Kein anderes Ereignis seit dem Spanischen Bürgerkrieg, lautete eine gängige linke Ansicht in den siebziger Jahren, werde im Gedächtnis der Lebenden und ihrer Nachkommen so tiefe Spuren hinterlassen wie der Militärputsch gegen die sozialistische Koalitionsregierung Chiles unter Salvador Allende. Und tatsächlich, bis in die späten Achtziger galt der General Augusto Pinochet mit seinem Bekenntnis zum Massenmord für die Freiheit (»Um die Demokratie zu retten, muss sie gelegentlich in Blut gebadet werden«) als Sinnbild antikommunistischer Menschenschlächterei. Er war würdiger Repräsentant einer monströsen Tradition, die neben Militärs unterschiedlicher nationaler und religiöser Provenienz, wie dem moslemischen General Suharto aus Indonesien und Francisco Franco, katholischer Caudillo Spaniens, den deutschen sozialdemokratischen Zivilisten Gustav Noske als Begründer zeigte. Das blutige Ende der Unidad-Popular-Regierung, begleitet von zustimmenden Kommentaren westlicher Politiker und Publizisten, war für die Linke ein Fanal: Ihr radikaler Teil sah sich in seiner Skepsis gegenüber einem »friedlichen Weg zum Sozialismus« bestätigt, ihr weniger radikaler Teil ließ den guten alten Antifaschismus hochleben. Alle zusammen genossen melancholisch-kitschige Flötenfolklore, und sehr oft wurde Pablo Nerudas Spanien-Gedicht rezitiert, dessen Strophen mit der Zeile enden: »Seht ihr nicht das Blut in den Straßen?« , was für wohlig-schaurige Gänsehaut sorgte.
Was immer in den Siebzigern und Achtzigern über das historische Gedächtnis der Linken gemutmaßt wurde, erwies sich als so wenig haltbar wie die meisten der damaligen Mutmaßungen. Heute erinnern an die Zeiten der linken Chile-Solidarität nur noch die Salvador-Allende-Straßen und -Plätze in grauen Ex-DDR-Trabantensiedlungen; im Westen sind es Studentenwohnheime und gewerkschaftliche Bildungseinrichtungen. Der Namenspatron gilt auch Linken, die ihn früher als im Kampf gefallenen Helden verehrten, mittlerweile als Selbstmörder. Und als General Pinochet 1998 in London der Menschenrechtsverletzung geziehen und für Monate arrestiert wurde, jubelten sogar Leute, denen einst nur die soziale Revolution als einzig angemessene Antwort auf die vom Demokratieretter begangenen Verbrechen erschien.
Mit dem historischen Gedächtnis der Rechten scheint es anders bestellt: Wie unzureichend die sozialpolitischen Maßnahmen der Regierung Allende tatsächlich auch waren, für diese Leute ist die Zeit der Unidad Popular nach wie vor eine Schreckensherrschaft, der Militärputsch folglich eine Erlösung. »Sein psychologisches Profil«, schwärmte Anfang Januar Die Welt über Pinochet, »war ohne Zweifel nicht das eines unbarmherzigen und düsteren Tyrannen. Der Öffentlichkeit erschien er wie ein zärtlicher Vater oder Großvater.« Und die Erfolge des mit zärtlich-fürsorglicher Hand folternden und mordenden Vaters der Nation können sich sehen lassen: »Konsequenz der bittersüßen Erfahrung des Pinochetismo (…) ist ein profunder Wandel der Ideen, politischer und wirtschaftlicher Maßstäbe. Der Populismus, die etatistische Revolutionsmentalität sind tot; stattdessen herrscht eine Vision der Entwicklung vor, die in den freien Markt, das Besitzrecht, die Öffnung nach außen und die Überlegenheit der Zivilgesellschaft in ökonomischen wie nationalpolitischen Fragen vertraut.«
In Cicero, dem sozialdemokratischen Magazin für geschwätziges Mitläufertum, legt Carlos Widman, ein aus dem Spiegel bekannter Mann fürs Grobe in lateinamerikanischen Angelegenheiten, noch einmal die publizistische Schlinge um den Hals des am 11. September 1973 getöteten Allende: »Dieser vorgebliche Demokrat hat für Chile nichts geleistet, außer die Demokratie bis zur Putschreife zu strapazieren.« Das ist historisches Gedächtnis in seiner Kontinuität: Schon einen Tag nach dem Putsch, am 12. September 1973, erschien die Bild-Zeitung mit der Schlagzeile: »Drei Jahre Marxismus und Chile war kaputt.« Von Pinochets Ahnherrn Gustav Noske ist immerhin das Eingeständnis überliefert: »Einer muss der Bluthund sein.« Ein sozialdemokratischer Weißwäscher unserer Tage wie Carlos Widman darf solch subjektivistischen Zierrat getrost vernachlässigen, Erfolg soll sich schließlich nicht mit Skrupeln herumschlagen müssen: »Pinochets subjektive Schuld ist strafrechtlich irrelevant. Allendes Ende war ebenso wenig ein Mord wie der Staatsstreich gegen ihn ein Verbrechen war.« Ein Linker wird noch längst nicht zum guten Linken, wenn er tot ist; besonders sein gewaltsamer Tod macht ihn zu einem eitlen, soziopathischen Egomanen und man soll es Widman wohl als Zurückhaltung anrechnen, wenn er die Frage präsentiert: »Kokettierte er (Allende) mit dem Untergang, fühlte der Freimaurer sich zum Märtyrer berufen?«
