Free Jazz in Birkenstock

Eine neue Doppel-CD verspricht Free Jazz, vermeidet es aber, die Radikalität dieser Musik zu betonen. von felix klopotek

Neocons« – ein gutes Jahrzehnt, bevor diese Bezeichnung mit einer Fraktion der US-amerikanischen Administration in Verbindung gebracht wurde, gab es schon mal einen Hype um diesen Begriff. Natürlich in einem ganz anderen Zusammenhang, die Rede ist vom Jazz.

Anfang der neunziger Jahre wollte der Clan um den Trompeter Wynton Marsalis, den Jazzologen Albert Murray und den Journalisten und ehemaligen Musiker Stanley Crouch den Jazz, vielleicht kann man das so sagen: rekonstruieren. Die siebziger und achtziger Jahre galten ihnen als im Großen und Ganzen verlorene Jahrzehnte, und die Sechziger wurden ganz verteufelt, denn damals fand der Sündenfall statt: erst der Free Jazz, dann der Jazzrock. Die Errungenschaften des BeBop und der modalen Spielweise seien preisgegeben worden, Dilettantismus und ein völlig überhitzter politisch-utopischer Anspruch (Free Jazz) respektive der Ausverkauf vor einem rockverblödeten weißen Publikum (Jazzrock) hätten Einzug gehalten. Nichts Relevantes hätten diese Musiken hinterlassen, mehr noch: dem Jazz als Kultur, als Haltung, als Ausdruck schwarzer Emanzipation (nicht: schwarzer Revolution!) großen Schaden zugefügt.

Große Güte, was sind die Neocons smart gewesen! Murray und Crouch sind exzellente Schreiber und Marsalis ein teuflisch guter Trompeter. Vor fünf Jahren erschien eine Sieben-CD-Box mit Livemitschnitten seines Septetts (»Live At The Village Vanguard«). Es ist hier der großartigste klassizistische Jazz nach dessen klassizistischer Phase zu hören, (fast) alles Wichtige der fünfziger und sechziger Jahre ist hier aufgehoben, der irrwitzige BeBop, der robuste Hardbop, die Musik der legendären Miles-Davis-Quintette, der Mingus-Gruppen kurz vor Mingus‚ der Big-Band-Experimente. Aber gleichzeitig ist der Gestus dieser Musik vornehm angestaubt, mehr noch: surreal, wie ein Wal, der plötzlich im Rhein vor Köln auftaucht.

Vor lauter Verwunderung über Marsalis vergisst man beinahe, wie viel Relevantes der Free Jazz tatsächlich hinterlassen hat und wie großartig der Jazzrock eines Miles Davis in Wirklichkeit ist. Stanley Crouch übrigens war selbst einmal Free Jazzer, in den siebziger Jahren, ein wirklich guter Musiker war er freilich nicht.

»New Thing!«, jüngst auf dem konsequent eklektizistischen Londoner Label Soul Jazz erschienen und von dessen Mitinhaber Stuart Baker zusammengestellt, ist eine Compilation, wie sie sich die Neocons nicht besser hätten ausdenken können. Die Frage ist allerdings, ob als Angstvision und Albtraum oder als diabolischer Schachzug. »New Thing« war Mitte der sechziger Jahre das Codewort für Free Jazz. »Free Jazz« war ja zunächst ein Albumtitel. Ornette Coleman hatte eine Großkomposition für Doppelquartett 1960 so genannt, oder, man weiß es nicht so genau, vielleicht war es auch die Plattenfirma, die das berühmt-berüchtigte Album so betitelte. »New Thing« dagegen klang für viele schön offen, hatte gewisse Marketingeffekte, vielleicht sogar eine ironische Note. Und überhaupt, die jungen Ikonoklasten waren sich gar nicht im Klaren darüber, ob ihre Musik überhaupt noch Jazz ist oder sein soll oder ob sie vielleicht doch schon etwas ganz anderes ist.

»New Thing!«, die Compilation, ist jedenfalls keine Free-Jazz-Retrospektive. Es geht hier um die Zeit unmittelbar nach dem Free Jazz. Der Titel ist also schlicht Etikettenschwindel. Der US-amerikanische Free Jazz war, als breit rezipierte Strömung, 1968 erledigt. Sehr viele Avantgardisten wanderten nach Paris aus, wo man sie willkommen hieß und wo sie die vielleicht radikalsten und durchgeknalltesten Platten des afroamerikanischen freien Jazz aufnahmen, andere Wegbereiter des Free Jazz gaben zu dieser Zeit die Musik ganz auf.

