Das Bild war eine Lüge

In Argentinien hat der Prozess gegen Polizisten begonnen, die an der Ermordung von Piqueteros beteiligt gewesen sein sollen. Die politisch Verantwortlichen werden nicht zur Rechenschaft gezogen. von jessica zeller

Wir müssen die Sache aufklären, ganz egal, wem es dabei an den Kragen geht.« Mit diesen Worten empfing der argentinische Präsident Nestór Kirchner im Juli 2003 die Familienangehörigen und Mitkämpfer der Piqueteros Dario Santillán und Maximilian Kosteki. Die beiden organisierten Arbeitslosen waren am 26. Juni 2002 bei einem Polizeieinsatz auf der Brücke Pueyrredón, die die Provinzstadt Avellaneda von der Hauptstadt Buenos Aires trennt, erschossen worden. Weitere 33 Menschen wurden angeschossen und 127 Menschen festgenommen.

Dem damaligen Präsidenten Eduardo Duhalde nahe stehende Angehörige des Geheimdienstes und konservative Landes- und Provinzpolitiker plädierten dafür, die sozialen Proteste, die seit Dezember 2001 zum Alltag in Argentinien gehörten, gewaltsam niederzuschlagen. Seit dem 17. Mai stehen jedoch nicht Duhalde und seine Mitstreiter vor Gericht. Stattdessen wird in dem Verfahren von einigen »durchgedrehten« Einzeltätern ohne politischen Hintergrund ausgegangen. Vor Gericht stehen die mutmaßlichen Mörder Alfredo Fanchioti und Alejandro Acosta, zwei höhere Polizeibeamte der Provinz Buenos Aires und fünf weitere Polizisten.

Fest steht aber, dass viele politisch Verantwortliche von den Plänen zur Räumung der Brücke Pueyrredón in Kenntnis gesetzt worden waren. Wahrscheinlich ist, dass der Polizeieinsatz sogar von ganz oben angeordnet wurde.

»Ich fühle mich ausgenutzt von Kirchner. Er hat mir im Oktober 2003 versprochen, dass innerhalb weniger Tage eine Untersuchungskommission eingerichtet wird. Die gibt es aber bis heute nicht. Stattdessen gehen die Verantwortlichen straflos aus«, sagte Alberto Santillán, der Vater des ermordeten Dario, bereits im Januar dem alternativen Journalistenkollektiv Argentina Arde. Wütend ergänzte er: »Sein Foto mit mir war eine Lüge.«

Kirchner ließ sich damals Arm in Arm mit Alberto Santillán fotografieren. Er versprach baldige Einsicht in alle staatlichen Akten und einen schnellen Prozess, in dem nicht nur die Täter, sondern auch die politisch Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden würden. Doch dazu sollte es nicht kommen. Das Verfahren gegen Fanchioti und Acosta und die anderen Polizisten fand nicht wenige Monate nach den Schüssen, sondern wesentlich später statt, und Einsicht in staatliche Archive, insbesondere in die des Geheimdienstes Side, wurde nie gewährt. Die politisch Verantwortlichen der Tat sind im Prozess nicht einmal als Zeugen geladen.

Ob es Kirchner tatsächlich jemals um eine Verurteilung aller Täter und Befehlshaber ging, ist fraglich. Der politische Einfluss auf die in großen Teilen reaktionäre und korrupte Justiz Argentiniens ist begrenzt. Erst vor wenigen Monaten wies sogar der Oberste Gerichtshof, der als Kirchner zugeneigt gilt, die Kritik des Präsidenten an der Freilassung von Omar Chabán gegen Kaution zurück. Chabán ist Inhaber der Diskothek, in der, bei einem Brand im Januar, wegen mangelnder Sicherheitsvorkehrungen mehr als 200 Personen ums Leben kamen. Wichtiger als die mangelhaften rechtsstaatlichen Strukturen scheint im Fall der Schüsse auf der Brücke Pueyreddón jedoch die politische Taktik des Präsidenten zu sein. Kirchner wollte trotz aller politischen Symbolik den Konflikt »aussitzen«.

Dass der Prozess überhaupt zustande kam, ist nämlich nicht dem Präsidenten zu verdanken, sondern den Piqueteros und den Familienangehörigen. Sie ließen nicht davon ab, jeden Monat am 26. die Brücke Pueyrredón, die eine zentrale Zufahrtsstraße nach Buenos Aires ist, zu besetzen und Gerechtigkeit zu fordern.