Lieber süchtig als züchtig

Die Kampagne gegen das Rauchen ist das wichtigste Symbol für den Trend zum neopuritanischen Kontrollstaat. von jörn schulz

Howard Weyers ist 71 Jahre alt, aber er treibt noch fünf Mal pro Woche Sport. Er hat kein Übergewicht, und selbstverständlich verabscheut er das Rauchen. Dieser Lebensstil wäre nur die harmlose Schrulle eines Rentners, wenn Weyers nicht Unternehmer und von dem eisernen Willen beseelt wäre, seinen Angestellten die gleichen Sitten aufzuzwingen.

Seine Firma Weyco in Okemos, Michigan, verbietet auch das Rauchen in der Freizeit. Mit Urintests wird überprüft, ob die Angestellten sich an Weyers Doktrin halten. Dicke mag Weyers auch nicht, doch bedauerlicherweise verbietet es das Gesetz, sie zu entlassen. Sie werden dazu angehalten, Sport zu treiben und »freiwillig« abzunehmen.

In Deutschland hat der Staat die Führung, wenn es um den Erhalt der Gesundheit geht. Besonders die Öko-Puritanerin und Ministerin Renate Künast tut sich immer wieder mit neuen Kampagnen gegen das Rauchen, den Müßiggang und andere Unsitten hervor, die Deutschland schädigen. Den Zweck des Tugendterrors benennt sie offen: »Ernährung und Bewegung sind für die Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft von morgen keine weichen, sondern harte Standortfaktoren.«

Der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts stellt hohe Anfordderungen an die Lohnabhängigen. Noch in den neunziger Jahren gab es aufgeklärte Unternehmer, die gegen die 35-Stunden-Woche nichts einzuwenden hatten. Denn die Arbeitszeitverkürzung erleichterte eine Intensivierung der Arbeit, so dass die Lohnabhängigen in 35 Stunden ebenso viel oder sogar mehr leisten mussten wie zuvor in 40 Stunden. Heute aber sollen die Lohnabhängigen länger und intensiver arbeiten.

Das erfordert den Zugriff auf die gesamte Persönlichkeit. Denn auch wenn die Freizeit knapper wird, kann der Lohnabhängige noch viele Dinge anstellen, die seinen Leistungen am folgenden Arbeitstag abträglich sind. Deshalb soll er die Verpflichtung verinnerlichen, sein persönliches Verhalten auf das Gebot der Fitness einzustellen. Den Uneinsichtigen drohen Sanktionen. In 20 Bundesstaaten der USA ist es bereits legal, rauchende Lohnabhängige zu entlassen, in Deutschland wird über höhere Beiträge von Rauchern zur Krankenversicherung debattiert.

Der Kapitalismus schadet bekanntlich der Gesundheit. Es wäre jedoch der Produktivität abträglich, in der Gesundheitsförderung jene Risiken zu erwähnen, denen Lohnabhängige durch den Produktionsprozess und dessen Folgen ausgesetzt sind. Über das Gesundheitsrisiko Arbeit sprechen die Vertreter von Staat und Kapital nur ungern. Und als bekannt wurde, dass in Deutschland mehr als 60 000 Menschen pro Jahr am Feinstaub sterben, folgte dieser Erkenntnis nicht etwa eine Kampagne gegen asoziale Autofahrer, die unschuldige Kinder am Straßenrand mit Abgasen einnebeln. Finanzminister Hans Eichel befand vielmehr, die Diskussion werde »zu hysterisch« geführt. Sie könne dazu führen, dass die Leute weniger Autos kaufen. »Das Land braucht Mobilität und keine Feinstaubdiskussion«, entschied Wirtschaftsminister Wolfgang Clement.

Staatliche und unternehmerische Gesundheitspolitik konzentriert sich auf die Lebensweise des Lohnabhängigen. Wie alle Risiken im Kapitalismus wird auch das Risiko, krank zu werden, in den Bereich der individuellen Verantwortung geschoben.

