Kein Land in Sicht

Mit der bislang größten Demonstration, die Brasilia je gesehen hat, erinnert die Landlosenbewegung Präsident Lula an die versprochene Landreform.

Wir wollen den Haushaltsüberschuss essen«, stand auf einem der Transparente, die die Demonstranten auf einem Marsch von 17 Tagen durch Brasilien trugen. Am Dienstag der vorigen Woche erreichte der Protestmarsch von 12 000 landlosen Bauern, der am 1. Mai in der 200 Kilometer entfernten Stadt Goiania begonnen hatte, Brasilia. Die Veranstalter, die »Landlosenbewegung« (MST) sowie die Organisation Via Campesina, sprachen von 30 000 Menschen, die zum Abschluss durch die Hauptstadt zogen.

Im April 1997 hatte die MST einen ähnlichen Marsch organisiert und war nicht zuletzt dadurch zu einer wichtigen Stimme in der Landfrage avanciert. Der diesjährige »nationale Marsch für die Agrarreform« sollte die Regierung dazu bewegen, die versprochene Landreform voranzubringen, bevor die Amtsperiode von Präsident Luiz Inácio »Lula« da Silva im kommenden Jahr endet.

Nach seiner Wahl im Oktober 2002 versprach Lula, mindestens 430 000 landlose Familien anzusiedeln und 130 000 Familien Besitztitel für das Land zu geben, das sie bereits bewirtschaften. Bislang wurde nach Angaben der Regierung nur an 117 000 Familien Land verteilt, die MST spricht sogar von lediglich 80 000. Ein Teil davon hat dies nicht mal der Regierung Lula zu verdanken, sondern Programmen früherer Regierungen, die erst in Lulas Amtszeit in Kraft traten. Und mit der Vergabe von Land ist es nicht getan. Den meisten der neu angesiedelten Familien fehlt es an Wasser, Kredite sind kaum zu bekommen.

»Jetzt sind es nur noch zwanzig Monate bis zu den Neuwahlen und Hunderttausende Familien warten immer noch auf Land«, sagte der prominenteste Sprecher der MST, João Pedro Stedile, auf der Kundgebung. Die Regierung bemühe sich nicht ernsthaft um eine Agrarreform und habe zudem das Budget für die Reform um zwei Billionen Reais (etwa eine halbe Milliarde Euro) gekürzt, um Schulden zu tilgen.

In dieser Hinsicht kann Brasilien Fortschritte vorweisen. Ende 2004 betrugen die Auslandsschulden 203 Milliarden US-Dollar, was etwa 35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entsprach und um sieben Prozentpunkte unter dem Stand des Vorjahres blieb. Auch andere makroökonomische Daten sehen gut aus: Das Bruttoinlandsprodukt stieg im vorigen Jahr um 5,3 Prozent, die Handelsbilanz notierte einen Rekordüberschuss von 33 Milliarden US-Dollar. Ohne den Schuldendienst erwirtschaftete der brasilianische Staat einen Haushaltsüberschuss von 4,6 Prozent.

Diesen Überschuss sähen die Landlosen gerne auf ihrem Frühstückstisch, anstatt dass er, wie vom Internationalen Währungsfond (IWF) gefordert, für die Tilgung von Schulden verwendet wird. Der Überschuss ist nicht zuletzt eine Folge der Auflage des IWF, der vom hoch verschuldeten Brasilien eine deutliche Senkung der Ausgaben, selbstverständlich auch der Sozialausgaben, verlangt.

Die verbesserte wirtschaftliche Lage hat zwar in den industriellen Zentren neue Jobs geschaffen, die makroökonomischen Erfolge spiegeln sich aber nicht in einem größeren Massenwohlstand wider. Das sehen nicht nur linke Organisationen wie die MST so. »Der Regierung zufolge hat Brasilien wirtschaftliche Fortschritte gemacht und konnte seine Glaubwürdigkeit steigern. Nach dieser Lesart geht es Brasilien gut«, meinte Demetrio Valentini, der Bischof von Jales, kürzlich. Allerdings leide die Bevölkerung unter dem Schuldendienst, weil seinetwegen die Mittel für Gesundheit, Bildung und Infrastruktur gekürzt würden.

