Der Hunger der Inder

in die presse

Bereits seit vielen Jahren reisen Esoteriker nach Indien, um an der Weisheit einer uralten Kultur teilhaben zu können und den geeigneten Guru zu finden. Seit einiger Zeit gesellen sich zu diesen Pilgern die Wirtschaftsesoteriker, die Prediger und Wunderheiler des modernen Kapitalismus, die in Indien nach anderen Gurus fahnden, nach den coolsten Ingenieuren, den smartesten Softwareentwicklern und den redegewandtesten Telefonistinnen.

Während der Esoteriker häufig Jahrzehnte der Meditation benötigt, um der Erleuchtung teilhaftig zu werden, gelangt der Wirtschaftsesoteriker schneller zum Ziel. Thomas L. Friedmann, ein Kolumnist der New York Times, brauchte nach seiner Ankunft in Indien Anfang Juni nur wenige Tage, um die Wahrheit zu erkennen.

Sofort entdeckte er den »unglaublichen Hunger«. Die Inder haben zu wenig zu essen? Hin und wieder vielleicht, die »verelendeten Slums« sind nun einmal schwer zu übersehen. Wichtiger aber ist der »Hunger nach Gelegenheiten«, den die junge Generation »nach vier Jahrzehnten Sozialismus« verspürt. Es ist ein Hunger, der die Grenzen von Raum und Zeit sprengt. Denn während »französische Wähler versuchen, die 35-Stunden-Woche zu erhalten«, sind indische Ingenieure »bereit, 35 Stunden am Tag zu arbeiten«. Schlechte Zeiten für Franzosen, die »ihren Appetit auf harte Arbeit verloren« haben.

Die Freude am Kapitalismus erfasse sogar die in Westbengalen regierenden Kommunisten. Als potenzielle Investoren ihnen erläuterten, dass sie nicht durch Streiks behelligt werden möchten, fanden sie schnell eine Lösung. Sie »erklärten die Arbeit in der Informationstechnologie zu einem ›wichtigen Dienst‹, so dass es für die Arbeiter illegal ist zu streiken«. So einfach kann die Arbeiterklasse nach Jahrzehnten der sozialistischen Knechtschaft befreit werden. Nun muss sich nur noch einer der unzähligen Götter der Hindus erbarmen und die Erddrehung verlangsamen, um den ersehnten 35-Stunden-Tag zu ermöglichen.

maxim kammerer