Rote Omas mögen Onkel Toscho

Während in der Innenstadt von Sofia Rentnerinnen Blumensträuße verkaufen, um nicht zu hungern, fühlen sich Reiche in den Vororten nur hinter Mauern sicher. von jutta sommerbauer (text) und albena momchilova (fotos)

Die Frauenfigur, die den Bahnhofsvorplatz in Sofia ziert, ist weit sichtbar. Kommunistischer Blödsinn sei das, sagt einer der Arbeiter, die am Rand der Betonsäule sitzen. Es ist zehn Uhr am Vormittag und Zeit für eine Kaffeepause. Er und seine Kollegen stammen aus der etwa 100 Kilometer entfernten Stadt Kozlodui an der Donau. Seit einem Jahr arbeiten sie schon auf der Großbaustelle am Bahnhofsvorplatz.

Das Areal vor dem klotzigen Bahnhofsgebäude ist seit ein paar Monaten mit einer großflächigen weißen Plane umhüllt. Ein Zirkuszelt sei das, scherzen die Männer. Unter der Plane hat man eine halbkreisförmige Ladenzeile aufgebaut, die meisten der verglasten Geschäftslokale stehen allerdings noch leer. In der Bahnhofsunterführung, in der früher Kleinhändler ihre wackligen Stände aufbauten und Obdachlose Unterschlupf fanden, warten ebenfalls Ladenlokale auf ihre Mieter. Doch das Geschäft will nicht so recht in Gang kommen. »Die Miete ist zu hoch«, regt sich ein Bauarbeiter auf, »wer soll die 750 Euro im Monat bezahlen können?«

Das gesamte heruntergekommene Bahnhofsgebiet wird derzeit herausgeputzt. Ein Gemeindebediensteter kommt und ermahnt die Arbeiter, ihre Kaffeebecher und Zigarettenstummel nicht liegen zu lassen. Im neuen Shoppingareal soll Ordnung und Sauberkeit herrschen. Polizisten und privates Wachpersonal drehen gelangweilt ihre Runden, kaum ein Passant kommt hier vorbei. Die Pause der Arbeiter ist vorüber, sie machen sich auf den Weg, um an den Elektroinstallationen zu hantieren. Noch bevor die vorbildliche Einkaufszone fertiggestellt ist, scheint sie schon Staub anzusetzen. In den mit Beton umzäunten Grünflächen beginnt bereits Unkraut zu sprießen.

Die Bemühungen der Behörden, die »wilden« Stände zu verdrängen, sind bislang nicht sehr erfolgreich. Ein paar hundert Meter vom Bahnhof entfernt befindet sich der »Zhenski Pazar«. Auf dem Markt werden neben Obst und Gemüse auch Textilien und Haushaltswaren verkauft. Frauen stehen im Gedränge und bieten billige Hosen und T-Shirts an. Sie haben keine Verkaufstische, sondern halten die Kleidungsstücke auf dem Arm. Gleich neben den Ständen der regulären Verkäufer legen alte Menschen ihr selbst gezogenes Gemüse aus, oft bieten sie nicht mehr als fünf Salatköpfe feil. Eine Rentnerin verkauft Blumen und dünne Kerzen, die in orthodoxen Kirchen angezündet werden. »Ein paar Mal in der Woche komme ich extra aus meinem Dorf nach Sofia, um meine Waren hier anzubieten«, erzählt sie. Heute habe sie aber noch nichts verkauft. Niemand hat Interesse an ihren Blumen. Die grauhaarige Frau deutet auf drei zerrupfte Blumensträuße, die in einem schwarzen Plastikeimer stecken. Zumindest für ein bisschen Brot soll der Erlös reichen. Immer wenn die Polizei ihre Kontrollgänge macht, muss sie verschwinden.

An einem anderen Stand verkaufen zwei Frauen handgemachte Reisigbesen. Einen Euro kostet so ein kleines Putzgerät. Die Plastikbesen, die es in jedem Supermarkt zu kaufen gibt, seien keine wirkliche Konkurrenz für ihre Besen, erzählen sie. Die Leute würden eben die besondere Qualität ihrer Reisigbesen zu schätzen wissen. Jeden Tag kann man die Frauen am Markt antreffen, auch am Samstag und am Sonntag. »Während der Zeit von Toscho war es besser«, sagt die jüngere Frau. Der Kommunist Todor Zhivkov, liebevoll »Onkel Toscho« genannt, war von 1954 bis 1989 Regierungschef von Bulgarien. Am Ende seiner Regierungszeit war die junge Frau gerade mal ein Teenager, dennoch ist sie überzeugt davon, dass es ihr damals besser gegangen sei als heute. Zumindest hätten ihre Eltern in der Zeit eine sichere Arbeitsstelle gehabt.

