Kamikaze 2005

Neuwahlen im Herbst von richard gebhardt

Obwohl dem rotgrünen Projekt mit der Wahl in Nordrhein-Westfalen auch noch im letzten Bundesland der Todesstoß versetzt wurde, ist der SPD mit der Ankündigung vorgezogener Bundestagswahlen im Herbst zumindest eine Überraschung gelungen: »Die Situation ist da«, meinte Konrad Adenauer einst. Während der Wahlsieg von Jürgen Rüttgers allgemein erwartet wurde, geriet das von Gerhard Schröder und Franz Müntefering im kleinen Kreis vorbereitete »Selbstmordkommando« (ARD) zum kurzen Sieg über den politischen Gegnern mit seinen Plänen.

Fraglich bleibt, auf welches Wählerpotenzial Schröder mit seiner Flucht nach vorn setzt oder ob sich Rot-Grün bereits auf einen Neuanfang in der Opposition einstellt. Längst schon ist den Sozialdemokraten nicht nur in Nordrhein-Westfalen die sozio-ökonomische Basis weggebrochen. In dem jahrzehntelang von der Kohle, dem Stahl und der Agrarwirtschaft geprägten Bundesland ist die Bundesagentur für Arbeit einer der größten Geldgeber, und ausgerechnet die Stammklientel der SPD, die Arbeiter und Arbeitslosen, stimmt mittlerweile für die CDU. Ihr Slogan »Genug ist genug!« reichte zur Bündelung der Unzufriedenheit aus.

Faktisch votierten Lohnabhängige für noch längere Wochenarbeitszeiten, Angestellte für noch weniger Kündigungsschutz und Langzeitarbeitslose für noch mehr soziale Kontrolle. Fast 40 Prozent der Wahlberechtigten blieben einfach zu Hause. Die sozialdemokratische Doppelstrategie ist gescheitert. Münteferings Klage über die »wachsende Macht des Kapitals« passte nicht zur Senkung der Körperschaftssteuer, statt des angekündigten Zuwachses an Arbeitsplätzen brachte Hartz IV nur die Enteignung der letzten Spargroschen.

Der rotgrüne Sieg von 1998 war nicht nur dem Überdruss am ewigen Kanzler Helmut Kohl und dem Wunsch nach Veränderung geschuldet. Verführerisch wirkten auch die Erfolgsversprechen der »Neuen Mitte« und der »New Economy«, die auch einen Aufschwung für größere Teile der Bevölkerung versprachen. Da Schröders Agenda 2010 aber etwa so erfolgreich war wie der Börsengang der Telekom, bleibt von der Aufbruchstimmung jener Jahre nur der Ärger über die Einführung des Dosenpfands.

Das rotgrüne Desaster bietet jedoch wenig Anlass zur Schadenfreude. Elektronische Fußfesseln für Langzeitarbeitslose, wie sie der hessische Justizminister Christean Wagner (CDU) forderte, geben einen Ausblick auf das Programm der bürgerlichen Mitte. Und mit der Krise des rotgrünen Projekts gerät auch das liberale agenda setting vorerst in die Defensive. Denn das Konzept einer »wertegeleiteten« Politik, wie es von Angela Merkel, der am Montag inoffiziell gekürten Kanzlerkandidatin der Union, vertreten wird, lässt ebenso wie Jürgen Rüttgers’ Bekenntnis zum angeblich überlegenen christlichen Menschenbild erwarten, dass in Zukunft auch der deutsche Wahlsieger aus dem Vatikan entscheidende gesellschaftspolitische Stichworte liefert.

Eine relevante emanzipatorische Opposition dagegen ist derzeit nicht in Sicht. Die in der Öffentlichkeit wahrnehmbare »Linke« wird heute von dem Bild-Kolumnisten Oskar Lafontaine, von der sozialdemokratischen Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit und einer von Gregor Gysi als im Westen gescheitert bezeichneten Ost-SPD repräsentiert.

Angesichts dieser Konstellation könnte es sein, dass die »rot-grüne Reformära« mit Homoehe und Autobahnmaut, Dosenpfand und Multikultidezernaten in gar nicht allzu ferner Zukunft zur guten alten Zeit verklärt wird, so wie derzeit der »rheinische Kapitalismus« von den Streitern für gerechtere Verteilung und maßvolle Managergehälter.