Lost in Transition

»Topographie der Erinnerung«: In Paris sprach man über Walter Benjamins »Passagen-Werk«.

In die Galerie Colbert hatte die Internationale Walter-Benjamin-Gesellschaft zusammen mit dem Karlsruher ZKM, der Pariser Elitehochschule École des Hautes Études en Sciences Sociales, dem Goethe-Institut und der Heinrich-Heine-Universität Anfang der letzten Woche geladen, um unter dem Titel »Topographie du Souvenir / Topographie der Erinnerung« drei Tage lang über Walter Benjamins »Passagen-Werk« zu diskutieren. Statt sattem Glamour bot der symbolkräftige Tagungsort nur einen etwas trüben Nachbau früherer Passagen, ausgestaltet mit falschem Marmor und kargen Seminarräumen. Gleich nebenan aber konnte man sich in der Galerie Vivienne von der monetären Glorie des Kapitals überzeugen. Sie gehört zu den wenigen und aufwendig restaurierten Passagen aus den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts, die den Kapitalismus des 20. Jahrhunderts überlebten, besser: überleben durften, hat man es doch mit einem Museum vergangener Klasse zu tun. Benjamin durchlief die Passage oft, um zur Bibliothèque Nationale zu gelangen, in der das »Passagen-Werk« zu großen Teilen entstand.

Seit der Erstveröffentlichung Anfang der achtziger Jahre ist das »Passagen-Werk« zum Mythos geworden, zum Steinbruch akademischer Forschung und Assoziationsfeld postmoderner Architekturdiskurse. Im Zentrum der unzähligen Zitate, Exzerpte, Aphorismen und Überlegungen stehen jene Pariser Warenhäuser und Passagen, die im Schatten der imperialen Architektur des französischen Empire der Ware ihren Glanz gaben. Unter dem Buchdeckel findet man allerdings Materialsammlungen zu Baudelaire, Marx oder Fragen der Mode und Erkenntnistheorie. Wer eine umfassende Abhandlung über die Passage erwartet, wird enttäuscht sein. Die Passage hat für Benjamin vielmehr die Funktion eines geheimen oder leeren Zentrums, an dem sich die Erinnerung (und die Theorie) entzündet. Paris ist für Benjamin ein memorialer Schauplatz, die Hauptstadt der Erinnerung.

In der Nachfolge Freuds, Bergsons und Prousts konzipiert die Erinnerung als zunächst einmal bewusst/unbewusste Erarbeitung vergangener Wunschbilder, Zukunftsentwürfe, Erinnerungen und so weiter, die in der Geschichte, speziell der kapitalistisch organisierten, verloren gegangen sind. Sie zu retten, ist Ziel des Benjaminschen Projekts. Wie das vor sich gehen soll, ist seit jeher mindestens strittig, wenn nicht unklar. Nur so viel: Benjamin versucht im »Passagen-Werk«, seine Gegenwart des 20. Jahrhunderts in die Welt des Traums zu verschieben, um sie dort in eine Konstellation mit dem 19. Jahrhundert zu bringen. Von einer solchen, im Medium der Literatur realisierten Konstruktion, erwartet Benjamin auf der Schwelle/Passage zwischen Traum und Erwachen den Moment des Erkennens, der rettenden Erinnerung an die verschüttete Geschichte. In einem seiner Exposés zum »Passagen-Werk« heißt es: »Dieser Epoche entstammen die Passagen und Interieurs, die Ausstellungshallen und Panoramen. Sie sind Rückstände einer Traumwelt. Die Verwertung der Traumelemente beim Erwachen ist der Schulfall des dialektischen Denkens. Daher ist das dialektische Denken das Organ des geschichtlichen Aufwachens.«

Ob es am Ort lag? Wie so vielen akademischen Tagungen fehlte auch dem Pariser Zusammensein dann leider die echte Kontroverse. So hörten sich viele Vorträge an wie zu ausgewogene, gut balancierte und etwas uninspirierte Annäherungen. Die Diskussionen passten sich zu oft und willig dem Stil der Vorträge an. Sie erschöpften sich in einer Aneinanderreihung von Koreferaten, also nebulösen Probebohrungen und Selbstdarstellungen. Lebendiger ging es auf dem Nachwuchspanel zu, in dem zum Thema »Paris, die Stadt im Spiegel« lustvoll spekuliert und diskutiert wurde.