Eine Frau vom Marktamt kommt vorbei und kassiert zwei Euro Standgebühr. An den Parlamentswahlen am 26. Juni werde sie nicht teilnehmen, sagt die junge Verkäuferin, das ändere doch nichts. »Geh’ wählen, sonst gewinnt wieder der Zar!« ruft die rothaarige Kontrolleurin dazwischen. Simeon Sakskoburggotski, der derzeitige Premierminister, ist der legitime Nachfolger des letzten regierenden Zaren von Bulgarien. Doch auch der Hinweis auf den vermeintlich drohenden Wahlsieg der Regierungspartei »Bewegung Simeon II.« scheint die junge Frau nicht zu beeindrucken. »Ich werde nicht zur Wahl gehen.« Damit ist das Thema für sie beendet.

Das Marktviertel ist das Zentrum der Sofioter Altstadt. Hier stehen nah beieinander die sephardische Synagoge, die Banja-Baschi-Moschee und die orthodoxe Kirche der Heiligen Nedelya. Wenige Meter entfernt befindet sich das ehemalige staatliche Kaufhaus »Zentrales Universales Magazin«, das in der Ära von »Onkel Toscho« mit seltenen Waren aufwartete. Heute befindet sich in dem Gebäude ein teures Einkaufszentrum mit vielen kleinen Läden. In einer der schmalen Gassen des Viertels betreibt Mitko Dimitrov gemeinsam mit seiner Frau und den Kindern eine Altwarensammelstelle. Vor dem Wohnhaus der Familie türmen sich in einem Holzverschlag Berge aus Papier, Pappe und Metallteilen. All dies werde hier gesammelt, sagt der 63jährige. Vor allem die Armen gehören zu seinen Zulieferern. Für ein Kilogramm Papier erhalten die Menschen vier Cent. Kann jemand genug Papier sammeln, um davon einen Tag zu leben? »Onkel Mitko«, wie er sich selbst nennt, zuckt mit den Schultern. »Das hängt von seinem Glück ab.« Es kämen »alle möglichen Leute« zu ihm. Alte, Junge, Invalide, Obdachlose und Roma seien unter seinen Kunden. Vor allem während der Winterzeit, wenn nicht genug Geld zum Heizen da ist, haben die Sammelstellen Hochbetrieb. Allein in Sofia soll es etwa 100 davon geben. Immer wieder, erzählt der weißhaarige Mann, brächten die Leute ihre alten Bücher zur Sammelstelle. Auch für sie gilt der Altpapierpreis. »Besonders oft erhalten wir kommunistische Literatur«, sagt er lachend.

Dimitrov und seine Familie kommen dank ihres kleinen Geschäfts im Vorgarten mit dem Geld knapp über die Runden. Auch nach 15 Jahren merkt die bulgarische Bevölkerung wenig vom ökonomischen Aufschwung, den so genannte Wirtschaftsexperten unaufhörlich verkünden. Noch immer lebt ein Drittel der Menschen unter der Armutsgrenze. Am Mittwoch vergangener Woche war offiziell Wahlkampfauftakt. Die Regierungspartei von Premierminister Sakskoburggotski verspricht, die Arbeitslosigkeit weiter zu senken, und einen Durchschnittslohn von 250 Euro. Die Bulgarische Sozialistische Partei (BSP) sichert zu, 240 000 neue Arbeitsplätze zu schaffen und den Mindestlohn auf etwa 140 Euro anzuheben. Derzeit liegt er bei 70 Euro.

