Aus der Balance

Das parlamentarische System der Bundesrepublik, das auf Ausgleich und Konsens zielte, steckt in einer tiefen Krise. von felix klopotek

Wir wollen nicht alles anders, aber vieles besser machen.« Das war vor sieben Jahren der Wahlkampfslogan der SPD. Für viele Kritiker war dies ein untrügliches Indiz dafür, dass die Sozialdemokraten niemals eine linke Politik im Sinn hatten. Wer der Partei diesen Spruch vorgeworfen hat und sich vielleicht jetzt, da die Abwahl der rot-grünen Bundesregierung bevorsteht, mit einer gewissen Schadenfreunde daran erinnert (Wenn schon der Anfang verkorkst war, muss man sich nicht über das würdelose Ende wundern!), macht sich Illusionen. Was wäre denn anders gelaufen, wenn die SPD mit dem Anspruch angetreten wäre, alles anders zu machen? Hätte sie sich diesen Anspruch überhaupt erlauben können? Tatsächlich drückt sich in diesem Motto ein Sachverhalt aus, der für das Selbstverständnis des hiesigen politisch-parlamentarischen Systems grundlegend ist und dessen Substanz derzeit rapide schwindet.

Konsens und Vermittlung

Es geht um die Vermittlung von Macht. Das parlamentarische System soll so geregelt sein, dass keiner partikularen gesellschaftlichen Kraft der politische Durchmarsch möglich ist. Zum Selbstverständnis der Bundesrepublik zählte, dass die Stärke einer jeweiligen Regierung darin liegt, Macht abzugeben, den Weg des Ausgleichs und der Vermittlung zu suchen. Nicht die Erringung von Macht, sondern ihre Verteilung, ihre Balance war das Entscheidende.

Verschiedene Konstruktionen sollten diese garantieren. Vor allem die Gewaltenteilung, dann der im Bundesrat manifestierte Föderalismus, also die Anerkennung, dass viele auf Bundesebene beschlossene Gesetze der Zustimmung der Länder bedürfen, schließlich die freiheitlich-demokratische Grundordnung (FDGO) mit ihrer Verpflichtung zur Liberalität. Unternehmervertreter, Gewerkschaften und Kirchen sind durch die Parteien eingebunden und im Parlament aufeinander angewiesen. Denn im Idealfall, der der Regelfall sein soll, hat jede Interessensgruppe, jede Partei nur einen begrenzten Einflussbereich, mithin nicht die weitreichende Macht, die anderen auszuschalten. Aus diesem System der checks and balances folgt eine Kontinuität der Politik, ein Zwang zum Konsens, den liberale, konservative und selbst linke Politikwissenschaftler loben, als Bollwerk gegen Partikularinteressen, gegen Stimmungsmache, gegen das Chaos der überstürzten Entscheidungen und in letzter Konsequenz: als Bollwerk gegen den Faschismus.

Darauf bezog sich der Slogan der SPD. Bereits in der sicheren Ahnung, dass man die Kohl-Regierung ablösen werde, kündigte die SPD an, deren Errungenschaften zu bewahren und deren Leistungen anzuerkennen. Eine Regierung wird nicht abgewählt, um einen grundsätzlichen Wandel einzuleiten, sondern weil sie so ausgelaugt ist, dass sie der Agenda, Deutschland nach innen konsensual zu regieren und nach außen für den imperialistischen Wettstreit optimal zu platzieren, nicht mehr Folge leisten kann.

Sicher, es gab Lagerwahlkämpfe, regelrechte Kulturkämpfe. Aber der Hintergrund war stets der alles zusammenzwingende Konsens. Wenn gegen Franz-Josef Strauß und noch gegen Edmund Stoiber heftig polemisiert wurde, dann deshalb, weil die liberalere Seite diesen Rechtskonservativen eine zukünftige Verletzung der Machtbalance unterstellte. Auch der schärfste Lagerwahlkampf fußt immer auf der Grundlage, dass beide Lager für sich in Anspruch nehmen, dem Konsenszwang der FDGO besser nachzukommen. Was stattfindet, ist die Transformation des gesellschaftlichen Klassengegensatzes in einen weniger scharfen Interessenskonflikt und schließlich dessen Übersetzung in einen Detailstreit um die bessere Regierungstechnik.