Am wenigsten verändert hat sich die Lage der Landlosen. Die Pastorale Landkommission CPT zählte in ihrem jüngst veröffentlichten Bericht für das vergangene Jahr 1 801 Konflikte, mehr als je zuvor in den 20 Jahren, in denen diese Daten gesammelt werden. Zwar wurden dem Bericht zufolge weniger Bauern ermordet, dafür nahm die Zahl der festgenommenen Aktivisten ebenso zu wie Zahl der Familien, die wegen gerichtlicher Entscheidungen von ihrem Land vertrieben wurden, und erreichte mit über 37 000 Fällen den höchsten registrierten Stand.

Die landwirtschaftlich nutzbaren Flächen sind in Brasilien so extrem ungleich verteilt wie in kaum einem anderen Staat. Mitte des 15. Jahrhunderts teilte der portugiesische König João III. Brasilien in 14 erbliche Landstücke auf und übergab sie Adligen zur Bewirtschaftung. Seitdem wird das Land ebenso von einer Generation zur nächsten weitergereicht wie die Bereitschaft zum Aufstand von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird. 3,5 Prozent der Bevölkerung gehören 56 Prozent des fruchtbaren Landes, während die ärmsten 40 Prozent nur ein Prozent besitzen.

In den vergangenen vierzig Jahren haben verschiedene Regierungen immer wieder eine Agrarreform versprochen. Den Anfang machte Mitte der sechziger Jahre der Juntaführer Humberto Castelo Branco, der per Dekret die Enteignung unproduktiver Böden ermöglichte. Verwirklicht wurde sie jedoch nicht. Ende der siebziger Jahre entstanden im Süden des Landes, wo eine Vielzahl kleiner Familienbetriebe existiert, Assoziationen von Kleinbauern, aus denen später die MST hervorgehen sollte.

Nach einigen zumeist niedergeschlagenen Landbesetzungen gelang es im Jahr 1981 einer Gruppe landloser Familien im südlichsten Bundesstaat Rio Grande do Sul, ein Lager am Straßenrand gegen die Militärpolizei zu verteidigen. Das Lager bei Encruzilhada Natalino wurde zum Symbol für die Notwendigkeit einer Agrarreform. Drei Jahre darauf wurde die MST gegründet, deren führende Aktivisten eine radikale Landreform propagierten, die sie unter kapitalistischen Bedingungen jedoch nicht für möglich hielten.

Auch der Forderungskatalog, den Vertreter des Protestmarsches vergangene Woche der Regierung übergaben, geht über eine Landreform hinaus und reicht von einem Verbot des Waffenhandels, dem Abzug der brasilianischen Truppen aus Haiti über die Enteignung von Ländereien, auf denen Sklavenarbeit festgestellt wird. bis zur Durchführung von Plebisziten, die verfassungsrechtlich möglich sind.

Angesichts des Lobes, das Lula für die Demonstranten übrig hatte, hielt er es offenbar für nebensächlich, dass der Protestmarsch vor seinem Präsidentenpalast von der Militärpolizei angegriffen wurde. »Ich bewundere die Fähigkeit der Organisation der Bewegung«, sagte er. Auch eine Kommission für den kontinuierlichen Dialog mit der MST will er gründen. Ansonsten aber war von ihm nichts Konkretes und Verbindliches zu hören. Allein der Minister für landwirtschaftliche Entwicklung, Miguel Rosetto, versprach, zusätzliche Haushaltsmittel für die Ansiedlung von 400 000 Familien bis zum Jahr 2006 bereitzustellen.

Die MST verlangt zudem neue Kriterien für die Produktivität eines Landstücks, die für die gesetzlich mögliche Enteignung von Land entscheidend sind. Über die jetzigen Kriterien, die 30 Jahre alt sind, sagt Marcelo Rodriguez, ein Vertreter der Landlosen aus dem Bundesstaats São Paulo: »Danach gilt ein Stück Land von einer Größe von einem Hektar schon als produktiv, wenn eine halbe Kuh darauf gehalten wird.« Nach den Maßstäben, die das Institut für die Landreform vorschlägt, fielen allein im Bundesstaat Goias alle Bauernhöfe, die Soja anbauen, unter den erforderlichen Produktivitätsindex. Dass eine Neubestimmung der Kriterien gegen den Widerstand der Großgrundbesitzer durchgesetzt werden müsste, liegt auf der Hand. Lula aber scheint einen solchen Konflikt nicht zu wollen.