Aufrichtiger Aufstand

In Usbekistan wächst der Widerstand gegen das autoritäre Regime. Noch aber hat Präsident Karimow den Staatsapparat fest im Griff. von ute weinmann

Es war nur eine Frage der Zeit, dass die in Kirgisien nach den Parlamentswahlen im März ausgebrochene Protestwelle auf das benachbarte Usbekistan übergriff. Bereits Ende März setzten Landwirte in der Stadt Dzhizak zahlreiche Autos in Brand, um sich gegen staatliche Landenteignungen zu wehren. Anfang Mai demonstrierten in der Hauptstadt Taschkent Frauen, die von Sondereinheiten brutal niedergeprügelt worden waren.

Mitte Mai schließlich kam es in der im dicht besiedelten Ferghana-Tal im Osten des Landes gelegenen Stadt Andischan zu einem Aufstand. In der Nacht zum 13. Mai überfiel eine Gruppe Anhänger der halblegalen islamistischen Akramija, ausgerüstet mit kurz zuvor in einer Kaserne erbeuteten Waffen, das örtliche Gefängnis und befreite mehrere Hundert von insgesamt 4 000 Gefangenen. Danach besetzte ein Teil der Aufständischen das Gebäude der Stadtverwaltung, während sich bereits Zehntausende auf den Straßen versammelt hatten und den Rücktritt von Präsident Islam Karimow und seiner Regierung forderten.

Karimow schien auf eine solche Entwicklung vorbereitet gewesen zu sein, er ließ auf die Protestierenden schießen. Die usbekische Staatsanwaltschaft spricht von 169 Toten, Oppositionelle und Menschenrechtsorganisationen geben weitaus höhere Zahlen an. Die einzige Organisation in Usbekistan, die sich bemühte, eine gründliche Zählung in Andischan und dem Vorort Pachtaabad durchzuführen, ist die Oppositionspartei Ozod Dechkonlar (Freie Bauern). Ihre Mitglieder zogen von Haus zu Haus, um die Namen der Getöteten schriftlich festzuhalten. Die Parteivorsitzende Nigara Hidojatova sagte in der vergangenen Woche der Tageszeitung Izvestija, dass bislang 745 Tote gezählt worden seien, darunter auch Frauen und Kinder. Allerdings seien viele noch auf der Suche nach vermissten Angehörigen, die sich auf der Flucht nach Kirgisien befinden oder verhaftet worden sein könnten.

Die Ereignisse der vergangenen Tage kamen für Hidojatova alles andere als überraschend. Ihre Prognose lautet, dass in Andischan nach den Beerdigungszeremonien weitere Unruhen ausbrechen werden. Und wenn Karimow weiterhin entschieden gegen jeglichen lokalen Widerstand vorgeht, was anzunehmen ist, könnte die Bevölkerung in wenigen Wochen im ganzen Land ihrem Unmut Luft verschaffen.

Die Ozod Dechkonlar gründete sich im Dezember 2003 als Oppositionspartei. Die für eine legale Arbeit erforderliche Registrierung wurde ihr verweigert, dennoch verzeichnet sie etwa hunderttausend Mitglieder vorrangig im Ferghana-Tal. Sie versteht sich als säkular und bildet somit eine große Ausnahme unter den oppositionellen Bewegungen. Als sich zum Ende der Perestrojka eine nicht religiös ausgerichtete Opposition herausbildete, begannen sich gleichzeitig islamische Organisationen zu formieren. Damals verfügten die säkularen Parteien und Bewegungen über einen wesentlich größeren Einfluss.

Karimow setzte dieser Tendenz jedoch bereits 1993 ein abruptes Ende. Ein Großteil der führenden Oppositionellen erhielt Gefängnisstrafen oder war gezwungen zu emigrieren. Geblieben sind geschrumpfte, machtlose und in sich zerstrittene Bewegungen ohne Aussicht auf Legalisierung. Stattdessen konnten sich Parteien registrieren lassen, die sich durch die Treue zu Präsident Karimow auszeichnen und dessen Kontrolle unterstehen. Nur sie dürfen an den Wahlen teilnehmen.

Zu einer realen Bedrohung für das Regime entwickeln sich die stärker werdenden islamistischen Tendenzen. Im Gegensatz zu den Nachbarstaaten Kasachstan und Kirgisien, die traditionell durch nomadische Kulturen geprägt waren, dominierte in Usbekistan vor der Oktoberrevolution der Islam der Schriftgelehrten mit seinen Regeln der Sharia, der den Bedürfnissen der Milieus der Landwirtschaft und des städtischen Handels entsprach. Eine der bekanntesten islamistischen Gruppierungen war die noch vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstandene Islamische Bewegung Usbekistans, die beste Kontakte zu den Taliban in Afghanistan unterhielt. Mitte der neunziger Jahre begann der Aufstieg der Hizb ut-Tahrir (Partei der Befreiung). Sie wird auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion als terroristisch eingestuft, im Westen gilt sie nicht als gewalttätig.

Anstatt Anschläge zu organisieren, konzentrierte sich die Hizb ut-Tahrir auf die Verbreitung von Propaganda. Ihren Anhängern wurde ebenso der Prozess gemacht wie jenen, die auf eine religiöse oder regimekritische Haltung nicht verzichten wollen, sich jedoch von islamistischen Gruppierungen distanzieren. In der Sprache des Staatsapparates werden alle Unzufriedenen pauschal als Terroristen denunziert. Das Fehlen jeglicher Möglichkeiten für eine legale politische Betätigung und die wachsende Verelendung großer Bevölkerungsschichten führen jedoch eher zu einer Radikalisierung, als dass sie diese eindämmen würden.

Den Ereignissen in Andischan ging der Prozess gegen 23 Anhänger der Bewegung Akramija voraus, die unter ihrem Anführer Akram Juldaschew die Politik der Hizb ut-Tahrir fortsetzt. Juldaschew hat ein Buch mit dem Titel »Der Weg zum aufrichtigen Glauben« verfasst, das sich bei den Bewohnern des Ferghana-Tals wachsender Beliebtheit erfreut. Darin wird die Wiederbelebung islamischer Traditionen in Mittelasien und die Machtaneignung mit gewaltlosen Methoden auf lokaler Ebene propagiert, gestützt auf informelle Nachbarschaftsverbände, die in Usbekistan Machalja genannt werden und große Teile der Gesellschaft und des politischen Lebens im Land prägen.

Karimow sieht sich einer stärker verankerten islamisch-religiösen Opposition und einer wachsenden Protestbereitschaft in der Bevölkerung gegenüber, kann sich gleichzeitig jedoch in viel stärkerem Maße auf seinen Sicherheitsapparat und seine Beamten verlassen als sein ehemaliger kirgisischer Amtskollege Askar Akajew. Für eine »samtene Revolution« wie beim Machtwechsel in der Ukraine oder in Kirgisien fehlt jegliche Basis.

Wie in den anderen mittelasiatischen Ländern ist auch in Usbekistan der Staat ein Familienunternehmen, das vorrangig die Versorgung des eigenen Clans zum Ziel hat. Vetternwirtschaft und Klientelismus sind jedoch kein effektives Mittel für die Lösung der ökonomischen und politischen Probleme. Das Ferghana-Tal stellte mit seinem hohen Bevölkerungswachstum und den unzureichenden Wasser- und Bodenressourcen für Usbekistan bereits zu Sowjetzeiten ein enormes Problem dar. Für Präsident Karimow könnte es auf Dauer zum Verhängnis werden. Denn die Proteste haben ihr Potenzial längst nicht erschöpft.