»Die Armee ist sehr besorgt«

Mirta Baravalle

Der Oberste Gerichtshof Argentiniens hat in der vorigen Woche die Gesetze über »notwendigen Gehorsam« und den »Schlussstrich« aus den Jahren 1986 bzw. 1987 für verfassungswidrig erklärt. Sie garantierten den Verantwortlichen der argentinischen Diktatur (1976 bis 1983) bislang Straflosigkeit. Jahrelang fochten Menschenrechtsgruppen diese Situation an, insbesondere die Mütter der Verhafteten und Verschwundenen.

Mirta Baravalle ist Mitbegründerin der »Madres de la Plaza de Mayo – Linea Fundadora«. 14 Frauen fanden sich am 30. April 1977 das erste Mal auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires ein, um gegen das Verschwinden ihrer Kinder zu protestieren. Mit ihr sprach Tom Kucharz.

Seit 28 Jahren setzen Sie jeden Donnerstag ein Zeichen gegen die Straflosigkeit. Wie kam die Initiative zustande?

Wir teilten ein gemeinsames Schicksal: Unsere Angehörigen wurden von der Armee wegen »revolutionärer Aktivitäten« verschleppt und waren seither spurlos verschwunden. Eines Tages sagte eine der Mütter: »Jede für sich erreichen wir nichts, warum gehen wir nicht gemeinsam zum Präsidentenpalast?« Wenn Videla (das Staatsoberhaupt in der Diktatur, T.K.) sieht, dass wir viele sind, muss er uns empfangen, das war die naive Vorstellung. Zuerst forderten wir unsere Kinder und Enkel zurück. Als wir ahnten, dass sie nicht mehr am Leben waren, wollten wir die Wahrheit über die Umstände ihres Verschwindens erfahren und klagten Gerechtigkeit ein.

Was war in Ihrem Fall geschehen?

Am 28. August 1976 stürmte die Armee unsere Wohnung, wir spielten gerade Scrabble. Sie verhaftete meine schwangere Tochter Ana Maria und ihren Mann Julio Cesar Galizzi. Von beiden fehlt bis heute jede Spur. Das gleiche gilt für mein Enkelkind, das in Gefangenschaft zur Welt gekommen sein soll. Man plünderte unsere Wohnung und schoss wild in der Luft herum, damit niemand von den Nachbarn wagte, über das Verbrechen zu sprechen.

Sind Sie nach all den Jahren nicht müde, jede Woche zu protestieren?

Nein. Solange es meine Beine erlauben, werde ich auf dem Platz sein. Unsere Kundgebungen symbolisieren die Anwesenheit unserer Kinder. Es ist unser Ort des Kampfes. Was uns weiterhin zusammenschweißt, ist in gewisser Hinsicht die Bereitschaft, den Kampf unserer Kinder fortzuführen, die sich für einen radikalen Wandel einsetzten und dafür mit dem Leben bezahlten.

Was bedeutet für Sie die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs?

Für uns ist das ein großer Triumph. Ich fühle mich erleichtert, bin glücklich und voller Hoffnung, dass die Greueltaten nicht weiter vertuscht werden.

Wie kam es zu diesem Urteil?

Es ist das Ergebnis langjähriger Forderungen der Menschenrechtsorganisationen, endlich die Wahrheit zu erforschen und die Verantwortlichen für den Staatsterrorismus einzusperren. Im Jahr 2001 erklärte der Richter Gabriel Cavallo die beiden Gesetze der achtziger Jahre für verfassungswidrig. Er verhandelte eine Klage wegen Kindesraub aus dem Jahr 1978. Die juristischen Mittel ließen es zwar zu, die gesetzeswidrige Entführung des Kindes zu bestrafen, nicht aber das Verschwindenlassen der Eltern des Kindes. Es folgte ein Dutzend ähnlicher Urteile verschiedener föderaler Gerichte.

Das Parlament verabschiedete im Jahr 2003 eine Art Gesetz gegen die Straflosigkeit. Was passierte damit?

Zwei Jahre lang lag es in den Schubladen, und wir fürchteten, dass die Justiz das Gesetz ignorieren werde. Doch in den letzten beiden Jahren gaben die Richter des Obersten Gerichtshofs aus der Ära Menem (des Präsidenten zwischen 1989 und 1999, T.K.) ihre Ämter ab. Dieser Personalwechsel führte zu dem Urteil, denken die meisten Argentinier.

Präsident Néstor Kirchner meint, nun sei das Ende der Straflosigkeit erreicht. Teilen Sie diese Ansicht?

