Search and Destroy

Die Hirnforschung begibt sich auf die Suche nach dem gefährlichen Menschen und versucht dabei, die Grundlagen der Kriminalistik und des Rechts zu verändern. Von Stefan Krauth

Robert D. Hare mag keine Psychopathen. Der Professor von der University of British Columbia im kanadischen Vancouver warnt in seinem Buch »Without Conscience« (1999) vor der schleichenden Bedrohung der Gesellschaft durch unerkannt unter uns lebende Psychopathen.

Sein Bestseller trägt den Untertitel »The Disturbing World of the Psychopaths Among Us«. Allein in New York City, so seine Schätzung, lebten 100 000 Angehörige dieser Subspezies. Um die Bewohner jener disturbing world auch erkennen zu können, entwickelte der Psychologe eine Psychopathy Checklist. Eine klare Identifizierung sei schon deshalb notwendig, weil viele der Psychopathen nach Ansicht Hares gar nicht erst mit dem Gesetz in Konflikt kommen. Da Psychopathen auch noch promiskuitiv lebten, vermehrten sie sich rasch. Zu allem Überfluss würden viele Nachkommen von Psychopathen auch wieder Psychopathen.

Auch jede Form von Therapie sei der falsche Ansatz. Therapeuten brächten den Psychopathen nur bei, sich besser zu verstellen und andere Leute zu manipulieren: »Sie bringen dir nur bei, andere Leute unter Druck zu setzen.« Es überrascht nicht, dass Hare an anderer Stelle seines Buchs die Todesstrafe für Psychopathen fordert.

Auch die Internetzeitschrift www.crime-times.org betreibt Kriminalpolitik. Und sie will über die Ursachen steigender Gewaltkriminalität aufklären. Die Hauptursache, so das Magazin, bilde ein falsch funktionierendes Gehirn. Diese Behauptung ist zwar nicht neu, verweist aber auf einen Perspektivenwechsel innerhalb der Kriminologie. Sie steht erneut unter dem Stern naturwissenschaftlicher Exaktheit – die Hirnforschung ist es heute, die die Ursache kriminellen Verhaltens erklärt. Robert D. Hare, um ein Beispiel unter vielen zu wählen, veröffentlichte bereits im Jahr 2001 eine Studie in der Zeitschrift Biological Psychiatry. Der Forscher hatte die Gehirne von Psychopathen untersucht und war zum Ergebnis gelangt, dass diese bei der Verarbeitung Affekt auslösender Reize eine Überaktivierung gewisser Bereiche des Vorderhirns aufweisen. Andererseits produziere das limbische System (1) des Psychopathen eine signifikant niedrigere Reaktion als die Gehirne normaler Menschen. Kurz: Menschen, die keinen moralischen Sinn entwickelten, hätten kein normales Gehirn.

Um die in diesen Studien zum Ausdruck kommende Verschiebung im kriminologischen Denken sichtbar zu machen, ist ein Blick zurück nötig. Als Geburtsstunde der Kriminologie kann das Jahr 1876 gelten. In diesem Jahr veröffentlichte der italienische Gerichtsarzt Cesare Lombroso sein Werk »L’Uomo Delinquente« (dt.: »Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung«). Lombroso zufolge gibt der Körper des Straftäters Auskunft über seine Verbrechen. Auffällige Ohren und Finger oder eine fliehende Stirn ließen jeweils Rückschlüsse auf die Gefährlichkeit des geborenen Verbrechers zu.

»Die Diebe«, so schreibt Lombroso etwa, »haben im Allgemeinen sehr bewegliche Gesichtszüge und Hände; ihr Auge ist klein, unruhig, oft schielend; die Brauen gefältet und stoßen zusammen; die Nase ist krumm oder stumpf, der Bart spärlich, das Haar seltener dicht, die Stirn fast immer klein und fliehend, das Ohr oft henkelförmig abstehend.« Lombroso suchte nach einer Subpopulation von Menschen mit »moralischem Schwachsinn«; er fand diese kriminelle Klasse in Gefängnissen und unter »Zigeunern«.

Liest man Lombroso heute, erscheint diese an körperlichen Merkmalen anknüpfende Ursachenforschung der Kriminalität biologistisch und pseudowissenschaftlich. Lombroso selbst wurde bald methodischer Mängel überführt. Außerdem wurde zu seinen Lebzeiten die gefährliche Klasse ganz nüchtern bestimmt: Eine bayerische Verordnung von 1887 untersagte neben Landstreichern und »Zigeunern« ledigen Arbeitern das Tragen von Messern mit feststehender Klinge.