Der Weg vom Freimaurer zum Juden ist in der politischen Hetzprosa bekanntlich nicht weit. Doch wer erwartete, der tote Allende werde bald als Agent einer internationalen jüdischen Lobby vorgeführt, sieht sich nun getäuscht. Nicht Jude, sondern »glühender Antisemit« lautet der neueste Vorwurf. Erhoben wird er von Victor Farias, Privatdozent am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin. Im Gespräch mit der Jungle World geht der 65jährige Chilene, der seit 42 Jahren mit Unterbrechungen in Deutschland lebt, noch weiter: Ein glühender Antisemit? Untertrieben! Allende sei ein »brutaler Antisemit«, ja ein »Nazi« gewesen. Farias entdeckte im Zuge seiner Forschungen über den NS-Einfluss auf die chilenische Politik der dreißiger und vierziger Jahre im Archiv der Medizinischen Fakultät der Universität von Santiago de Chile die verschollen geglaubte Dissertation des jungen Allende.
Der damals 25jährige Mediziner hatte, wie Presseberichte nahe legten, unter dem Titel »Higiene Mental y Delincuencia« offenbar ein Machwerk vorgelegt, das durchaus Farias’ Einschätzung, Allende äußere sich darin »klar rassistisch und antisemitisch«, bestätigen könnte. Die Dissertation definiert – den Berichten zufolge – sozial abweichendes Verhalten, das sich vor allem durch mangelhafte Ausbildung eines »moralischen Gewissens« der »Delinquenten« auszeichne, als biologisch vererbt, daran anschließend erörtere der Autor Maßnahmen zur Erhaltung der »Volksgesundheit«.
Auch Homosexualität sei eine Erbkrankheit, die durch Transplantation von Hodenstücken in die Magengegend »geheilt« und so der »Kranke« in den Stand eines »moralischen Wesens« versetzt werden könne. Erscheint der Doktorand aufgrund seiner Ausführungen noch als sexualpathologischer mad scientist, gerät er durch Überlegungen über einen Zusammenhang von psychosozialer Delinquenz und »Rasse« an die Seite des Nationalsozialismus. Mochten seine Bestimmungen von »Nomadenvölkern«, Arabern, aber auch Spaniern und Italienern als »Rassen«, die unfähig seien, ein »moralisches Gewissen« zu entwickeln, die Ängste der damaligen chilenischen Mittelklasse vor einem Statusverlust spiegeln, den Berichten zufolge lässt die Dissertation keinen Zweifel aufkommen über die Sympathien des jungen Allende für den NS-Rassenantisemitismus. Der viel zitierte Satz lautet: »Hebräer sind durch bestimmte Verbrechensformen gekennzeichnet: Betrug, Falschheit und vor allem Wucher.« Allende habe sich auch offen zu antisemitischer Gewalt bekannt. »Diese angeblichen Charaktereigenschaften von Juden«, heißt es in einem Bericht der »Deutschen Welle«, »hält Allende für unheilbar. Daher helfe für die Erhaltung der ›Volkshygiene‹ nur Wegsperren, so Allende.«
Während seiner Tätigkeit als Gesundheitsminister der linken Regierung des Präsidenten Pedro Aguirre Cerda in den Jahren 1938/39 habe Allende unter Mitarbeit deutscher Mediziner ein »Programm zur Volkshygiene« vorgelegt, mit dem er vor allem Geschlechtskrankheiten und Alkoholismus durch Zwangssterilisation bekämpfen wollte. Vorbild dieses Programms sei ein 1934 im NS-Deutschland verabschiedetes Sterilisationsgesetz gewesen. Ausschließlich am Widerstand der chilenischen Ärzte sei Allendes Projekt gescheitert. Doch auch noch als Präsident habe Allende Sympathien für die Nazis gezeigt, indem er seine schützende Hand über den in Chile lebenden Nazi-Massenmörder Walter Rauff gehalten habe, die Bitte Simon Wiesenthals um eine Auslieferung Rauffs zurückgewiesen und so dem Verantwortlichen für die Produktion »mobiler Gaswagen« ein »politisches Asyl« gewährt habe.
