Gott weiß alles

Und die Online-Enzyklopädie Wikipedia auch. Wie im Himmel gibt es auch dort keine Werbung. von elke wittich

Der Wunsch, alles vorhandene Wissen zu speichern, ist ungefähr so alt wie die Kunst des Schreibens. Bereits Aristoteles versuchte, alle Kenntnisse seiner Zeit zu sammeln, 400 Jahre später schrieb Plinius der Ältere ebenfalls alles auf, was damals bekannt war. Im 9. Jahrhundert schrieb der Chinese Tu Yu eine Enzyklopädie des Wissens seiner Zeit. Diderot und d’Alembert benötigten für die Fertigstellung ihrer »Encyclopédie ou Dictionnaire Raisonné des Sciences des Arts et des Métier« insgesamt 29 Jahre.

Das One-Smart-Guy-Prinzip, also die Schaffung eines Werks durch einen umfassend gebildeten Einzelnen, wurde mit dem Beginn der industriellen Revolution und der damit verbundenen Spezialisierung durch kollektive Arbeit ersetzt. Die Herausgeber der Encyclopaedia Britannica beschäftigten ausgewiesene Experten auf den jeweiligen Gebieten, die allein oder in kleinen Gruppen die jeweiligen Stichwörter bearbeiteten.

Ein Problem aber war allen Wissenssammlungen gemein: Sowie sie zu Papier und an den Leser gebracht waren, waren viele der darin enthaltenen Fakten häufig schon überholt.

Ein Nachschlagewerk zu produzieren, in dem täglich die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse und politischen Entwicklungen vermerkt werden könnten, beabsichtigten die Herausgeber der Encyclopaedia Britannica. Im Januar 2001 kam es dazu, aber ganz anders, als es sich die kommerziellen Verleger vorgestellt haben dürften.

Damals hatte die Webpage www.wikipedia.com offiziell ihren Auftritt, deren Konzept ebenso einfach wie neuartig war: User sollten für andere User die größte und dazu noch kostenfreie Online-Enzyklopädie erstellen. Jeder, der Lust und Zeit hatte, sollte selbständig Stichworte erstellen und mit Inhalten ergänzen können.

Das Recht, eine Webpage zu ändern, war seit der Entstehung des Internets bestimmten Personen vorbehalten, bis der Software-Entwickler Ward Cunningham mit einem speziellen Programm im Jahr 1995 das Editieren für jeden möglich machte.

»WikiWikiWeb« nannte er seine Erfindung, aber wer glaubt, er habe mit dem Namen womöglich Wickie, den kleinen Zeichentrick-Wikinger, ehren wollen, irrt: »Wiki-wiki« ist Hawaiianisch und bedeutet »schnell-schnell«. Cunningham hatte das Wort auf einem Zubringer-Bus am Flughafen von Honolulu gesehen.

Bis die Möglichkeit raschen Editierens für das größte internationale Nachschlagewerk des Internets genutzt wurde, sollte es jedoch noch etwas dauern. Drei Jahre, um genau zu sein, denn 1996 gründete der Texaner Jimmy »Jumbo« Wales das Start-up-Unternehmen Bornis, das unter anderem eine Suchmaschine entwickeln sollte. Damals hörte er erstmals von Open Source und fragte sich, was engagierte User außer Software wohl noch entwickeln könnten.

Zuvor war die von ihm initiierte kostenlose Online-Enzyklopädie Nupedia gefloppt. Die von Wales angestellten teuren Experten und Wissenschaftler hatten monatelang an ihren Stichworten gearbeitet, ohne auch nur ein halbwegs präsentables Ergebnis zu liefern.

Im Januar 2001 startete er dann Wikipedia, das von ihm aufgestellte Grundprinzip für die Einträge hat sich seither nicht verändert: Jeder, der Lust hat, darf über ein Thema schreiben, allerdings sollen die Einträge so objektiv wie möglich sein.

»Wikipedia repräsentiert so etwas wie den Glauben an die Überlegenheit des Verstandes und an das Gute im Anderen. Im Wikipedia-Ideal werden die guten Menschen zwar manchmal unterschiedliche Meinungen über etwas haben, doch aus dem von gegenseitigem Respekt geprägten Aufeinandertreffen verschiedener Auffassungen und dem kombinierten Wissen vieler kommt so etwas wie die Wahrheit heraus. Meistens.«

Beschwerden von Kritikern werden von den »Wikivangelists«, wie Autor Paul Boutin die Fans der Enzyklopädie nennt, einfach ausgekontert: »Wenn du unter irgendeinem Stichwort einen Fehler entdeckt hast, hör auf, dich darüber zu mokieren, und verbessere ihn halt selber!«

Darüber hinaus funktionieren die Selbstheilungskräfte bei Wikipedia besser als bei vielen Seiten, die nur von wenigen Personen geändert werden können. Jeder registrierte und eingeloggte User kann die Themen bzw. Stichworte seiner Wahl auf eine »Watchlist« setzen, und wann immer jemand etwas ändert, wird er umgehend benachrichtigt. Entsprechend wenig Zeit vergeht, bis der vorherige Zustand des Lexikonartikels wieder hergestellt ist. Bei Löschung eines Textes dauert es maximal 2,8 Minuten, bis jemand dessen ursprünglichen Zustand wiederhergestellt hat. Werden obszöne Worte eingesetzt, sind es sogar nur 1,7 Minuten, wie ein User erfahren musste, der es sich vor einigen Monaten zur Aufgabe gemacht hatte, die englischen Eintragungen zum Thema Islam gegen Fourletterwords auszutauschen. Nach mehreren erfolglosen Versuchen, bei denen seine Einträge schneller gelöscht wurden, als er auf »Reload« drücken konnte, gab er schließlich ganz einfach auf.

