durch. Unrentable Teile werden abgespalten und stillgelegt. In den anderen Teilen wird konsequent rationalisiert, wobei meist große Teile des Personals eingespart werden. Danach wird die im kapitalistischen Sinne veredelte Firma mit hohem Gewinn weiterverkauft.

Die populistische Kritik wirft diesen Fonds vor, die Firmen »auszusaugen« oder – wie der Heuschreckenvergleich nahe legt – »kahl zu fressen«. Es bleibt das Geheimnis dieser Art Kritiker, was die Kreditgeber und die Käufer der optimierten Firmen dazu veranlassen sollte, hohe Geldsummen herzugeben, wenn sie doch dafür angeblich nur reine Verwüstungen erhalten. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle wird die betreffende Firma tatsächlich in die Lage gebracht, auf dem Markt zu bestehen.

Im Grunde handelt es sich nämlich bei der Tätigkeit dieser Fonds um eine Finanzspekulation, in der darauf gewettet wird, ob es tatsächlich gelingt, den Marktwert einer Firma durch eine konsequente Umstrukturierung zu erhöhen. Dabei kann es natürlich auch passieren, dass die Fondsmanager sich verspekulieren und eventuell sogar pleite machen.

Egal ob unter der Regie eines Private Equity Fonds oder nicht: Wenn in der Spätphase des Kapitalismus Firmen für den Markt tauglich gemacht werden, dann kann auf Menschen keine Rücksicht genommen werden. Es ist nun einmal der irrationale Selbstzweck im Kapitalismus, aus Kapital mehr Kapital zu machen. Im Rahmen der Verfolgung dieses Selbstzwecks ist die kapitalistische Produktion in eine Abwärtsspirale geraten, die nicht mehr aufzuhalten ist. Am besten aufgestellt sind dabei diejenigen Betriebe, die ihre Produkte am kostengünstigsten anbieten können. Kostengünstig bedeutet vor allem, Produkte mit möglichst wenig menschlicher Arbeit herzustellen.

Dass sich die kapitalistische Gesamtproduktion bei diesem race to the bottom selbst die Luft abdreht, schert das jeweilige Einzelkapital nicht. Soll der Betrieb überleben, muss dieser Wettlauf mitgemacht werden, bei Strafe des eigenen Untergangs. Dabei ist es zweitrangig, ob die Anpassungsmaßnahmen unter der Regie eines anonymen Finanzinvestors oder beispielsweise des Betriebsgründers durchexerziert werden. Der Finanzinvestor kann zwar rascher und schonungsloser vorgehen, weil er gegen keinerlei persönliche Rücksichten ankämpfen muss, aber auch ein kleiner Unternehmer kommt letztlich nicht an den Maßnahmen vorbei, die ihm der irrationale Selbstzweck des Marktes aufnötigt. Dass er dabei mehr Herzblut vergießen mag als ein Fondsmanager, macht die Maßnahmen nicht besser. Die Finanzinvestoren mögen die Krise der Arbeitsgesellschaft allenfalls beschleunigen, ihre Ursache sind sie nicht.

Wenn man die Vorgänge im Spätkapitalismus und ihre schrecklichen Folgen für die Menschen wirklich kritisieren will, dann kommt man nicht an einer grundlegenden Kritik des abstrakten Selbstzwecks von Arbeit, Ware und Geld vorbei. So lange die Menschen ihr Überleben allein im Rahmen einer strukturellen Abhängigkeit von Geldeinkommen und von Arbeit sichern können, sind sie ständig bedroht. Die Gelegenheiten, dem Arbeitszwang zu folgen, sind im Schwinden begriffen. Jede technische Neuerung macht durch die Optimierung der Produktion mehr Arbeitsplätze überflüssig, als sie durch die neuen Produkte schafft, die sie mit sich bringt.

Das führt dazu, dass immer mehr Menschen aus der Arbeitsgesellschaft ausgespuckt werden und auf die immer spärlicher fließenden staatlichen Sozialtransfers angewiesen sind. In ihrer verzweifelten Lage suchen die meisten von ihnen nicht nach den tiefer liegenden Ursachen, sondern nach vermeintlich Schuldigen. Und die wiederum liefern ihnen Wahlkämpfer wie Müntefering frei Haus.

Deshalb ist es wichtig, die Zusammenhänge offen zu legen, die für die Misere von immer mehr Menschen tatsächlich verantwortlich sind. Die Ursachen sind ungeheuer schwer zu vermitteln, aber es gibt dazu auf lange Sicht keine humane Alternative. Damit endlich die Strukturen angegriffen werden – allen voran der allgegenwärtige Arbeitszwang – und nicht mehr die Menschen.