Diese Vorwürfe gegen »eine der letzten linken Ikonen«, wie Allende nun von den hiesigen Medien tituliert wurde, hatten gesessen. Freude bei den Parteigängern des kapitalistischen Status quo und verdruckstes Schweigen der Linken waren die Folgen. Die richtigen Fragen – vor allem die nach dem Verhältnis von traditionellem Antikapitalismus und Antisemitismus – wurden nicht gestellt.
In Chile hat man Farias’ Veröffentlichung mit Zurückhaltung aufgenommen. Zwar wurde vor allem von der als Senatorin tätigen Tochter Allendes, Isabel, zurückgeschossen und Farias die bei Linken üblichen Verdächtigung angehängt. Doch die chilenischen Rechten ließen die Gelegenheit zum Auftrumpfen ungenutzt verstreichen.
Überraschenderweise sah sich der bereits erwähnte Carlos Widman veranlasst, in der Süddeutschen Zeitung Farias’ »verruchten Bestseller« abzuqualifizieren: »Selbst die (…) Pinochet-Nostalgiker, die nun hämisch auftrumpfen« könnten, »meiden das Thema.« Der junge Allende sei eben typisches Kind einer Zeit gewesen, heißt es in ihren Publikationen mit Verweis auf die seinerzeitige Sterilisationspraxis in Schweden und einigen Bundesstaaten der USA, in der sozialbiologistisches Denken hoch im Kurs gestanden habe, man solle deshalb die »Jugendsünden« des späteren Präsidenten nicht wichtig nehmen. Diesen Kreisen zufolge besteht sein Verbrechen nach wie vor in der Relativierung kapitalistischer Ordnung. Diese Einschätzung teilt auch Widman: »Allendes Bild in der Geschichte dürfte kaum bestimmt werden von ›Jugendsünden‹. Unendlich wichtiger als der Gesundheitsminister von 1939 war der gewählte Volksfront-Präsident von 1970 (…) Derselbe Rechthaber, der einem katholischen Land 1939 Euthanasie und Sterilisation aufzwingen wollte, hat ihm 30 Jahre später ›Sozialismus in Freiheit‹ beschert – eine Katastrophe, die nahezu unvermeidlich in die Diktatur führte.«
Vor zwei Wochen begannen die Anhänger Allendes eine Gegenoffensive. Die in Madrid ansässige Fundación Presidente Allende und die Berliner Chile-Freundschaftsgesellschaft »Salvador Allende e. V.« veröffentlichten Erklärungen, mit denen sie Farias’ Forschungsergebnisse zurückwiesen und als »Fälschungen« und Verdrehungen darstellten. Allende, heißt es darin, habe in seiner Dissertation keine rassistischen und antisemitischen Ideen formuliert, sondern diese zitierend angeführt, um sich von ihnen zu distanzieren. Auch habe er kein Sterilisationsprogramm vorgelegt, sondern sich für die Reform des chilenischen Gesundheitswesens und des Strafvollzugs eingesetzt. Als Präsident habe er den Nazi Rauff nicht gedeckt, sondern vielmehr in einer Korrespondenz mit Wiesenthal bedauert, ihn nicht ausliefern zu können. Dies wird durch die Dokumentation von Briefen tatsächlich nachgewiesen. Außerdem sei Allendes Dissertation nicht verschollen, zum Beweis stellte man sie ins Internet (www.elclarin.cl/ hemeroteca.html).
Sieht man sich die Arbeit an, findet man nicht viel. Außer einem furchtbaren Satz in der Einleitung: »Der Tarpäische Felsen, von dem die Römer der Antike die Missgebildeten und Geistesschwachen warfen, wird abgelöst durch die Gesetze der Euthanasie und der Eugenik.« Die Bemerkungen über »hebreos«, judios«, »gitanos« usw. im fünften Kapitel (»Klima, Rasse, Kollektivdelikte«) scheinen tatsächlich nur indirekte Zitierungen der Ansichten des Kriminologen Cesare Lombroso, eines ausgewiesenen Rassisten, und des uruguayanischen Mediziners José Maria Estapé zu sein. Der Verfasser scheint sich von diesen Aussagen vor allem durch die Feststellung zu distanzieren, es mangele »an präzisen Daten, um diese Einwirkung (der »Rasse«, H. P.) in der zivilisierten Welt zu beweisen«.