Manchmal funktioniert aber auch bei Wikipedia nicht alles. Im letzten US-amerikanischen Wahlkampf sahen sich die Betreiber wegen der Dauerattacken so genannter Edit-Warriors gezwungen, die Einträge zu George W. Bush und seinem Herausforderer John Kerry nicht länger veränderbar zu machen. An der Startseite darf schon seit geraumer Zeit nicht mehr jeder herumfummeln – bei Wikipedia hat schließlich noch nie das Gleichheitsprinzip gegolten. Die Rechte sind, so beschreibt es Daniel H. Pink in einem Artikel der Zeitschrift Wire, in Form einer »egalitären Pyramide« verteilt.

Deren Basis bilden die anonymen User, die nur ab und zu Einträge schreiben und lediglich anhand ihrer IP-Nummern identifiziert werden können. Auf der nächsthöheren Stufe stehen diejenigen, die sich registriert haben und Nicknames tragen, unter denen sie nicht nur ihre Einträge vornehmen, sondern auch im User-Forum aktiv sind.

Relativ weit oben in der Hierarchie stehen insgesamt 400 Administratoren, die unter anderem Artikel ganz löschen, Seiten und Nutzer sperren und bestimmte IP-Adressen blockieren dürfen. Nur 57 Menschen, die so genannten Developers, die Entwickler, haben das Recht, die Software und die Datenbank zu ändern. Eine Art Schiedsgericht ist schließlich dafür zuständig, Streitfälle innerhalb der Community zu schlichten und namentlich bekannte User zu sperren.

Das Prinzip von Wikipedia scheint gut zu funktionieren, die englischsprachige Webpage brachte es kürzlich auf den halbmillionsten Eintrag. Zum Vergleich: In der Enyclopaedia Britannica sind 80 000 Stichworte verzeichnet. Insgesamt wurden bisher 1,3 Millionen Einträge in den in 75 Sprachen vorhandenen Wikipedia-Seiten verzeichnet – die jüngsten Neuzugänge sind Nachschlagewerke auf Kurdisch und Esperanto.

Und dem Erfolg des Online-Projekts scheinen auch weiterhin keine Grenzen gesetzt zu sein: Die auf CD und DVD erhältliche Offline-Ausgabe war kommerziell erfolgreich, der deutsche Verlag Directmedia, der bislang vor allem geisteswissenschaftliche Texte auf elektronischen Datenträgern produziert hat, plant eine Taschenbuchreihe unter dem Namen »Wiki-Press«. Die monothematischen Bücher sollen von besonders aktiven Usern herausgegeben werden.

Die Idee wird derzeit in den Foren sehr kontrovers diskutiert – vom erzielten Gewinn soll dabei auf jeden Fall Geld an die Community zurückfließen, damit unter anderem neue Server finanziert werden können.

Die Verbreitung und der Bekanntheitsgrad von Wikipedia dürfte zudem durch die geplante Kooperation mit Yahoo rasant zunehmen. Beide Partner kündigten bereits im April an, dass Yahoo in einem asiatischen Rechenzentrum des Suchmaschinen-Betreibers »eine bedeutende Anzahl Server« für Wikipedia zur Verfügung stellen werde. Außerdem platziert Yahoo seit Anfang Mai Wikipedia-Einträge zu Ländern an prominenter Stelle. Gibt jemand beispielsweise das Stichwort »Japan« ein, werde zuallererst der entsprechende Eintrag der Online-Enzyklopädie erscheinen. Weitere Themengebiete sollen nach und nach folgen.

»Wikipedia demonstriert die Möglichkeit, hochqualitative Inhalte zu schaffen und zu verwalten«, erklärt der Vizepräsident von Yahoo, David Mandelbrot, »das Wachstum dieses freien Angebots zu unterstützen, deckt sich mit unserem Ziel, Menschen beim Suchen und Nutzen von Online-Inhalten zu helfen.«

Der Gründer von Wikipedia, Jimmy Wales, betonte, dass die Online-Enzyklopädie dabei in Form und Ausrichtung jedoch unverändert bleiben werde, der Inhalt des Nachschlagewerks bleibe weiterhin unabhängig, auch werde keine Werbung geschaltet. Außerdem arbeite man auch weiterhin mit dem Yahoo-Konkurrenten Google zusammen, der ebenfalls verstärkt mit Wikipedia zu kooperieren beabsichtigt. »Wir reden weiterhin mit Google über kreative Möglichkeiten, wie sie die Community unterstützen können«, sagte Wales. Einen Konflikt befürchte er dabei nicht: »Wir sehen uns manchmal als Rot-Kreuz-Bewegung für Informationen. Wir bemühen uns um die Unterstützung verschiedener Firmen, aber wir werden vollkommen unabhängig bleiben.«