Vom Ende des zweiten Weltkrieges bis zu den späten siebziger Jahren waren biologische Argumente weitgehend aus der Kriminologie verbannt – sie schienen zu sehr mit Rassismus verbunden zu sein. Zudem veränderte sich bald der Ort, an dem die Kriminologie als Wissenschaft vom Verbrechen die Ursache des Verbrechens zu finden suchte: Die Biografie des Straftäters wurde zum Gegenstand der Untersuchung. Der Delinquent begann sich vom Täter zu scheiden und entstand unabhängig von diesem als biografische Einheit, als Kern von »Gefährlichkeit«, als Repräsentant eines Typs von Anomalie.

Der Begriff des »gefährlichen Individuums« erlaubte es, so Foucault in »Überwachen und Strafen«, »über die gesamte Biografie ein Kausalitätsnetz zu ziehen und ein Besserungs-Straf-Urteil zu fällen. Der Delinquent unterscheidet sich vom Rechtsbrecher auch darin, dass er nicht bloß Urheber seiner Tat ist (verantwortlicher Urheber aufgrund bestimmter Kriterien von freiem und bewusstem Willen), sondern dass er an sein Verbrechen durch ein Bündel von komplexen Fäden geknüpft ist (Instinkte, Triebe, Tendenzen, Charakter).«

Unfreier Wille

Dieses Bündel komplexer Fäden nachträglich aufzurollen, um an deren Ausgangspunkte, den Ursprung der Disposition zurückzukehren, sollte der Anspruch einer Kriminalsoziologie werden, die die Täterpersönlichkeit aufgrund bestimmter Umwelteinflüsse (Familienverhältnisse, Kindheit, berufliche Entwicklung, Lebensweise etc.) erforschte. Kriminologie ist also von Beginn an eine Wissenschaft, die Kriminalität als persönliche Veranlagung versteht. Diese Eigenschaft der Person gilt es aufzudecken, zu beobachten und zu verändern.

In dankenswerter Offenheit findet sich dieses kriminalpolitische Programm im Wortlaut des Jugendgerichtsgesetzes (JGG) wieder: Die Vertreter der Jugendgerichtshilfe »unterstützen (…) die beteiligten Behörden durch Erforschung der Persönlichkeit, der Entwicklung und der Umwelt des Beschuldigten und äußern sich zu den Maßnahmen, die zu ergreifen sind«. (Paragraf 38 JGG). Allerdings konnte die Kriminalsoziologie weder verlässlich erklären, welche Ursachen nun genau zur Entwicklung der Täterpersönlichkeit führten, noch konnte das Behandlungskonzept (wonach Zweck der Strafe nicht Vergeltung, sondern Behandlung, Einwirkung auf den Täter ist) »ausreichende« Erfolge nachweisen.

Der resignative Ausspruch »Nothing works« wurde zu einem Synonym für das Scheitern eines Programms, welches auf individueller Behandlung, soziologischer Ursachenforschung und Resozialisierung basierte. In der US-amerikanischen Kriminologie der achtziger und neunziger Jahre kam es vermehrt zu einer Wiederbelebung »konservativer« Ansätze, die die Ursache von Kriminalität im Einzelnen verankert sahen und dementsprechend neurophysiologische und biologische Ansätze zur Erklärung von Kriminalität ins Spiel brachten.

Diese Entwicklung kommt nun zu einem Abschluss. Mit dem Jahr 2004 scheint die Kriminologie, wenn auch auf erweiterter Stufenleiter, wieder ihren Ausgangspunkt zu erreichen. Die Hirnforscher Gerhard Roth und Wolf Singer traten mit der These an die Öffentlichkeit, es gebe keinen freien Willen, die strafrechtliche Vorstellung von Schuld als Vorwurf an den Täter, er hätte sich auch normgerecht verhalten können, sei unzutreffend und aufzugeben. Akteur unserer Handlungen sei das dem Bewusstsein nicht zugängliche limbische System.

Insbesondere der Verhaltensphysiologe Gerhard Roth erlangte in Deutschland Aufmerksamkeit, indem er das menschliche Hirn (im physiologischen Sinne) als eigentliches Subjekt, als Ort, an dem Entscheidungen getroffen werden, definierte. Anknüpfend an die Experimente des US-amerikanischen Neurobiologen Benjamin Libet aus den achtziger Jahren zur Willensfreiheit, fasste Roth in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie im Jahr 2004 die Position der Hirnforschung zur Willensfreiheit zusammen: »Der Neurobiologe wird darauf hinweisen, dass der bewusste Willensakt gar nicht der Verursacher der genannten Bewegungen sein könne (der Griff nach der Kaffeetasse, S. K.), weil diese Bewegung bereits vorher durch neuronale Prozesse festgelegt, das heißt kausal verursacht sei. Der subjektiv empfundene Willensakt sei also entweder völlig wirkungslos (…), oder er habe eine von der Verursachung oder Auslösung der Willenshandlung verschiedene Funktion, etwa im Zusammenhang der Selbstzuschreibung der Handlung. Entsprechend müsse in der Tat die korrekte Formulierung lauten: ›Nicht mein bewusster Willensakt, sondern mein Gehirn hat entschieden!‹«