Abseits von Stil- und Themenproblemen fiel besonders auf, dass man sich hütete, den Blick über Akademia hinaus auf die Gegenwart zu wagen. Dabei haben die Erinnerungsdiskurse der letzten Jahre, Stichwort: Holocaustmahnmal, die Steilvorlage dafür gegeben, sich im Zusammenhang mit Walter Benjamin der gegenwärtigen nostalgisierenden Zeichenproduktion zuzuwenden. Aber auch unterhalb des Erinnerungsmainstreams, den Eisenmans Stelenfeld nach den endlosen Diskussionen um das Für und Wider monumentaler Denkmäler leider repräsentiert, stand und steht Benjamin im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen um den öffentlichen Raum. Das »Passagen-Werk« ist nicht umsonst immer wieder Ausgangspunkt für kritisch gesinnte Stadtplaner und Aktionsbündnisse gegen die Vertreibung Obdachloser, also für politische Initiativen aller Art, die sich gegen die Disziplinierung, Kontrolle und Privatisierung des öffentlichen Raumes wehren.

Der Philosoph und Literaturwissenschaftler Irving Wohlfarth haute dementsprechend am zweiten Tagungstag, der sich explizit dem Thema »›Le Passagen-Werk‹ aujourd’hui« widmen sollte, auf den Tisch und forderte alle auf, Benjamins Projekt in der Gegenwart und möglichst besser weiterzuführen. Viel Zustimmung fand er mit diesem Vorschlag nicht. Vielleicht auch deshalb nicht, weil er nicht zu sagen wusste, wie Benjamin denn nun operationalisiert werden soll. Aus dem Publikum wurde im Anschluss an seinen Vortrag die Kritik laut, dass Wohlfarth und andere nicht wahrnehmen wollten, dass Benjamin heute sehr wohl politisch wirksam sei, allerdings nicht in Europa, sondern zum Beispiel in Brasilien. Dort führten sowohl Sozialwissenschaftler als auch Architekten sein Erbe in kritischer Absicht weiter. Alles eine Frage der Perspektive also?

Als Einziger versuchte sich der amerikanische Literaturwissenschaftler Rolf Goebel an der Frage, welche methodische Grundlage das »Passagen-Werk« bietet, um sich der postmodernen Großstadt anzunehmen. Im Anschluss an Benjamins Theorie des Flaneurs wies er zunächst darauf hin, dass solche Räume wie der Potsdamer Platz die Flanerie in keiner Weise zulassen würden. Aber auch Restitutionsprojekte wie die Neugestaltung der Friedrichstraße und der Neubau des alten Stadtschlosses in Berlin hätten nur eine Reinszenierung vor Augen. Sie simulierten den Benjaminschen Flaneur, ermöglichten ihn aber nicht. Und in der Tat: Ziel derartiger großstädtischer Simulationsprojekte ist nicht die Vervielfachung der Erfahrung, sondern die Einpassung des Subjekts in die Form der Ware. So weit und so schlecht für die Zukunft der Stadt. Foucaults Arbeiten zur Disziplinierung des Subjekts in der Moderne und Althussers Reproduktionstheorie haben in dieser Hinsicht schon reichlich desillusioniert. Doch was tun?

In einem wichtigen Beitrag wies der Frankfurter Medienforscher Burkhardt Lindner darauf hin, dass Benjamin die Stadt / den Raum nicht im Kantschen Sinne als Behälter behandelt, sondern als Konstrukt seiner Aktanten. Folgerichtig lässt sich die heutige Großstadt nicht festlegen auf einen bestimmten Ort, sondern schafft sich global Raum als Ensemble von Büro- und Fresstempeln, die keiner nationalen Geographie gehorchen. Weder New York noch Shanghai, auch nicht Rio oder Tokio stehen für die Hauptstadt des 21. Jahrhunderts, sondern jene globalisierten gesellschaftlichen Praxen, die sich in der Stadt materialisieren. Was aus einer solchen Einsicht für die Gegenwart folgt, wollte auf der Tagung keiner so recht wissen. Geschickt umging man die Frage nach der politisch-ökonomischen Konsequenz, die sich aus Benjamins Analyse der modernen Großstadt ergibt. Auch sein historischer Materialismus beschäftigte keinen so recht. Vielleicht, weil vorne da ist, wo Marx ist?