Die Suche der Indígenas

Die sozialen Bewegungen in Bolivien kämpfen vor allem um Partizipation in einem System, das von einer rassistischen Oligarchie dominiert wird. von simón ramírez voltaire

Bolivien, früher ein von westlichen Entwicklungstheoretikern gern zitiertes Beispiel dafür, dass Demokratie und Marktwirtschaft auch dort funktionierten, wo die sozialen Unterschiede extrem sind, ist heute tief gespalten. Im Osten drängt eine rassistisch denkende Oberschicht auf die Unabhängigkeit ihrer florierenden Region vom bolivianischen Zentralstaat. Im Rest des Landes fordern Arbeiter, Arme und Indios die Verstaatlichung des Erdgassektors, damit auch sie von den Rohstoffen des Landes profitieren können.

Doch der Streit um das Erdgas ist mehr Symbol für den Streit um die neue politische Ordnung im Land als eine realistische wirtschaftliche Option für die Bekämpfung der Armut. Die Protestierenden laufen nicht allein gegen die juristisch fragwürdige und sozial ungerechte Privatisierung des Erdgasexportes Sturm. Sie kämpfen auch gegen die rassistische Ordnung, in der sie nicht viel zu sagen haben. Bolivien wirkt in vieler Hinsicht so, als ob es aus dem kolonialen Denken nie wirklich herausgekommen sei. Am auffälligsten ist das an jenen Orten, die für das moderne Leben stehen. In den Flughäfen, Straßencafés, Hotels und weiß getünchten Wohnsiedlungen sind überall Dunkelhäutige zu sehen, die den Weißen das Leben angenehm machen: als Kofferträger, Schuhputzer, Fahrer, Straßenhändler oder Hausdiener.

Nach offiziellen Umfragen fühlen sich 65 Prozent der Bolivianer als Angehörige einer Indígena-Gruppe. Beim Großteil der weißen Ober- und der höheren Mittelschicht, die ihr Zentrum vor allem im östlichen Santa Cruz haben, sind die »stinkenden Indios« verhasst. Auf ihren Gegendemonstrationen lassen hysterische Mittelschichtsweiße ihre Wut ab und brüllen ungehemmt ihre rassistischen Beschimpfungen heraus. In Santa Cruz gehen immer wieder organisierte Jugendliche mit Baseballschlägern auf indigene Demonstranten los und schlagen sie zusammen.

Das hängt auch damit zusammen, dass die Indígenas die gewohnte Rolle nicht mehr spielen. Nichts macht einen Weißen aus dem Kreise der »feinen Leute« wütender als ein Indio, der kein Indio mehr sein will. Ein Indio hat in den Augen der bolivianischen Oligarchie nichts in höheren Positionen zu suchen, er hat unterwürfig zu sein. In dieser Oligarchie sah die internationale Entwicklungszusammenarbeit lange Zeit das Potenzial für einen Demokratisierungsprozess. In den vergangenen fünf Jahren sorgten dagegen die stärker werdenden Proteste im ganzen Land dafür, dass indigene und ihnen nahe stehende Akteure die politische Bühne betreten haben. Wie es scheint, ist das eine für die bolivianische Demokratie unumgängliche Entwicklung.

»Das kolonisierte Ding wird Mensch«, sagte Frantz Fanon. Auch wenn Boliviens Befreiung von der Kolonialmacht Spanien 180 Jahre zurückliegt, gibt es Parallelen zu sozialpsychologischen Prozessen der Entkolonisierung, die Fanon in Algerien untersuchte. Um vom Objekt der europäischen Herrscher zum unabhängigen Subjekt zu werden, muss das »kolonisierte Ding«, so Fanon, an die Stelle des weißen Herrschers treten, im persönlichen Leben genauso wie in der Politik.

Damals lieferte Fanon eine Theorie der nationalistischen Befreiungsbewegungen. Er konnte sich als Subjekt der Befreiung nur ein nationales Kollektiv denken. Heute ist indessen klar: Solche Prozesse stehen zwar im dialektischen Verhältnis zum bürgerlichen Nationalstaat, sie müssen aber nicht zwangsläufig nationalistisch sein. Dennoch verwundert es nicht, wenn in derartigen Umbruchsituationen nationalistische und ethnizistische Akteure Gehör finden.

In Bolivien ist, ohne bewaffneten Kampf, ein ähnlicher Prozess im Gange wie damals in Algerien. Die unzähligen Akteure – Nachbarschaftsgruppen, Syndikate, Hochland- und Kokabauern, neue Parteien – sind in das politische Terrain eingedrungen, besetzen den öffentlichen Raum und machen sich zum Maß der Dinge. Trotz ihrer Pluralität sind sie so stark geworden, dass sie der Politik die Themen diktieren.

Es ist zwar nicht das erste Mal in der Geschichte Boliviens, dass Indígenas schlagkräftige politische Organisationen aufgebaut haben. Die Bauernorganisationen und die Dachgewerkschaft COB waren in den vergangenen 50 Jahren zeitweise mächtige Verbände, die die Rechte und Interessen der indigenen Arbeiter vertraten. Offenbar sind mit dem Einzug des Wirtschaftsliberalismus aber diese Errungenschaften verschüttet worden. Globalisierung und Privatisierung sorgten ab 1985 dafür, dass die Indígenas erneut an den Rand gedrängt wurden.

In den aktuellen Auseinandersetzungen werden immer wieder nationalistische und radikale ethnizistische Töne laut. So zum Beispiel von Felipe Quispe, einem Anführer der Hochlandbauern, der die Aymara-Nation gründen möchte. Ebenso gefährlich ist der erstarkende Camba-Nationalismus im Tiefland von Santa Cruz. Die weiße Oligarchie knüpft dort von der anderen Seite an der rassistischen Spaltung an und setzt sich den »Indios« der Anden entgegen.

Die Akteure, die indessen die rassistische und nationalistische Spaltung nicht zementieren, sondern überwinden wollen, haben es nicht leicht. In dieser Frage sind die Proteste im ganzen Land eher eine groß angelegte Suche nach der »Neugründung der Republik« als eine soziale Bewegung mit klar definiertem Ziel. Die Frage: »Was ist und welche Rechte hat ein Indígena?« muss künftig beantwortet werden. Die Forderung nach der Verstaatlichung des Erdgases ist dafür ein problematisches, vielerorts Nationalismus schürendes Vehikel.

Dennoch sollte man die emanzipative Einstellung wichtiger Akteure wie der Bewegung zum Sozialismus (MAS) nicht unterschätzen. Zumeist werden zwar die Rechte der Indígenas thematisiert, die damit verquickte Frage der sozialen Partizipation steht aber an erster Stelle. Im Sinne einer tief greifenden Demokratisierung der bolivianischen Gesellschaft stehen solche Akteure vor der Aufgabe, den Rassismus des Staatsapparats und der Politik zu überwinden. Ihr großes Verdienst ist es, dass überall im Land lokale Öffentlichkeit entstanden ist, in der die Marginalisierten die Politik zu ihrer Sache gemacht haben. Mit Fanon könnte man sagen: Sie sind politische Subjekte geworden. Allein durch die Teilhabe bislang Ausgeschlossener am politischen Prozess ist Bolivien etwas demokratischer geworden.

Das alte Bolivien existiert nicht mehr. Die Protestbewegung brachte das Machtgefüge und damit die Verfasstheit der Republik ins Wanken, ist aber zu schwach und zu heterogen, um selbst die Macht zu übernehmen. Sinnbild für diese Pattsituation ist der neue Präsident Eduardo Rodríguez, der das Land nicht regieren, sondern nur verwalten soll.