Wegen neuer Methoden der Gehirnforschung lässt sich Roth zufolge bestimmen, was im Gehirn passiert, bevor eine Versuchsperson ein bestimmtes Wahrnehmungserlebnis hat. Bildgebende Verfahren (der Computer zeigt uns dabei, was gerade im Hirn passiert und welche Bereiche aktiv sind) ermöglichten die Feststellung, dass »dem bewussten Erleben notwendig und offenbar hinreichend unbewusste neuronale Geschehnisse vorausgehen«.

Das diese Aussage stützende Experiment baute sich wie folgt auf: Libet forderte seine Testpersonen auf, zu einem frei zu wählenden Zeitpunkt ihr Handgelenk zu bewegen. Der genaue Zeitpunkt des Willensentschlusses sollte dabei von den Probanden von einer Uhr abgelesen und zu Protokoll gegeben werden. Die Forscher konnten messen, dass es zeitlich vor dem bewussten Willensentschluss in Bereichen des Gehirns (in so genannten primären und assoziativen Hirnrindenarealen), deren Aktivitäten dem Bewusstsein nicht zugänglich sind, zu einem Neuronen-Geschehen kommt. Dieses Neuronen-Geschehen wurde als handlungsspezifisches »Bereitschaftspotenzial«, als ursächlich für die Handlung gedeutet.

Die Anordnung des Experiments sieht sich freilich schon bei einem ersten Blick zahlreichen Einwänden ausgesetzt, die an dieser Stelle nur angedeutet werden können. Jenes »Bereitschaftspotenzial« kann als Anspannung der Probanden, die Bewegung des Handgelenks als experimentelles Konstrukt, das keine Schlüsse auf komplexere Entscheidungen zulässt, gedeutet werden. Libet selbst ging davon aus, dass dem menschlichen Bewusstsein noch ein so genanntes Vetorecht zukommt; auch andere Hirnforscher ziehen nicht die Konsequenzen, mit denen etwa Roth und Singer über Fachkreise hinaus Bekanntheit erreichen.

Durchschlagend jedenfalls ist der Einwand, Freiheit könne nicht im Gehirn verortet werden. Das Verständnis einer Handlung als »frei« ist das Ergebnis einer intersubjektiven Deutung. Ihr kommt die Funktion zu, einer Person die »Folge« der Handlung als »eigene«, als zurechenbare zuzuschreiben. Die Verknüpfung zwischen einer Handlung und einer Schadensfolge herzustellen, einen »Verantwortlichen« und dafalten kann, zu gewinnen, macht die strafrechtliche Zurechnungslehre aus. Und diese Zurechnung funktioniert über Willensfreiheit. Auch Schuld ist ein Ergebnis der sozialen Interaktion – und nicht eine natürliche Tatsache in unbekannten Regionen des Gehirns.

Die Grenze zwischen dem, was als Zwang und was als Freiheit gilt, ist je variablen Deutungsprozessen unterworfen. Man denke dabei an die Erfindung von Süchten durch die Humanwissenschaften, die allesamt um das bürgerliche Ideal der Selbstkontrolle und deren Gefährdung durch innere und äußere Zwänge kreisen. Der Beschädigung des freien Willens durch Alkohol folgte die Entdeckung der Koabhängigkeit von Angehörigen Süchtiger als eigenständiger Krankheit des Willens. Und überall dort, wo der freie Wille auftaucht, scheint er schon durch Zwänge gefährdet. Arbeit, Sex, Sport und Konsum sind zugleich Ausdruck der freien, selbstbestimmten bürgerlichen Existenz und (bei »übertriebener«, »unnatürlicher« Ausübung) deren Gefährdung.