Die Krise der Vermittlung

Man könnte also der Wahl im Herbst entspannt entgegensehen und sich wichtigeren Dingen zuwenden, gäbe es nicht Anzeichen, dass der scheinbar so perfekt eingespielte Mechanismus der Machtvermittlung in ein Stadium des Verschleißes eintritt. Es gibt eine Krise der Vermittlung, und es scheint diese Krise zu sein und nicht ein abermals sich ankündigender Lagerwahlkampf, die für die aktuelle, ebenso hektische wie leer drehende Betriebsamkeit der Parteien sorgt.

Diese Krise geht letztlich auf den Widerspruch zurück, dass das parlamentarische System der Vermittlung dort Konsens erzielen muss, wo es keinen Konsens gibt: im gesellschaftlichen Leben. Dieses ist vom Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital bestimmt; der Tatsache, dass für die einen der zu zahlende Lohn eine Größe ist, die den Profit schmälert, während für die anderen der Lohn die Grundlage der Daseinssicherung bildet. Der Staat setzt hier durch das parlamentarische System und die in ihm eingekapselten Interessensgegensätze vermittelnd an. Er moderiert diesen Konflikt, verweist das Kapital in seine Schranken und hilft, die lohnabhängige Bevölkerung zu beschwichtigen.

Nun ist es so, dass das Kapital für gewöhnlich schneller als die Politik ist. In der Politik wird diskutiert, verhandelt und balanciert, es geht langsam voran. Diese Form der Konfliktmoderation gerät dann in die Krise, wenn das Kapital in zunehmend schnellerer Geschwindigkeit und bedingt durch die internationale Konkurrenz nach neuen Verwertungsbedingungen sucht.

Irgendwann schlägt das auf das parlamentarische System durch, die komplizierten Vermittlungsformen – die außenpolitisch noch nie viel galten, da kann Schröder ganz ungeniert mit Wladimir Putin eine Männerfreundschaft zelebrieren – werden lästig.

Wie lästig sie mittlerweile sind, kann man anlässlich der bevorstehenden Wahl beobachten. Allein die Offenherzigkeit, mit der diskutiert wird, wie man die Vertrauensfrage inszenieren kann, spricht Bände.

Der Faktor Populismus

Das Problem ist nicht die Wiederkehr des Populismus, personifiziert durch Oskar Lafontaine. Es gab immer Platz für Populisten, abgesichert durch den namenlosen Abgeordneten, der im Hintergrund der Fuchtler und Hetzer die Wogen glättete und für den Ausgleich sorgte. Der Populist im parlamentarischen System der BRD hat die objektive Funktion, die desintegrierenden Fliehkräfte des Systems zu bremsen. Jürgen Möllemann weckte eine antisemitische Klientel, machte sie aber damit sichtbar, identifizierbar, eingrenzbar. Er wollte stets im parlamentarischen System tricksen, was den Unterschied zu einem waschechten Faschisten ausmacht, der so schnell wie möglich das System zersetzen will. Auch Lafontaine ist kein wirkliches Problem. Die politischen Beobachter sind sich einig, dass Lafontaine eigentlich »seine« SPD wiederhaben will, dass er die Schröder-Clique scheitern sehen und sich als den einzig wahren sozialdemokratischen Führer im Spiel halten will.

Der Verschleiß wird durch die populistischen Außenseiter allenfalls forciert, den Ausgangspunkt nimmt er von innen, er geht vom politischen Mainstream aus. Das kann man an drei Phänomen beobachten: an dem Tabula-Rasa-Gefuchtel der CDU, der Aushöhlung der SPD und schließlich an den widersprüchlichen Reaktionen, die die alt-neue Linkspartei hervorruft.