Wer dagegen in den Staaten weiter machen und dabei gehört werden wollte, musste sich etwas überlegen. Und einige dieser Überlegungen finden sich auf »New Thing!« Dokumentiert sind die Momente, als ein unbekümmerter und kompromissloser Experimentiergeist in eine populäre Form überging – Soul, Funk, Blues, Gospel bilden die Grundierung der hier versammelten Musik. Das »Experimentelle« bzw. die Geräusche und Spielweisen, die damit identifiziert werden, nehmen eher die Rolle eines Gimmicks, einer exotischen Beigabe ein. Umwoben ist die Musik von einer hocheklektizistischen Ideologie, die das Spirituelle das Free Jazz noch mal überdreht. Die »Universal Love«, die einem auf vielen Tracks der Doppel-CD entgegenweht, ist dann letzlich nicht viel mehr als bloßes Ornament.

Das beste Beispiel dafür ist Alice Coltranes Interpretation von »A Love Supreme«, der ohnehin überbewerteten Komposition ihres Mannes John Coltrane. Alles, was am Original schon fragwürdig war – der religiöse Kitsch, die virtuose Monotonie –, ist hier ins Groteske überzeichnet. Irgendjemand predigt, es gibt einen kaum erträglichen Auftakt mit Streichern. Die Pointe aber ist: Das Stück fängt sich, findet zu einem prägnanten und trockenen Groove, über den erst Alice Coltrane an der Orgel und dann der Violinist Leroy Jenkins konzentriert und doch hingebungsvoll improvisieren. Unter dem Schund schimmert richtig gute Musik.

Ein Albtraum aller Neocons stellt diese CD respektive die Musik insofern dar, als tatsächlich demonstriert wird, wie produktiv und, nun ja, anschlussfähig der Aufbruch der sechziger Jahre war. Free Jazz war keine Sackgasse, sondern bereicherte das Formenrepertoire des Jazz ungemein. Andererseits gab es Kitsch, Belangloses, unreflektierten Eklektizismus, oftmals – siehe Alice Coltrane – im direkten Zusammenhang mit einer geglückten Improvisation. Wer will, kann auf »New Thing!« die Zerfallsgeschichte des eigentlichen New Thing hören, und die Neocons können sich vielleicht doch beruhigen: Hört her, unterm Strich bleibt nur Banales!

Es stimmt ja auch, auf dem Sampler vertretene Musiker wie Lloyd McNeil, Travis Biggs oder Robert Rockwell III sind nicht zu Unrecht vergessen. Dagegen stehen großartige Tracks vom Art Ensemble of Chicago, Archie Shepp, Sun Ra oder Eddie Gale (der tatsächlich zu Unrecht vergessen ist).

Somit ergibt sich ein permanentes »Einerseits – Andererseits«, aber das liegt nur partiell an der Musik, zum großen Teil ist der Produzent Stuart Baker an dieser prozessierenden Ambivalenz schuld, da er nicht das Homogene und Konsistente, sondern das Exotische gesucht hat. Der Loft Jazz z.B. spielt hier überhaupt keine Rolle. Das war eine Szene, die hauptsächlich auf den genialen Saxofonisten und Komponisten Sam Rivers zurückging, der Mitte der siebziger Jahre sich anschickte, behutsam, aber sehr bestimmt, dem Free Jazz verlorenes Terrain zurückzuerobern. Rivers und seine Leute demonstrierten, dass freie Improvisation und komplexe Kompositionsmodelle sich nicht ausschließen müssen. Stanley Crouch stammt ursprünglich aus dieser Szene.

Die Aktivitäten der schwarzen Chicagoer Musikerkooperative Association for the Advancement of Creative Musicians tauchen ebenfalls bloß am Rande auf. Von Sun Ra wird ein Track aus den Fünfzigern ausgewählt und eben keiner aus seiner freiesten Phase, den Siebzigern. Die Pariser Exilantenszene kommt nur in der Person Archie Shepps vor.

Das Coverdesign und die vermittelnden Linernotes der CD sorgen dagegen für ein einheitliches Erscheinungsbild. Tatsächlich ist dieser Überblick mit seinen starken und schwachen Tracks komplett ahistorisch. Zur Klärung der Frage, ob es mitten in den überhitzten Siebzigern auch noch guten Jazz gab, trägt er kaum bei. Es bleibt das Schwankende, Bizarre: Ist der Sammler und seine Musik nun ein Gegengewicht zu dem Purismus-Gefuchtel der Neocons, oder wird genau das repräsentiert, weswegen diese zu Recht ihre Nase gerümpft haben?

»New Thing«, Soul Jazz Records