Der falsche Schlaf

Olaf Arndt über die Mythologie und die Entwicklung »nicht tödlicher Waffen« wie Elektroschock-Taser, biotechnologische Gase, Klebeschaum und Mikrowellen.

Die Beruhigung

Russland, im Winter 2002. Auf den Rängen des Theaters sitzen junge Menschen und schlafen. In schwarze Gewänder gehüllt, als folgten sie der Regieanweisung in Euripides’ Stück »Alkestis«. Ganz in schwarzem Tuch, mit einem Schwert in der Hand, so lässt der Dichter den Todesgott Thanatos auftreten. Sie schlafen, als sei Thanatos’ Zwillingsbruder Hypnos zu ihnen gekommen und habe sie in der Stille der Nacht angehaucht. Sie tragen den Tod, den sie bringen wollten, im Schoß, schwere Gürtel, gefüllt mit Sprengstoff. Sie, die Boten und Darsteller des Todes, sind nach Moskau gekommen, um, wie sie sagen, zu sterben. Im Mythos birgt Hypnos mit seinem Bruder die Leichen des Schlachtfelds. Sie, die Tschetschenen, haben fern der Heimat und vor den Augen der Welt Theater und Agon zusammengeführt: als agonales Schauspiel. Der Kampf, den sie führen, endet in der Bewusstlosigkeit. Ein unbekanntes Sedativum hat sie in die Sitze sinken lassen. Müde geworden nach Tagen der Anspannung im Rund der Ränge, weicht nun mit dem einströmenden Hypnagogum endgültig das Leben aus ihnen. Vielleicht wirken sie auf den Bildern in den Medien deshalb so entspannt.

Calmatives (Morpheus ist der Sohn des Hypnos), starke, schnell wirkende Beruhigungsstoffe, als Gas in den Raum geleitet, haben sie hinübergezogen auf »die andere Seite des Stromes«. Auch Lethe, die Namenspatin der »nicht tödlich« genannten Stoffe, Fluss und Göttin ein Homonym, stammt aus derselben Familie. Zwei ihrer Onkel haben wir bereits kennen gelernt. Ihre Mutter Eris, die außer Lethe vier weitere hässliche Kinder gebar, gilt als Auslöserin des Streites, der zum Trojanischen Krieg führte.

Die Geschichte hat einen langen Nachlauf. Das trojanische Strategem, die mit Kriegern gefüllte Pferdemaschine, im 4. Jahrtausend nach seiner Erfindung immer noch auf der europäischen Bühne, ist nun zum Vehikel für tödliche und untödliche Waffen und für ihre mobilen Kommandos geworden.

Die Zwietracht, in Eris personifiziert, zählt ferner Nemesis, die Vergeltung, zu ihren Geschwistern. Ihre Mutter ist Nyx, die Nacht. Bei Vergil trägt der Strom der Unterwelt Lethes Namen. Aus ihm trinken die ankommenden Toten, um die Erinnerung an ihr Leben zu verlieren, ebenso wie die Seelen, die wieder verkörpert werden sollen, in ihn eintauchen, um die Unterwelt zu vergessen. Darauf verweist Lethes römischer Name Oblivio.

Am Tag nach dem Ende der Besetzung des Moskauer Theaters möchte der Chef des Berliner Spezialeinsatzkommandos SEK und Landeskriminalamtsleiter, Martin Textor, mit Hinweis auf »Schläfer« in unserem Land von den Politikern wissen, wie er sich zu verhalten habe, wo der deutschen Polizei doch keine wirksamen Gase wie die in Moskau eingesetzten zur Verfügung stehen, während der internationale Terrorismus (Terror, der Begleiter des Mars: wir führen Krieg) sich weiterhin seine Ziele sucht.

Die Ohnmacht

Mit Strom, Schall, Gas und Schaum erzeugt die »Innere Sicherheit« reale Science Fiction. Sie entwirft das Bild eines zivilen Konflikts, das wir trotz einer langen Tradition im Einsatz von Hochtechnologie, nach 30 Jahren Umgang mit Pfeffergas, Polizeikessel, Rasterfahndung und Kommissar Computer noch für Filmstaffage halten. Eine Lektüre des Dokumentes PE 166.499 des EU-Programmes Stoa zur Bewertung technischer und wissenschaftlicher Optionen sowie seiner Nachfolgetexte und Fußnoten aber schließt einen solchen Irrtum endgültig aus.