Angesichts der Bedeutung der Freiheit als Fixstern einer »normalen« Subjektivität fragt Nikolas Rose in seinem Buch »Inventing ourselves: psychology, power and personhood«: »Wie kam es, dass wir uns selbst über eine bestimmte Vorstellung von Freiheit definieren und uns dieser Vorstellung entsprechend verhalten? Wie kam es, dass gerade Freiheit die Rechtfertigung für alle Arten von Zwangsmaßnahmen gegenüber den Wahnsinnigen, den Gefährlichen und den Gefährdeten wurde?«

Zudem verlangt das Strafrecht keine Willensfreiheit (im hypothetischen Sinne: »Ich hätte mich in der Situation x auch tatsächlich anders verhalten können«), sondern lediglich Ansprechbarkeit durch eine Norm, also die grundsätzliche Empfänglichkeit durch Abschreckung. Nur der, dem diese Motivierbarkeit fehlt, gilt als schuldunfähig, wird nicht bestraft – und bei anhaltender Gefährlichkeit auf unbestimmte Zeit weggesperrt. Als Psychopathen gelten die, die auf negative Stimuli kaum Reaktionen wie Furcht und dergleichen entwickeln. Sie können also nicht abgeschreckt werden. Der finnische Forscher Mikko Laakso macht dafür das reduzierte Volumen des hinteren Teils des Hippocampus (2) verantwortlich.

Drohen und Strafen

Um deutlich zu machen, wie Strafrecht über die symbolhafte Vermittlung von Abschreckung funktioniert, sei der klassische generalpräventive Ansatz skizziert. Paul Johann Anselm Feuerbach hat den Mechanismus der Abschreckung in seiner psychologischen Zwangstheorie ausformuliert. Allein die Existenz des Strafrechts mit seinen angedrohten Sanktionen solle auf den potenziellen, mit Vernunft ausgestatteten Täter eine gegenläufige Wirkung entfalten und ihn so von der Tat abhalten. Um die Ernsthaftigkeit der Drohung zu wahren, muss das Gesetz angewendet werden – nicht um den Täter zu bessern (wie soll auch im Gefängnis »Besserung« stattfinden?), sondern um potenzielle Täter auf symbolischer Ebene anzusprechen.

Abschreckung durch Vergeltung ist eine Erscheinungsform der Prävention, die durch die symbolische Stärkung der verletzten Norm erreicht wird. Der Appell des Strafrechts wendet sich nicht an den Rechtsbrecher (das diesem zugefügte Leid ist vielmehr ein Sonderopfer), sondern primär an die Normalbevölkerung. So ermöglicht das Strafrecht größtmögliche soziale Kontrolle bei gleichzeitiger Abwesenheit von unmittelbarem Zwang: Der vernünftige Bürger orientiert sein Verhalten zwanglos an den so symbolisierten und institutionalisierten Verhaltenserwartungen und konstituiert sich damit als frei. (3)

All dies verkennt Roth freilich, wenn er in der Zeitschrift Information Philosophie schreibt: »Fazit: Sofern sich die Erkenntnisse der Hirnforschung und der Persönlichkeitspsychologie weiter erhärten, muss im Strafrecht das Prinzip der moralischen Schuld aufgegeben werden. Es rückt damit der Gedanke der Normverletzung (Hervorh. im Orig.) in den Vordergrund, bei der die Gesellschaft das Recht hat, sie zu ahnden. Erziehung, Therapie und Schutz der Gesellschaft vor unerziehbaren bzw. nicht therapierbaren Straftätern treten dann anstelle des strafrechtlichen Sühnegedankens.«

Es ist diese Rede vom »Schutz der Gesellschaft«, die die Hirnforschung für den gefährlichen Menschen so gefährlich macht. In der Kriminologie und der Psychiatrie entstand in den letzten Jahren, angeregt von massenmedialer Vermittlung von Gewaltverbrechen und »Fehlprognosen«, ein neues Bild des gefährlichen Straftäters.

Ein Beispiel hierfür mag die Erfindung der Dangerous Severe Personality Disorder (DSPD) darstellen. In Großbritannien wurde nach der Regierungsübernahme der Labour Party im Jahr 1997 eine Untersuchung zum Stand der Behandlung von »Psychopathic People« eingesetzt, um die in dieser Hinsicht bestehende Rechtslage zu ändern. In einer landesweiten Studie kam es zu einer Identifizierung von Personen, die die Kriterien der DSPD erfüllten, sowie zur Schaffung der DSPD als neuem Rechtsbegriff. Diese Störung sollte bei Personen anzunehmen sein, »die eine nachweisbare schwerwiegende Persönlichkeitsstörung haben, die wegen eines schwerwiegenden asozialen Verhaltens, das von dieser Störung herrührt, ein hohes Risiko für andere Menschen darstellen«.

Danach wurde ein Gesetz geplant, das es ermöglichen soll, Personen aus präventiven Gründen unterzubringen, ohne dass diese zuvor eine Straftat begangen haben. Eine derartige Zwangseinweisung soll möglich werden, wenn sich Anhaltspunkte für eine erhöhte Gefährlichkeit bei Routinekontrollen durch die Polizei oder bei psychiatrischer Behandlung auf freiwilliger Basis ergeben. Ein hoher Punktwert bei bestimmten Standarduntersuchungen (Violence Risk Appraisal Guide) solle dazu führen, die betreffende Person in spezielle Einrichtungen zu verlegen, wo weitere Untersuchungen, etwa ein »neuropsychologischer Test«, durchzuführen sind. Daran schließt sich die juristische Entscheidung über die Verwahrung des Betroffenen in einer Einrichtung an, welche zwischen Gefängnis und Psychiatrie angesiedelt ist.