Den Konsens kündigen

»Weil sich die Schwarzen an die Perspektive, für lange Zeit machtvoll durchregieren zu können, so schwer gewöhnen, drückt sich die alte Kleinlichkeit noch durch. Dabei ist es doch angesichts der tiefen Krise und der großen Macht egal, ob eine Unionsregierung drei, vier Landtagswahlen verliert. Politische Peanuts.« Durchregieren, alte Kleinlichkeit – so äußert sich der Zeit-Redakteur Bernd Ulrich in einem Artikel, der sich in einer erzliberalen Zeitung wie eine Aufforderung zum Staatsstreich liest: »Es heißt immer, Politiker wollten Macht, möglichst viel Macht. Hoffentlich stimmt das.« Die CDU, der die absolute Mehrheit droht, die den Bundesrat dominiert, den Bundespräsidenten und auch den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes auf ihrer Seite hat, solle diese Machtfülle nutzen und sich nicht verzetteln. Denn wir leben in einer »Phase«, »in der fast nichts mehr geht«, die schnelles, schmerzhaftes Eingreifen erfordert. Eben: durchregieren.

Der politische Mainstream soll von sich aus den Konsens aufkündigen und die einmalige Konstellation der schwarzen Hegemonie zu einer Politik der konsequenten Entscheidung nutzen. Prompt verkündet die FAZ: »Mit dem Versprechen einer ›Politik aus einem Guss‹ und dem Anspruch, ›es grundlegend anders zu machen‹, will die Kanzlerkandidatin der Union, Angela Merkel, in den Wahlkampf ziehen.« Das ist Wahlkampfgeplänkel, aber nicht nur. Bewusst wird der Bruch gesucht, erst recht, wenn man vorhat, Schröders Politik konsequenter fortzusetzen. »Deutschland steht am Scheideweg«, lautet Merkels Wahlspruch.

Die Notstandstaktik

Auch Schröder hat auf Tabula Rasa gesetzt und sich in einem recht einsamen Moment zu Neuwahlen entscheiden. Gegen alle Vermittlung wollte er über die Auflösung des Bundestags Handlungsspielraum wiedergewinnen. Die vorzeitige Auflösung eines gewählten Parlamentes ist im Prinzip Notstandstaktik, und eine solche fordert den starken Mann. Da der Kanzler nicht direkt gewählt wird, sondern auf die stärkste Fraktion im Parlament angewiesen ist, hätte die fingierte Notstandssituation nicht nur einen starken Kanzler, sondern auch eine intakte, in sich geschlossene und zu allem entschlossene Partei erfordert. Die ist nun wie morsches Holz weggebrochen.

Die SPD ist in sich konsensual strukturiert gewesen, angewiesen auf die Vermittlung eines irgendwie als links geltenden und eines pragmatischen Flügels. Dieser Konsens hat unter der rot-grünen Regierung außer den SPD-Linken niemanden mehr interessiert, mit dem Ergebnis, dass keine parlamentarische Gruppe so häufig als überflüssig vorgeführt wurde wie diese Linke. Die Folgen für die Gesamtpartei kann man an den täglich wechselnden Gefühlslagen prominenter und weniger prominenter Sozialdemokraten ablesen. Sie schwanken zwischen Trotz, Depression und Hysterie.

Integration nicht vorgesehen

Schließlich die Linkspartei. Sie ist ein Beispiel für politisches Outsourcing, eine schlecht gelaunte, aber dennoch 100prozentige Tochtergesellschaft der SPD. Auch das könnte man gelassen sehen und abwarten, ob in vier, acht oder zwölf Jahren die Wiedervereinigung stattfindet.

Das Ausmaß der Häme, mit der sie überzogen wird, überrascht. Immerhin: Ein großer Teil der Basis von PDS und Wasg versteht sich nicht als »links«, sondern pocht schlicht auf seinen Frust. Der schnauzbärtige, schlecht sitzende Anzüge tragende, rechtschaffende Aktivist der Wahlalternative, der 30 Jahre SPD-Mitglied war, oder der fleißige und aufmerksame PDSler, der in seinem Wohnblock so beliebt ist – sie könnten problemlos als Stützen der Gesellschaft durchgehen. Man sollte PDS und Wasg als Korrektur der überhitzt agierenden SPD ansehen, als Ansporn für die Mutterpartei, sich wieder ein schärferes Profil zu geben.

