Politische Aktion

Anmerkungen zu einer Re-Lektüre meines Textes »Acht Thesen zu einer militanten Geschichtsschreibung« aus dem Jahr 1977. Von Sergio Bologna

Die auf den nächsten Seiten formulierten Thesen wurden Mitte der siebziger Jahre erarbeitet und in der zweiten Hälfte veröffentlicht. Man sollte sie deswegen als »historisches Dokument« lesen, nicht als methodischen Ansatz. Sie stellten den Versuch dar, die programmatische Grundlage der Zeitschrift Primo Maggio zu erläutern.

Im ersten Heft von Primo Maggio präsentierten sich den Lesern diejenigen als »militante Historiker«, die die Ereignisse der Gegenwart als Instrument für das Verständnis der Vergangenheit und umgekehrt die Ereignisse der Vergangenheit als Aktionsmittel für die Gegenwart benutzen wollten. Diese Formulierung genügte, um ihre Ausgrenzung aus dem geschichtswissenschaftlichen Ambiente zu besiegeln. In der Tat hatten sie nur mit anderen Worten gesagt, was sogar der Vater des italienischen liberalen Denkens, Benedetto Croce, mit dem Spruch sagt: »Die Geschichte ist immer Zeitgeschichte.«

Der Unterschied zu Croce war, dass die Redaktionsmitglieder von Primo Maggio die Arbeiterklasse und ihre Kämpfe als Motor der Zeitgeschichte ansahen. Wenn aber diese Thesen nur als Archivbestand betrachtet werden sollen, warum verdienen sie noch Aufmerksamkeit? Weil sie beweisen – man hatte damals mit einer gewissen Vorahnung der zukünftigen Entwicklung ganz klar verstanden –, dass die Geschichtsschreibung ein sehr wichtiges, vielleicht das wichtigste Kampffeld zwischen Linken und Rechten ist. Nicht nur die politische Ökonomie, das Verfassungsrecht, das Arbeitsrecht, die politischen Wissenschaften, die Staatstheorie, die Ästhetik, die Volkskunde usw., auch die Geschichtsschreibung ist Grundstein eines politischen Denkens. »Militanter Historiker« zu sein, bedeutet nicht, marxistisch orientierter Historiker zu sein, bedeutet einfach, dass Geschichte zu schreiben eine bewusste politische Aktion ist.

Die so genannte Objektivität ist eine Stilfrage: Man kann mit einem »objektivistischen Stil« Geschichtsbücher schreiben, aber man kann nicht »objektiv« sein. Dieser Ansatz wurde damals einfach als Sektierertum liquidiert. Zehn Jahre später, als der »historische Revisionismus« von Francois Furet oder Ernst Nolte den öffentlichen Diskurs zu beherrschen begann, als die Massenmedien die »Revisionshistoriker« fast wie Popstars zu feiern begannen, blieb die Linke fassungslos und nahm die Haltung eines desinteressierten Beobachters an. Sie verstand nichts von dem, was unter ihren Augen passierte, eine tiefe, zum Teil sehr kluge und politisch effiziente Kulturrevolution: Die europäische middle class verzichtete auf die alte bürgerliche politische Kultur. Die Bourgeoisie hatte die Wurzeln ihrer politischen Identität in den Ideen der französischen Revolution (liberté, égalité, fraternité) verankert. An diese Ideen war die Vorstellung eines (formell) demokratischen Staates gebunden.

Die Neo-Bourgeoisie der neunziger Jahre warf diese Tradition weg, weigerte sich, sich mit dieser Tradition zu identifizieren. 1989 wurde die französische Revolution 200 Jahre alt. Le Monde, die Zeitung der (sozial-) liberalen Bourgeoisie, begann die Veröffentlichung einer Monatsbeilage, der Geschichte der Revolution gewidmet. Titel des Leitartikels der Ausgabe, die diese Serie beginnen sollte, war: Vive le roi! In den Vereinigten Staaten war die Gegenrevolution der neo-cons in vollem Gange, aber die Linke war zu sehr mit der political correctness beschäftigt.

Im Jahr 1989 ist Primo Maggio seit drei Jahren eingestellt. Dem Verfasser der Thesen, Dozent für Geschichte der Arbeiterbewegung an der politikwissenschaftlichen Fakultät der Universität Padua, wurde im Februar 1982 der Lehrauftrag entzogen, seine Stelle abgeschafft. 1989 war er schon lange aus der Lehre entfernt. Aber andere Kollegen der Redaktion der Zeitschrift führten ihre Forschung innerhalb oder außerhalb der Universität individuell fort, später gründeten einige davon andere Zeitschriften.

1991/92, mit dem Ausbruch des Golf-Krieges, fanden sich einige von den alten Redaktionsmitgliedern von Primo Maggio wieder zusammen, um das Problem des »Geschichtsrevisionismus« zu thematisieren. Ein kleines Immunsystem wurde geschaffen und beim radikalen linken Spektrum auch akzeptiert. Ein Buch mit dem Titel »Lezioni sul revisionismo storico« wurde mit eigenen Mitteln gedruckt. Wie das Gesicht der Neo-Bourgeoisie aussah, zeigte in Italien die erste Regierung Berlusconi ganz klar. Um der neuen Partei Forza Italia Wahlstimmen zu entziehen, übernahm die Mehrheit der ehemaligen kommunistischen Partei, damals schon in drei verschiedene Parteien aufgespalten, die Thesen des »Historischen Revisionismus« und setzte diesen Kurs fort, als sie, in »Demokratische Sozialisten« umbenannt, 1996 an die Regierung kam.

Die postfordistische Gesellschaft stellt eine echte Revolution dar. Nach der Zerstörung der Arbeiterklasse bereitet sie jetzt die Auflösung der middle class, hauptsächlich in Europa, vor. Wollte man heute die »Acht Thesen« neu schreiben, sollte man zuerst einmal die Merkmale der neuen Klassenzusammensetzung, der neuen Arbeitsformen und der Arbeitsverhältnisse im Postfordismus erforschen (hier ist schon einiges geschehen ) und danach einen neuen geschichtswissenschaftlichen Ansatz herausarbeiten (wovon man noch weit entfernt ist). Die Vergangenheit hilft uns wenig, und noch weniger die alten Formen der sozialen Konflikte.