Nach zwei Legislaturperioden in der Opposition könnte es sein, dass die BSP wieder an die Regierung kommt. Ihr Parteigebäude, ein unschöner hellbrauner Kasten, ist mit einer bulgarischen und einer roten Fahne geschmückt. Kein Schild weist darauf hin, dass hier die Sozialisten ihren Sitz haben. Das scheint sich von selbst zu verstehen. Im düsteren Foyer lagern einige Stapel noch verpackter Plakate. Auf die Frage, ob es schon Werbematerial gebe, muss der betagte Portier, der gerade mit zwei anderen Männern plauscht, abwinken. Die Plakate seien erst heute aus der Druckerei gekommen, sagt er. Die könne man sich aber ansehen. Ein Motiv zeigt ein altes Ehepaar, das auf einer Bank sitzt. »Für das bulgarische Dorf« steht darunter. Aber nicht nur an die von der Marktwirtschaft enttäuschten Rentner hat man gedacht. Ein anderes Sujet zeigt junge, dynamische Menschen. »Für den Weg der Träume« ist hier zu lesen.

Auch die zweite wichtige Oppositionspartei, das rechts-liberale Wahlbündnis Vereinigte demokratische Kräfte (ODS), macht bereits mobil. Auf der Parteizentrale prangt seit ein paar Tagen ein blaues Plakat mit der Aufschrift: »Bulgarien – das bist du!« Selbst diese markigen Sprüche scheinen die Bewohner Sofias nicht besonders zu beeindrucken. Um die Bulgaren zu den Wahlurnen zu locken, hat sich die Regierung diesmal etwas Besonderes einfallen lassen. Alle Wähler nehmen gleichzeitig an einer Lotterie teil, in der die begehrten Handys und Computer verlost werden. So soll die niedrige Wahlbeteiligung von etwa fünfzig Prozent angehoben werden.

Dass junge Leute wenig Interesse an den Wahlen haben, gilt als besonders großes Problem. An der Universität findet deshalb eine Diskussion dazu statt: »Sollen junge Leute wählen gehen?« Nur etwa dreißig Personen haben sich in der altehrwürdigen Aula eingefunden. Viele Journalisten sind darunter. Studenten sind wenige erschienen. Eine junge Diskussionsteilnehmerin befürchtet, dass die »roten Omas« die Wahl entscheiden werden. Da die Jugendlichen nicht von sich aus Interesse aufbrächten, sollten sie zur Stimmabgabe gezwungen werden, schließlich handle es sich um eine »Bürgerpflicht«, meint die 20jährige Studentin. Eine andere Teilnehmerin pflichtet ihr bei. Jetzt, wo Bulgarien bald der EU beitrete, müssten die Bürger endlich lernen, sich dementsprechend reif zu verhalten. Der »Fassaden-Demokratie« müsse ein Ende bereitet werden.

Nach der Veranstaltung rümpft Galja die Nase. Sie hält Diskussionen wie diese für pathetisches Theater. »Nichts hat sich seit der sozialistischen Zeit geändert. Nur dass sie jetzt die europäische Rhetorik angenommen haben.« Galja fällt in die von den Diskutanten beanstandete Kategorie: Sie wird nicht wählen gehen. Erst zweimal seit der Wende habe sie an Wahlen teilgenommen, erzählt sie, von den bulgarischen Politikern halte sie nichts.

In der Nähe der Universität beginnt die vierspurige Zarigradsko Shossee. An der Bushaltestelle herrscht Gedränge, von hier aus fahren mehrere Buslinien in die Wohnviertel, die rund um die Innenstadt errichtet wurden. In den siebziger und achtziger Jahren, als wegen der anhaltenden Industrialisierung Wohnungsnot in den Städten herrschte, wurden in Sofia viele Hochhaussiedlungen aus dem Boden gestampft. Auch heute wohnt ein Großteil der städtischen Bevölkerung in den Wohnblöcken. Nach 15 Minuten Fahrt erreichen wir das Neubauviertel »Mladost 2«. Mladost ist das bulgarische Wort für Jugend. »Wir sind aber nicht mehr jung«, sagt das Ehepaar, das im Block 223 im ersten Stock lebt. Seit dreißig Jahren sind sie hier zu Hause. Vom Balkon aus beobachten die beiden Rentner, was um sie herum geschieht. Früher habe er an der Sofioter Universität Politökonomie unterrichtet, erzählt der Mann, der seinen Namen nicht nennen will. Gemeinsam erhält das Ehepaar 100 Euro Rente. Von der Politik sind die beiden enttäuscht. »Es gibt keine bulgarische Politik, sondern nur das, was die EU sagt«, beklagt der Mann. »Bulgarien ist schon lange in Europa«, sagt seine Frau.