Stattdessen liest man Artikel, in denen die Linksaktivisten gleichzeitig als gefährlich (Stichwort: »Fremdarbeiter«) stilisiert und als strunzdoof (Stichwort: »Konzepte aus den siebziger Jahren«) abgetan werden. Die Inkonsistenz setzt sich fort. Mal repräsentiert die Linkspartei vermeintlich privilegierte Kernbelegschaften, die mit Blut, Schweiß und Tränen »ihren« Sozialstaat gegen »Fremdarbeiter« verteidigen; dann steht sie für den Pöbel, die entkoppelten Unterschichten, um die sich keiner mehr so richtig kümmert und die deshalb zu freiwilligen Opfern des Populismus werden.

In diesen Kommentaren ringen zwei Haltungen miteinander. Zum einen äußert sich elitärer Hass auf die Unterschichten. Die erdreisten sich ja, eine abweichende Meinung zu haben! Dass die meisten Kommentatoren und Politiker erst gar nicht auf Integration dieses zutiefst sozialdemokratischen Milieus setzen, ist ein Indiz, dass im Inneren des politisch-parlamentarischen Systems zunehmend weniger an seine Vermittlungsleistungen geglaubt wird. Das passt zu den Sehnsüchten, die CDU möge die Macht, die ihr bald zufallen wird, rigoros ausspielen.

Zum anderen steckt in der Häme die Angst, es könnte sich vielleicht doch eine eigenständige politische Kraft entwickeln. Diese Angst äußert sich im »Von-Tür-zu-Tür«-Bild. Immer wenn eine politische Bewegung auftaucht, die als Gefahr für die parlamentarische Demokratie angesehen wird, egal ob diese Bewegung »links« oder »rechts« ist, bemühen Kommentatoren dieses Bild. Die Aktivisten der Bewegung gehen von Tür zu Tür, sie sind es, die mit den Leuten von ganz unten sprechen, sich ihre Sorgen anhören und einfach durch ihre Präsenz als Alternative dastehen. Von Tür zu Tür zu gehen, ist eine Form der Unmittelbarkeit, die das parlamentarische System unterlaufen kann. Das direkte Gespräch steht im Gegensatz zum Parlament als »Schwatzbude«.

Die Fähigkeit zur wohl dosierten unmittelbaren Kommunikation scheinen die etablierten Parteien verloren zu haben. Als Lafontaine sein SPD-Parteibuch zurückgegeben hat, gab es einen hübschen Artikel in der Zeit über den Bedeutungsverlust des Parteibuchs. Einst ging der jeweilige Kassenwart von Tür zu Tür, um persönlich die Beiträge einzusammeln und die Belegmarken auszugeben, die man brav ins Büchlein einzukleben hatte. Das habe das Zusammengehörigkeitsgefühl ungemein gestärkt. Seit geraumer Zeit wird der Mitgliedsbeitrag unpersönlich vom Konto abgebucht.

Ratzinger

Kommt mit Merkel und Lafontaine der Terror der Unmittelbarkeit? Vielleicht sollte man an dieser Stelle über den eigenen Tellerrand hinausschauen. Es gibt offenbar viele Menschen, vor allem jüngere, die nach wie vor eine Vermittlung der Widersprüche wünschen. Diese Vermittlung sehen sie zur Zeit durch den Papst und seine Kirche ausgedrückt. Ausgerechnet! Mindestens eine Million Menschen wird zum Weltjugendtag in Köln erwartet. Alle freuen sich auf das Gemeinschaftserlebnis, die wenigsten interessieren sich für die katholische Sexualmoral. Die jungen Leute bringen Joseph Ratzinger große Bewunderung entgegen und strafen seine Ansichten mit konsequenter Missachtung. Dieser Zwiespalt ist gewollt. Die Widersprüche im Umgang mit der katholischen Kirche und dem Glauben scheinen für viele reizvoller als die knallharten, keinen Widerspruch duldenden neuen Spielregeln des politischen Geschäfts.

Aber wie absurd muss eine Situation sein, in der Ratzinger die Alternative zu Merkel-Schröder-Lafontaine ist?