Quickies, Lügen und Videos

Mit Filmen von David Cronenberg, Atom Egoyan, Gus van Sant, Lars von Trier und den Dardenne-Brüdern hat Cannes das cinephile Pflichtprogramm erfüllt. von sulgi lie
Von

A Stairway to Heaven – das Plakatmotiv und der Trailer der 58. Filmfestspiele in Cannes griffen relativ unbescheiden nach den Sternen des Kinohimmels, und tatsächlich war der diesjährige Wettbewerb mit Autoren bestückt, die Cinephile normalerweise abheben lassen. Mit neuen Filmen von Regisseuren wie David Cronenberg, Atom Egoyan, Gus van Sant, Lars von Trier, Hou Hsiao-Hsien und den Dardenne-Brüdern bewies Cannes auf eindrucksvolle Weise seine absolute Vormachtstellung gegenüber Venedig und Berlin.

Verglichen mit dem Line-Up an der Croisette wirkt insbesondere der schwache Wettbewerb der Berlinale mittlerweile wie ein B-Event, obwohl mit typischen Festivalfilmen wie Amos Gitais unertäglichem Polit-Road-Movie »Free Zone« oder Robert Rodriguez’ zwar stylisher, aber sonst sinn- und hirnloser Pulp-Noir-Comic-Verfilmung »Sin City« auch schwache Beiträge zu sehen waren.

Doch bereits Led Zeppelin wussten ein Lied davon zu singen, dass nicht alles was glitzert, Gold ist – und im Fall von David Cronenberg muss man leider sagen, dass der kalte Oberflächenglanz seiner früheren Filme in seinem neuen Werk einer fast rustikalen Behäbigkeit gewichen ist – mit anderen Worten: »A History of Violence« markiert den Abstieg Cronenbergs vom Visionär des »Neuen Fleisches« zum Langweiler.

Dass sich der kanadische Regisseur von den technomorphen Körpermutationen seiner vorigen Filme abwendet, muss man ihm nicht unbedingt zum Vorwurf machen. Aber statt einer historischen Anthropologie der Gewalt, die der großspurige Titel ankündigt, liefert Cronenberg ein ödes Familiendrama ab, das filmisch noch um einiges konventioneller geraten ist als die Visualisierung einer schizoiden Psyche in seinem vorangegangenen Film »Spider«.

Was dabei herauskommt, ist die tiefgründige Einsicht in die »dunklen Seiten der menschlichen Natur«, wie es der Regisseur so schön im Presseheft verlautbaren lässt. Viggo Mortensen spielt einen braven Restaurantbesitzer, der mit seiner blonden Ehefrau und zwei netten Kindern ein mustergültiges Familienleben in einer Kleinstadt führt, bis er aus Notwehr zwei Verbrecher erschießt. Spielt der Film anfangs noch recht interessant mit dem klassischen Hitchcock-Motiv des unschuldig Beschuldigten, so kippt er spätestens mit der eindeutigen Aufdeckung von Mortensens früherer Killer-Identität ins vollends Lächerliche. Die komödiantische Legierung der Gewaltszenen könnte abgegriffener gar nicht sein; Cronenberg versucht hier allen Ernstes an einen Stil anzuknüpfen, von denen sich etwa die Coen-Brüder bereits Mitte der Neunziger verabschiedet haben. Nach einem eruptiven Quickie bleibt Mortensen völlig kaputt im Treppenhaus liegen – eine schöne Metapher für den ganzen Film: »Old Meat« statt »New Flesh« .

Weitaus differenzierter geht Michael Hanekes »Caché« (Hidden) vor. Auch hier bricht die Gewalt als Ausdruck einer verdrängten Vergangenheit in die heile Welt einer bürgerlichen Famile ein, allerdings interessiert sich Haneke weitaus mehr als Cronenberg für das politisch Unbewusste der Gewalt. Dabei ist die Ausgangsidee des Films ziemlich dreist von David Lynchs »Lost Highway« geklaut: Daniel Auteil als arrivierter Pariser Fernsehmoderator und Juliette Binoche als seine Frau und erfolgreiche Verlegerin werden mit anonymen Hidden-Camera-Videos ihres Hauses konfrontiert. Während die Tapes in »Lost Highway« immer weiter in das Innere der Räume vordringen, führt die Videospur Auteil zurück zum traumatischen Ereignis seiner Kindheit, als er den algerischen Adoptivsohn seiner Eltern aus Rassismus und Neid verleumdete und damit desssen Leben zerstörte. Hanekes Film bezieht seine Stärken weniger aus seiner doch recht simplen politischen Symptomatologie, die hier wie so oft beim österreichischen Regisseur ein wenig zu schematisch daherkommt, in ihrer binären Gegenüberstellung von Klassen- und Rassenhierarchien. Auch das medienskeptische Oszillieren zwischen Film- und Videobildern kennt man aus seinen früheren Arbeiten wie »Benny’s Video« und »Funny Games«. »Caché« besticht in erster Linie als exzellenter Schauspielerfilm; in Daniel Auteils Figur wird hinter der Maske des liebenden Familienvaters und Ehemanns immer wieder die Eiseskälte des bürgerlichen Subjekts spürbar.