Es ist zwar offensichtlich, dass es auch für gesundheitsschädliches individuelles Verhalten soziale, nicht zuletzt in derArbeitswelt zu findende Ursachen gibt. So ist die Quote der Raucher in erzieherischen Berufen, in denen der Stress besonders groß ist, und in Metall- oder Chemiebetrieben, wo der Umgang mit giftigen Stoffen zum Alltag gehört, höher als im Bundestag oder in den Chefetagen der Manager. Doch den Tugendterroristen gelten gesundheitsschädliche Gewohnheiten allein als Folge individueller Willensschwäche.

Sie zu überwinden, wird zur patriotischen Pflicht erklärt. Es geht nicht nur um die Steigerung der Produktivität und die Senkung der Gesundheitsausgaben im Dienste der Standortkonkurrenz. Mit der Individualisierung der Lebensrisiken im Kapitalismus geht eine Einschränkung der individuellen Freiheiten einher. Die Kampagne gegen das Rauchen ist das derzeit wichtigste Symbol für diese neopuritanischen und autoritären Tendenzen.

Sehr deutlich formuliert Weyers seine Ansprüche: »Sie arbeiten für mich, und das ist es, was ich erwarte. Sie mögen das nicht? Dann gehen Sie woanders hin.« In Deutschland lautet die Parole: »fördern und fordern«. Der Kapitalismus war zwar nie eine »Spaßgesellschaft«, in früheren Zeiten gab es jedoch zumindest ein Versprechen des Kapitalismus: Werde reich, dann kannst du jede Menge Spaß haben. Im 21. Jahrhundert dagegen kehrt der Kapitalismus zu seinen puritanischen Wurzeln zurück. Man wird reich, weil man seine Pflicht für das Vaterland (Deutschland) oder für Gott und das Vaterland (USA) tun will.

Insbesondere die deutsche Bourgeoisie hat die hohe Kunst kultiviert, sich als unterdrückte Minderheit darzustellen, die dennoch unermüdlich unter der Last einer hohen Verantwortung schuftet. In den USA gibt es noch Kapitalisten, die es wie Donald Trump sichtlich genießen, der herrschenden Klasse anzugehören. Andererseits ist in den USA der Neopuritanismus am weitesten verbreitet.

Vorbei sind die Zeiten, in denen der symbolische Gesamtkapitalist ein dicker Mann mit Zigarre war, dem man selbstverständlich unterstellte, dass er sich ständig im Bordell mit Champagner besäuft. Der zeitgenössische Kapitalist ist ein drahtiger Sportsmann, der am liebsten Wasser trinkt, wenn auch das teuerste.

In früheren Epochen wäre das undenkbar gewesen. Man kann dem französischen Adel des 18. Jahrhunderts viel vorwerfen, aber amüsiert hat er sich zweifellos. Im Feudalismus gab es viele Menschen, die gerne wie Adlige gelebt hätten. Selbst wenn sie es sich hätten leisten können, durften sie es nicht, denn der Adel war streng darauf bedacht, seine Exklusivität zu wahren. Die Bourgeoisie dagegen, die auf den Mythos angewiesen ist, dass jeder in ihre Reihen aufsteigen kann, hat die unangenehme Angewohnheit, die gesamte Gesellschaft nach ihrem Bilde formen zu wollen.

Unterstützung findet sie vornehmlich unter den aufstiegsorientierten Mittelschichten. Ob diese an die Erlösung durch Karottenkuchen und den Dalai Lama oder durch Joggen und die Bibel glauben, spielt nur eine untergeordnete Rolle. Sie bilden die Massenbasis des Tugendterrors.

Rauchen gilt bereits als Merkmal für die Zugehörigkeit zur Unterschicht. Es wäre sicherlich übertrieben, nun das Anzünden einer Zigarette zum Akt des proletarischen Widerstands zu stilisieren. Die gesundheitlichen Gefahren werden durch den Willen, sich gegen die vollständige Verwertung im Produktionsprozess zu wehren, leider nicht gemindert. Der neopuritanische Kontrollstaat ist jedoch eine Gefahr für die Bürgerrechte. Anders als die gewöhnliche staatliche Repression, die zumindest den Verdacht eines Verbrechens voraussetzt, greift die Kontrolle ständig in das Privat- und Intimleben ein.

Der Aufstieg einer neopuritanischen Bourgeoisie wirft jedoch noch eine andere Frage auf: Wozu ist ein Wirtschaftssystem gut, in dem nicht einmal mehr die herrschende Klasse ihren Spaß hat?