Diese neue Entwicklung im Umgang mit auffälligen Menschen ruft zugleich das Bedürfnis hervor, einen einfach lesbaren Maßstab für die Definition eines Menschen als »gefährlich« zu erlangen. Etwaige Folgen neuer Diagnosemöglichkeiten durch brain imaging für die Erweiterung und Intensivierung des Wissens über den gefährlichen Menschen entfaltet Roth in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie später selbst: »Fortgeschrittene neurobiologische Erkenntnisse könnten schließlich auch dazu führen, dass wir entscheiden können, ob jemand tatsächlich bestimmte Gefühle hat oder ›nur so tut‹.«

Einen Anwendungsbereich für derartige neurobiologische Forschung sieht Roth in der Gefährlichkeitsprognose von Straftätern: »Ebenso wird eine entsprechende Diagnosemöglichkeit bei der Entscheidung darüber wichtig sein, ob schwere Gewalttäter erfolgreich therapiert wurden und deshalb aus der Haft entlassen werden können oder ob sie nur ›schauspielern‹ (wofür Soziopathen berüchtigt sind).« Der juristische Fehler, der Roth in der letzten Formulierung unterläuft, ist freilich folgerichtig. Dass ein Straftäter (wie nach geltendem Recht) nicht schon nach Ablauf einer im Urteil festgesetzten Zeit, sondern erst nach »erfolgreicher« Therapie aus der Haft entlassen werden kann, erscheint auf der Grundlage, dass es keine (strafbegrenzende) Schuld gibt, selbstverständlich.

Entsprechend stehen neue Diagnosemöglichkeiten (die so genannten bildgebenden Verfahren) dessen, was als Gefährlichkeit zu Grunde gelegt wurde, im öffentlichen Interesse. Die Presse-Information der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde vom November 2002 leitet einen Beitrag mit der Frage ein, ob es künftig möglich ist, die Gefährlichkeit von Straftätern exakt zu messen. »Mit Hilfe bildgebender Verfahren wie der Positronen-Emissions-Tomografie oder der magnetischen Resonanztomografie lassen sich die Strukturen und Funktionen des Gehirns immer präziser messen und auf dem Computermonitor sichtbar machen.«

Daran knüpften sich, so die Presseinformation, die Erwartungen, die Gefährlichkeit von Straftätern naturwissenschaftlich exakt zu begutachten. Schließlich ist an der Universität Bielefeld eine Tagung mit dem Titel »›…weil er für die Allgemeinheit gefährlich ist!‹ Prognosegutachten, Neurobiologie, Sicherungsverwahrung« für den Herbst 2005 geplant. Neben der Frage nach der Zuverlässigkeit der Prognose künftiger Straftaten soll auf dieser Tagung u.a. diskutiert werden, ob neue Verfahren der Neurobiologie helfen können, diese Prognosen zu verbessern. Als Referent ist unter anderem Gerhard Roth vorgesehen.

Die Schuldfrage

Der Streit um die Willensfreiheit ist der strafrechtlichen Literatur seit weit über 100 Jahren bekannt. Aus welchem Grund lebt im Jahre 2004 erneut eine Diskussion um Willensfreiheit auf? Jedenfalls wirft die Fragestellung implizit (wie von G. Roth selbst knapp angesprochen) die Frage nach dem Zweck der Strafe (Therapie, Erziehung, Schutz der Gesellschaft) und dem Umgang mit (»nicht therapierbaren«) Straftätern auf. Das strafrechtliche Schuldprinzip verlangt Vorwerfbarkeit: »Du hättest dich auch anders verhalten können«, muss der Richter zum Täter sagen können, um ihn zu verurteilen.