Weit entfernt von allen bürgerlichen Milieus widmen sich die belgischen Dardenne-Brüder in »L’Enfant« ein weiteres Mal den Randzonen der Ökonomie. Mit der für die Dardennes typischen Lakonie heißt es im Press-Kit: »Bruno, 20. Sonia, 18. Sie leben von Sonias Ersparnissen und den Diebstählen von Bruno und seiner Kindergang. Sonia hat gerade Jimmy geboren, ihr gemeinsames Kind. Wie kann Bruno ein Vater werden, so sorglos und nur für die Gegenwart lebend, nur interessiert am Geld aus seinen Deals?« Bruno, dem Jérémie Renier in Fortsetzung seiner Figur aus »La Promesse« eine großartige Präsenz verleiht, ist ein kleinkrimineller Allesverwerter. Auf Arbeit hat er keinen Bock, denn »only fuckers work«, wie er weiß, aber in seiner eigenen Mikroökonomie hat er es zu einer gewissen Professionalität gebracht. Stets mit Handy ausgerüstet, verwandelt er unmittelbar in bare Münze, was ihm an Diebesgut in die Hände fällt. Die Art und Weise, wie die Dardennes immer wieder das Ritual des manuellen Tauschaktes ins Bild rücken, erinnert an Robert Bressons letzten Film »L’Argent«, ein anderer großer Film über fatale monetäre Zirkulation.

Die Herrschaft des Tauschgesetzes ist total, und folgerichtig verkauft Bruno das eigene Baby prompt für 5 000 Euro zur illegalen Adoption. In der materialistischen Perspektive der Dardennes gibt es keine Moral, die der Tauschäquivalenz vorausgeht – im Gegenteil sehen sie die Erosion von Moralität unter ökonomisierten Bedingungen als gegebene Tatsache an. Für die Ware-Geld-Monade Bruno ist ein Kind nichts, was sich nicht wieder ersetzen ließe. Als Sonia zusammenbricht, nachdem sie von seiner Tat erfahren hat, entgegnet er ihr: »We can make another one!« Obwohl ihm der Schock seiner Freundin gänzlich unbegreiflich bleibt, versucht Bruno ihretwegen den Verkauf des Kindes rückgängig zu machen, als sie die Polizei einschaltet. Bruno bekommt das Baby wieder, aber bald darauf fordern die Kinderhändler von ihm eine finanzielle Entschädigung. Nun beginnt sein Abstieg und seine Isolation, und diese sind im Body Cinema der Dardennes ein Fall der Körper.

Wie immer bei den Dardennes entäußert sich auch »L’Enfant« mit Haut und Haaren an den physischen Zuständen seiner Akteure. Die kindliche Vitalität des Paares zu Beginn des Films weicht immer mehr der Agonie der Körper. In einer erschütternden Szene verstecken sich Bruno und sein minderjähriger Kompagnon Steve nach einem Diebstahl im eiskalten Flusswasser vor den Verfolgern. Steve bekommt einen Krampf, und nur mit allergrößter Anstrengung gelingt es Bruno, ihn wieder aus dem Wasser zu ziehen. Die Schwerkraft von erschöpften Körpern erlaubt auch dem Zuschauer keinerlei kognitive Distanz. Der mimetische Realismus der Dardennes setzt ganz auf somatische Empathie. Und so beginnt nach dem Fall der Körper auch bei Bruno, dem Amoralischen, die Humanität zu erwachen. »L’Enfant« endet mit einem herzzerreißenden Affektbild, das deutlich an das Ende von Bressons »Pickpocket« gemahnt. Aber im Gegensatz zur Theologie Bressons gibt es im bedingungslosen Materialismus der Dardennes keine Erlösung. Es gibt nur die Notwendigkeit des bloßen Lebens. A Stairway to Heaven? Gewiss nicht, eher ein Sturz ins Reale des Lebens.