Es besteht de facto die Möglichkeit. Seit 2003 gab es in der Menschenrechtspolitik der Regierung bedeutende Veränderungen. Das Amnestiegesetz wurde aufgehoben, und die Richter sind heute unabhängiger. Zurzeit werden vor den Gerichten 150 Verfahren gegen ehemalige Militärs und Polizisten verhandelt. Experten meinen, dass mit dem Urteil des Obersten Gerichtshofs in den nächsten Monaten etwa 500 neue Fälle hinzukommen.

Ist die Armee nervös?

Sie ist sehr besorgt, da sich die ehemaligen Offiziere nicht mehr verstecken können. Und die neuen Prozesse werden sich vor allem gegen die Militärhierarchie richten. Außerdem wurde es in den vergangenen Jahren populär, die Folterer und Mörder anzuprangern. Kinder und Enkelkinder der 30 000 »Verschwundenen« schreiben die Namen der Täter und ihre Greueltaten an Häuserwände. So erfahren die Nachbarn, mit wem sie über Jahre hinweg zusammenwohnten.

Warum hat sich Ihre Organisation stets gegen die Versöhnung ausgesprochen?

Weil unsere Kinder nicht aufgetaucht sind. Nur sie wären berechtigt zu entscheiden, ob sie sich versöhnen wollen oder nicht. Vergessen wir nicht, dass der Staat niemals um Verzeihung bat. Nicht einmal die Kirche, die mit der Diktatur unter einer Decke steckte, sprach sich jemals öffentlich gegen die Militärs aus. Das Schweigen führt die Komplizenschaft mit den Tätern fort.

Ende April wurde der ehemalige argentinische Offizier Adolfo Scilingo von einem spanischen Gericht wegen Verbrechen an der Menschheit zu 640 Jahren Haft verurteilt. Ihm wurde nachgewiesen, mindestens 30 Personen verschleppt, gefoltert und ermordet zu haben. Glauben Sie, dass dieser Präzedenzfall dazu beitrug, das Oberste Gericht in Argentinien zum Handeln zu bewegen?

Ja, das Urteil wegen Genozid in Spanien erleichterte es, auch in Argentinien diese Art von Straftaten zu ahnden, und könnte andere Gerichte ermuntern, ähnliche Prozesse zu eröffnen. Wir konnten die Aussagen Scilingos vor Gericht kaum glauben. Natürlich wussten wir von den Todesflügen, bei denen die aus politischen Gründen Verhafteten lebendig aus Transportflugzeugen ins Meer geworfen wurden. Das jedoch aus dem Mund eines Offiziers zu hören, der sich an ihnen beteiligte, war nicht leicht für uns. Nun gab es keine Zweifel mehr. Und es verstummte der Spott über die »verrückten Mütter, die mit ihren weißen Kopftüchern auf dem Platz umherlaufen und ihre Toten suchen«.

Aber existieren in Argentinien heute nicht neue Formen der Straflosigkeit? Etwa wenn es um die Repressalien gegen die Piqueteros und den Tod mehrerer Personen geht, die an Straßenblockaden teilnahmen?

Das ist richtig. In Argentinien existiert eine Mafia. Sie weiß, dass der Arm des Gesetzes sie nicht erreicht. Wir müssen aber an etwas glauben und wieder der Justiz vertrauen. Ein Ende der Straflosigkeit bedeutet auch, dass niemand einer anderen Person bestimmte Lebensformen aufzwingen kann. Deshalb beteiligen wir uns an den Demonstrationen gegen den Imperialismus und gegen die geplante gesamtamerikanische Freihandelszone (FTAA).

Sie haben sich in Madrid an einem internationalem Seminar über Globalisierung und Straflosigkeit beteiligt. Warum richtet sich Ihre Aufmerksamkeit vor allem auf Kolumbien?

Die Quote der Straflosigkeit für Menschenrechtsverletzungen liegt in Kolumbien zwischen 95 und 99 Prozent. In den letzten 15 Jahren dokumentierten die NGO Cinep sowie die Comisión Intereclesial de Justicia y Paz fast 15 000 Verbrechen, die von der Armee und den paramilitärischen Gruppen verübt wurden. Ein wahrer Staatsterror. Ich fliege mit dem Kompromiss nach Argentinien zurück, dass unsere Organisation an einer internationalen Kommission teilnimmt, die die Folgen der paramilitärischen Strategie des kolumbianischen Staates untersuchen wird.