Dieser Grundsatz sieht sich schon seit dem 19. Jahrhundert dem Vorwurf ausgesetzt, er halte zu Unrecht an einem Indeterminismus des menschlichen Willens fest. Der Modernisierer des Strafrechts im ausgehenden 19. Jahrhundert, Franz v. Liszt, machte etwa in einem Aufsatz aus dem Jahre 1893 seine deterministische Überzeugung deutlich: »Der Verbrecher, der vor uns steht als Angeklagter oder Verurteilter, ist also für uns Menschen unbedingt und uneingeschränkt unfrei; sein Verbrechen die notwendige, unvermeidliche Wirkung der gegebenen Bedingungen. Für das Strafrecht gibt es keine andere Grundlage als den Determinismus.«

In Konsequenz dieser Betrachtungsweise ist für v. Liszt die Strafe ein Instrument der Besserung, der Einwirkung auf den Täter, mithin eine schuldunabhängige Maßregel. Auch Lombroso verteidigte sich in der Vorrede zu »l’Uomo Delinquente« gegen den Vorwurf, er verlöre, indem er sich gegen die moralische Schuld ausspreche, den Schutz der Bevölkerung aus den Augen: »Wer aber sieht nicht ein, dass, (…) wenn wir die Verantwortlichkeit vermindern, wir das Schick-sal keineswegs mildern, sondern eher erschweren wollen, indem wir auf ihre lebenslängliche Detention dringen.«

Insofern ergibt sich zumeist (wenn auch nicht notwendig) sowohl für die Anhänger der strafrechtlichen Schule, die von einem Determinismus menschlichen Handelns ausgeht, als auch für die naturwissenschaftlichen Vertreter eines deterministischen Ansatzes folgender Zweck der Strafe: Nicht Ausgleich moralischer Schuld, sondern die Verteidigung der Gesellschaft durch Behandlung oder Verwahrung des Delinquenten kann allein Ziel der staatlichen Reaktion auf den Bruch der Norm sein.

Der neurobiologische Angriff auf die Willensfreiheit trifft also auf die rechtspolitische Tendenz, auf Risiken für strafrechtlich geschützte Güter vermehrt vorbeugend zu reagieren. Auf dieser zweiten Ebene, jenseits der Reaktion auf bereits begangenes schuldhaftes Unrecht, wartet das Strafrecht mit zahlreichen Maßnahmen auf die, die als schuldfähig und dennoch gefährlich gelten. Und nur hier sind die Befunde der Hirnforschung geeignet, die erhofften Ergebnisse zu bringen.

Dies allerdings nicht, weil sie richtig wären, weil etwa die Hirnforschung uns mehr über den Soziopathen mitteilen könnte, als wir ohnehin schon wissen. Mittels bildgebender Verfahren kann höchstens der neurologische Niederschlag von zuvor intersubjektiv bereitgestellten Begriffen dargestellt werden. Oder, wie Eve Sedgwick in ihrem Aufsatz »Epidemics of the Will« formuliert: »Die neuro-chemischen Markierungszeichen, auf die sich die Forscher beriefen, um Abhänigkeit zu ›erklären‹, konnten natürlich nie mehr als eine bloß tautologische Erklärung oder Diagnose leisten.«

Und auch wenn die Hirnforschung »Ursachen« abweichenden Verhaltens in neurologischen Unregelmäßigkeiten aufweisen möchte, verkennt sie, dass die einzige Ursache von Kriminalität in der staatlichen Definitionsleistung liegt. So gesehen produziert der Staat in doppelter Hinsicht Kriminalität. Indem er eine Norm aufstellt (erst die Norm ermöglicht den Bruch der Norm) und indem er mittels der Ermittlungsbehörden und Gerichte feststellt, dass ein bestimmtes Verhalten den Tatbestand einer Norm erfüllt. Gerade diese Zuschreibungsprozesse sind es, die die Kriminalitätsstatistik zu einem wohlfeilen Instrument der Kriminalpolitik machen.

Werden im Sommer in den Parks deutscher Großstädte mittels Polizeirazzien ausschließlich Menschen mit schwarzer Hautfarbe nach Drogen durchsucht, bleibt die Drogendelinquenz Weißer unsichtbar und wird die Schwarzer erst hergestellt. Der Staat befindet sich bei alldem in der komfortablen Situation, Kriminalität hervorzubringen und gleichzeitig als Beschützer vor ihr aufzutreten.

Indes hat eine wissenschaftliche Theorie bekanntlich wichtigere Eigenschaften, als richtig zu sein. So passt die neurobiologische Rede vom gefährlichen Menschen zu der Entwicklung, die die Grenzen zwischen Polizei- und Strafrecht verwischt. Polizeirecht ist darauf gerichtet, Gefahren abzuwehren. Weil niemand weiß, ob und wann eine Gefahr tatsächlich in einen Schaden umschlägt (ob eine Gefahr besteht, ist immer ein Wahrscheinlichkeitsurteil), birgt das Polizeirecht stets ein großes Maß an Unsicherheit.