Soll man sich der Einschätzung, es handle sich um »Jugendsünden«, anschließen und auch nach dunklen Machenschaften des Doktor Farias fahnden? Vielleicht bringt ja ein Besuch im Berliner Lateinamerika-Institut Aufschluss.
Er, Victor Farias, habe der Fundación erst den Dissertationstext zur Verfügung gestellt, den sie nun im Netz präsentiere, sagt der ebenso lebhafte wie sympathische kleine Mann in seinem kleinen Büro. Das Gespräch mit ihm ist gleichermaßen anregend wie anstrengend. Selten trifft man heute an einer Universität noch Menschen, die dermaßen angefüllt mit Anekdoten und Erinnerungen sind und diesen Fundus so eloquent ausbreiten können wie er.
Eines wird im Laufe des von ständigen Anrufen und Anfragen unterbrochenen Gesprächs schnell deutlich: Farias’ Behauptung, Allende habe dem Nazi Rauff »politisches Asyl« gewährt, ist zumindest übertrieben, wahrscheinlich auf üble Erfahrungen mit der durch Gleichgültigkeit gegenüber den NS-Verbrechen sich auszeichnenden chilenischen Linken zurückzuführen. Farias hatte während einer Dozentur an der Universität Valparaiso zur Zeit der Unidad Popular als Mitglied der linksradikalen MAPU eine militante Aktion zuungunsten Rauffs vorgeschlagen und war deshalb von der Organisation, die sich der UP-Regierung in kritischer Solidarität verpflichtet fühlte, einem absurden Disziplinierungsverfahren unterzogen worden. Den Inhalt des Briefwechsels Allende/Wiesenthal kann er nicht entkräften.
Er kann allerdings nachweisen, dass der Gesundheitsminister Allende tatsächlich ein Sterilisationsprogramm unter Mitarbeit vom NS inspirierter deutsch-chilenischer Ärzte plante. Als Beleg überreicht er fotokopierte Artikel der chilenischen Medizinzeitschrift AMECH aus dem Jahrgang 1939, in denen Befürworter wie Gegner des Programms zu Wort kommen.
Und er weist nach, dass Allende in seiner Doktorarbeit tatsächlich antisemitisches Gedankengut vertrat. Zwar referierte dieser die rassistischen Theorien Lombrosos und Estapés, unterschlug aber, dass sie bei ihrer Einteilung der Menschen in »Rassen« die Juden niemals erwähnten, ja, dass der Rassist Lombroso selbst dezidierter Kritiker des Antisemitismus war. Farias war durch eine Kollegin auf Lombrosos Schrift »L’antisemitismo e le scienze moderne« von 1894 hingewiesen worden, deren Inhalt er dem Besucher ausführlich referiert. Allende nun hatte eine Lombrososche Schilderung angeblicher Kultivierung des Diebstahls durch indische Stämme als Ausgangspunkt einer Liste so genannter »Charaktereigenschaften« von Arabern, »Zigeunern« und Juden benutzt, an deren Schluss die zitierte antisemitische Schmähung erscheint. Daran schließt die ebenfalls zitierte Relativierung an, es mangele an »präzisen Daten« bezüglich der »zivilisierten Welt«. Weniger als Relativierung denn als perfide antisemitische Affirmation erscheint diese Äußerung, wenn man berücksichtigt, dass im gesamten Abschnitt nur die indischen Stämme als Zivilisationsträger erscheinen, Juden und andere unerwünschte »Rassen« hingegen als Träger von – quasi anthropologisch bedingten – »Charaktereigenschaften«. Ähnlich geht Allende in Bezug auf Estapé vor, in dessen »Klassifikation der Psychopathologie von Vagabunden« er den ersten Abschnitt (»ethnische Ursprünge«) durch den Terminus »judios« ergänzt.
Es ist also durchaus einiges dran an den Vorwürfen gegen den jungen Allende. Für die Auffrischung und den Erhalt des historischen Gedächtnisses der Linken wäre es dringend geboten, sich damit auseinanderzusetzen und die Frage nach dem Verhältnis von Sozialdemokratie, Staatssozialismus und Antisemitismus zu stellen. Wahrscheinlich wird man so auch auf unangenehme Wahrheiten über die Vergangenheit der heute in Müntes Mottenkiste schwirrenden Heuschreckenschwärme stoßen. Die »historische Würde« der Unidad Popular, die Notwendigkeit der Abschaffung des Kapitalismus wird dadurch in keiner Weise tangiert.