Ein paar Haltestellen weiter stadtauswärts sieht es vollständig anders aus. Wenige Kilometer hinter öden Flächen mit Großmärkten, Werkstätten, Tankstellen und Brachen befindet sich das Stadtviertel Simeonovo. Es liegt mitten im Grünen, am Fuß des Vitoscha-Gebirges. Neureiche, Politiker und Stars haben sich nach der Wende in diesem Stadtteil ihr eigenes eklektizistisches Wunderland geschaffen. Dreigeschossige Häuser, gebaut im opulenten Stil des Neobarock, sind umgeben von burgähnlichen Befestigungsanlagen. Daneben stehen luxuriöse Hotels und Privatkliniken, die einen 24-Stundenservice gegen das entsprechende Bargeld anbieten. Auch so genannte gated communities erfreuen sich großer Beliebtheit. Hinter hohen Mauern leben gleichgesinnte Wohlhabende zusammen unter den Augen von Wachpersonal und Kameras in großzügig ausgestatteten Wohnanlagen.

Wer in Simeonovo lebt, leistet sich Hausangestellte und lässt Privatlehrer kommen, die den Nachwuchs in westlichen Sprachen unterrichten. Bewohner fahren mit ihren schwarzen Jeeps zum Café, z.B. in den Wiener Salon »Romans«. Hier kann man zwischen weißen Säulen, Springbrunnen und knallig bunten Sofas exquisite Süßspeisen zu sich nehmen und italienischen Kaffee trinken. Die Bedienung, mit Uniform und Namensschildchen ausgestattet, ist immer höflich und sofort zur Stelle. Vor dem »Romans« sitzt ein Wachmann in einem Häuschen. Die Umgebung wird mit Kameras beobachtet.

Was das Stadtviertel Simeonovo für Neureiche bedeutet, ist Studentski Grad für Studierende. In diesem Stadtteil leben mehrere Tausend Hochschulstudenten in sechzig Wohnblöcken, die streng nach Fakultäten geordnet sind. Die Wohnungen bestehen aus einem Zimmer, das meist zu zweit bewohnt wird, einer Toilette und einer Dusche. Zum Essen geht man in die kostengünstige Mensa.

Silvena ist 22 Jahre alt und studiert Mathematik. Sie betreibt gemeinsam mit ihrem Freund die Kneipe »Delfincheto« neben dem 55. Block. Die Einrichtung ist einfach, die Speisekarte ebenso. Bier, gebratene Fische und Pommes sind die beliebtesten Speisen hier. Die Kneipe läuft so gut, dass Silvena kaum mehr Zeit für die Universität hat. Normalerweise lese sie Zeitung und sehe Fernsehen, sagt sie, aber seit sie hier die Wirtin ist, gehe alles drunter und drüber. Vermutlich werde sie für die rechts-liberale ODS stimmen, meint sie und erkundigt sich, wann denn nun genau die Wahlen abgehalten werden. Momentan steht ihre Heirat, die in Kürze über die Bühne gehen soll, im Vordergrund. Und, wie ihr Zukünftiger erklärt, der Urlaub im Sommer. Denn im August, wenn die Studenten nicht in Sofia sind und die Hälfte der bulgarischen Bevölkerung ans Meer fährt, werde man ein bis zwei Wochen den Laden in der Studentenstadt dicht machen.

Abends beginnen am Batenbergplatz, der im Regierungsviertel im Zentrum liegt, grüne Ziffern an einer Hauswand neben dem Grandhotel Bulgaria zu leuchten. Hier hat man eine elektronische Leuchttafel installiert, auf der die Tage bis zum EU-Beitritt abwärts gezählt werden. Während die EU-Uhr gemächlich vor sich hin tickt, rasen voll besetzte Autos über die Zar-Osvoboditel-Straße. Sie sind mit bunten Luftballons geschmückt, die Fahrer lassen ein Hupkonzert ertönen. Mädchen, die wie Prinzessinnen gekleidet sind, stecken ihre Köpfe aus den Autofenstern, winken und schreien. Derzeit machen die Abiturienten die Stadt unsicher. Nach zwölf langen Jahren streng geregelter Schulbildung feiern sie nun ihren Abschluss. In den herausgeputzten Autos sind sie auf dem Weg zu ihrem Abiturball, der in noblen Lokalitäten wie dem Grandhotel stattfindet. Ein besorgtes Elternpaar wünscht der Tochter am Hoteleingang gute Unterhaltung. Dann geht es ab zur Party, gefeiert wird bis zum nächsten Morgen.