Der Verursacher der Gefahr kann, anders als der Straftäter, sein Verhalten (oder auch seinen gefährlichen Zustand) nicht an der Erwartung einer bestimmten staatlichen Reaktion ausrichten. Diese kann, da dem Staat Ermessen eingeräumt ist, völlig ausbleiben oder aber wesentlich härter ausfallen, als ein Strafurteil es könnte. (Der Staat darf nur zur Abwehr von Gefahren, nicht zur Strafe Menschen töten. Der Androhung von Folter wird Verständnis entgegengebracht, wenn sie zur Rettung eines Entführungsopfers dient, nicht aber, wenn sie ein Geständnis erzwingen soll.) Strafrecht reagiert nachträglich auf Unrecht, Polizeirecht versucht, dem Schaden zuvorzukommen.

Wie diese Aufgabenverteilung punktuell verwischt wird, soll am Beispiel der Sicherungsverwahrung dargestellt werden. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung setzt neben formalen Anforderungen – eine bestimmte Anzahl an bestimmten Vorstrafen – voraus, dass der Täter »für die Allgemeinheit gefährlich ist«. Die Sicherungsverwahrung kann entweder zusammen mit der Verurteilung oder aber, seit dem Sommer 2004, auch bis zum Ablauf der Strafhaft durch nachträgliches Urteil angeordnet werden.

Stellt sich also während der Haft die Gefährlichkeit des Inhaftierten für die Allgemeinheit heraus, bleibt er auf unbestimmte Dauer inhaftiert, obschon der staatliche Strafanspruch nicht länger besteht. In der Praxis soll und wird das den Personenkreis treffen, der Therapien oder einen Drogenentzug verweigert. Der Bundestag führte in der Begründung zum Gesetz beispielhaft »wiederholt verbal-aggressive Angriffe auf Bedienstete der Justizvollzugsanstalt« als Anwendungsmöglichkeit der neuen Regelung an. Selbstverständlich bezweckt die unausgesprochene Drohung mit der nachträglichen Sicherungsverwahrung auch die Befriedung des Strafvollzugs. Wer zu viel Ärger macht, muss damit rechnen, als gefährlich zu gelten.

Jede Richterin und jeder Richter steht dabei vor der Frage: Wann ist ein Mensch eigentlich gefährlich? Auch ein gerichtlich tätiger Psychiater kann kaum beanspruchen, Gefährlichkeit nach den Regeln der ärztlichen Kunst zu diagnostizieren. Der Begriff ist also eher das Einfallstor für eine erwünschte Ausgrenzung. Die Hirnforschung will hier die Feststellung ermöglichen, dass ein Mensch gefährlich ist, ohne den wenig versprechenden Umweg über die Biografie des Täters einschlagen zu müssen.

Mit dem Etikett »gefährlich« besteht die Handhabe, einen Menschen dauerhaft zu verwahren. Die Form der Prognoseentscheidung (als wissenschaftlich gesichert, als messbar) hingegen gibt die Handhabe, juristische und moralische Zweifel zu beseitigen. Die gerichtliche Definition eines Menschen als gefährlich wird umso eher als wahr gelten können, je zweifelsfreier Gefährlichkeit »messbar« ist.

Um zu illustrieren, wie in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH) Gefährlichkeit verstanden wird, soll ein Auszug aus einem im Januar 2005 veröffentlichten Beschluss des BGH (Az 2 StR 266/03) wiedergegeben werden: »Nach den Feststellungen hat der vielfach bestrafte Angeklagte am 22. August 2002 bei einem Spiel mit einem elf- und einem dreizehnjährigen Mädchen dem älteren Mädchen über der Kleidung an die Brüste und an die Scheide gefasst und schließlich vor beiden bis zum Samenerguss onaniert. Auf seine Aufforderung fassten ihn die Mädchen an den Penis.«

Der BGH bestätigte in dem Beschluss das Urteil des Landgerichts, das den Angeklagten für die Tat zu einer Haftstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilte und Sicherungsverwahrung anordnete. Der BGH führt weiter aus: »Denn der Angeklagte hat gerade auch durch die Anlasstat, bei der er sowohl selbst sexuelle Handlungen an Kindern vorgenommen als auch diese zur Vornahme von sexuellen Handlungen an ihm aufgefordert hat, gezeigt, dass er es nicht bei exhibitionistischen Handlungen belässt, wenn die Situation günstig erscheint. Diese nach mehreren Therapien und langjähriger Strafverbüßung begangene Tat, die eine deutliche Steigerung gegenüber den in den letzten Jahren davor begangenen Taten aufweist, zeigt, dass die den Verurteilungen (…) zugrunde liegenden Taten als Ausdruck eines Hanges des Angeklagten gedeutet werden müssen, der nicht nur auf die Begehung exhibitionistischer Handlungen, sondern auch auf Sexualdelikte gerichtet ist, bei denen er aktiv auf Kinder zugeht und Körperkontakt sucht. Dies wird auch bestätigt durch die Vorstrafen (…) und entspricht der Einschätzung der beiden gehörten Sachverständigen, denen die Kammer gefolgt ist, auch wenn (…) zukünftige gewalttätige Handlungen des Angeklagten eher unwahrscheinlich sind. Die Sachverständigen haben im Übrigen, anders als die früher herangezogenen Sachverständigen, bei dem Angeklagten keine pathologische exhibitionistische Störung, sondern eine therapieresistente dissoziale Persönlichkeitsstörung diagnostiziert.«

Risikokontrolle und Ausschluss

Sieht man die Ursache abweichenden Verhaltens in der Biologie, sind Euthanasie, Eugenik und chirurgische Eingriffe ins Gehirn (Leukotomie) die nahe liegenden Forderungen. Das Thema ist alt. Das erste Gesetz, das die Sterilisationen von sozial Auffälligen regelte, wurde 1907 im US-Bundesstaat Indiana erlassen. Allein in Großbritannien wurden zwischen 1942 und 1961 über 10 000 Menschen Opfer psychochirurgischer Eingriffe. Die Leukotomie wurde zur »Beruhigung« der Betroffenen durchgeführt – und kostete 400 von ihnen das Leben.

Die ewige Wiederkehr der Biologisierung gesellschaftlicher Verhältnisse beschränkt sich dabei nicht auf die Hirnforschung. Konjunktur haben ebenso rassistische Erklärungsmodelle. Richard Herrnstein und Charles Murray haben in ihrem 1994 erschienenen Buch »The bell curve: Intelligence and class structure in American life« vorgegeben, den wissenschaftlichen Beweis dafür erbracht zu haben, dass die Klassenstruktur in den USA die unterschiedliche Verteilung der menschlichen Intelligenz widerspiegelt, die ihrerseits maßgeblich vom Erbgut bestimmt wird. Nicht soziale, ökonomische und kulturelle Faktoren formten den Menschen, sondern umgekehrt, die unter der Kontrolle der Gene befindliche menschliche Natur präge die Gesellschaft.

Und in der Juni-Ausgabe 2005 des Organs der American Psychological Association Psychology, public policy and law will der emeritierte Psychologieprofessor Arthur Jensen den Beweis dafür erbringen, dass Schwarze genetisch bedingt dümmer seien als Weiße. Die hohen Geburtenraten schwarzer Familien stellten folglich eine innere Gefahr für die Gesellschaft dar.

So erklärt sich, weshalb Rassenhygiene und Nationalismus stets eine unheilvolle Allianz eingehen. Die Identifikation des Bürgers mit den Zielen des Staates treibt ihn im Angesicht von Konkurrenz und prekärer Reproduktion dazu, schädliche Elemente innerhalb der Gesellschaft aufzuspüren und unschädlich zu machen. Den skizzierten Ansätzen ist also eins gemein – sie wollen Gefahren für die Allgemeinheit abwehren, um deren Wohlergehen zu fördern. Die sozialpathologische Schule in der Kriminologie versteht folglich die Gesellschaft als Organismus, deren natürliche Gesundheit sich durch das geregelte Leben bestätigt. Schwierigkeiten im Ablauf des gesellschaftlichen Lebens haben nach dieser Vorstellung ihre Ursache in kranken Elementen. Um Franz v. Liszt noch einmal zu Wort kommen zu lassen: »Wie ein krankes Glied den ganzen Organismus vergiftet, so frisst der Krebsschaden des rapide zunehmenden Gewohnheitsverbrechertums sich immer tiefer in unser soziales Leben.«

Vielleicht lässt sich nun die gegenwärtige Renaissance der biologischen Kriminologie verstehen. Die Kriminalpolitik, der sie dient, steht heute unter dem Vorzeichen von Risikokontrolle und Ausschluss. Gesellschaftliche Integration über ein erwartbares Normalarbeitsverhältnis ist angesichts von fünf Millionen Arbeitslosen eine wenig Erfolg versprechende Strategie sozialer Befriedung. Um der Überflüssigen Herr zu werden, bedarf es zu Zeiten von Hartz IV mehr als Resozialisierungsprogramme.

Anmerkungen

(1) Es dient der Steuerung von Verhaltens- und Denkprozessen. Limbisch kommt von Saum (Limbus).

(2) Der Teil des Hirns, der wohl wie ein Seepferdchen (Hippocampus) aussieht.

(3) Ebenso wie er sich bei Strafe seines Untergangs an der Rationalität des Marktes zu orientieren hat. Freiheit ermöglicht auch hier, das Scheitern am Markt dem einzelnen Warenhüter mit allen Konsequenzen zuzuschreiben.