Die Werkzeuge der crowd control, die Waffen der polizeilichen Konfliktlösung, sind »intelligent« geworden. Mit diesem stark strapazierten Begriff ist nur ungenau beschrieben, welche konkreten Effekte eine Umrüstung der konventionellen Methoden zur »physischen Massen-Immobilisierung« auf »direkte Interaktion mit dem Gehirn« beinhaltet. Strahlen, Projektionen und akustische Modifikationen als Methoden der Medienkultur und die avantgardistische Biochemie halten Einzug in die Arsenale der Exekutivkräfte. Immaterielle oder auf molekularer Ebene agierende Träger, charmant doppelbödig »Agenten« genannt, wirken bei künftigen Bürgerkriegsszenarien in erster Reihe mit.

Eine illusionäre Maschinerie entfaltet sinnverwirrende Wirkungen. Ihre Nähe zum Kunstwerk gründet im literarischen Tenor einer internationalen Konvention zum Einsatz »nicht tödlicher Waffen«. Das politisch sanktionierte Positionspapier zum Einsatz solcher Waffensysteme geht zurück auf eine militärphilosophische Schaumgeburt aus Zeiten der rüstungspolitischen Ebbe am Ende des Kalten Krieges: Es wird oft als white paper bezeichnet. Zu ihren Autoren und Ideengebern zählen die Futurologen Alvin und Heidi Toffler, die sich zum Zweck der Zeugung des semifiktionalen Textbastards mit den amerikanischen Quäkern, Science Fiction-Autoren und Waffenhändlern Chris und Janet Morris und einem ehemaligen Green-Beret-Kommandeur und Vietnamveteranen namens John B. Alexander zusammengefunden haben. Das Ehepaar Morris und John Alexander sind die Hauptfiguren, von denen die vorliegende Reportage handelt. An ihren Texten und Äußerungen lassen sich beispielhaft die Anschauungen und Einsichten einer neuen »Philosophie der Einsatzkräfte« erkennen: ihr Interesse an der Entwicklung von »Massenverteidigungswaffen« aus dem Geist eines radikalen Post-Hippie-Weltverständnisses.

Ihre novellenhafte Formulierung einer unblutigen und dennoch wohl gerüsteten Demokratie unterläuft leichtfüßig die ABC-Waffen-Verbote und stellt sich zugleich als humane Strategie der Effektivierung im Straßenkampf dar. Die von ihnen vorgeschlagenen medien- und biotechnologisch aufgerüsteten Geräte erzielen angeblich bloß temporäre Effekte wie Schlaf, Schmerz, Blindheit, Lähmung, Konvulsionen, Erbrechen, spontane Defäkation und Ähnliches mehr. M2 Technologies Inc., die Firma des Ehepaars Morris, bietet entsprechend geeignete, in ihrer Wirkung »parametrierbare« Produkte in einer virtuellen shopping mall an: hoch energetische Mikrowellen und auf DNA-Treffer ausgerichtete Chemikalien »zur Unterstützung der Gesetzesvollstreckung« oder Nanopartikel als Zukunft des Personenschutzes.

Doch auch wenn einige affirmativ argumentierende Autoren sich bemühen, Waffen mit Hinweis auf ihren Ruhe stiftenden Charakter in Nicht-Waffen umzudeuten oder zumindest einen »weicheren« Eindruck von ihnen zu vermitteln: Waffen, insbesondere Polizeiwaffen, sind, ob letal oder nicht, immer gegen Personen gerichtet. Dass ihr Einsatz Kulturgüter, Kriegsgerät und Wohnbebauung schont, ist ein gern erwähnter Nebeneffekt. Intendiert ist er allerdings nicht. Der Name verrät es: Lethe, die Todesgöttin, ist für Menschen, nicht für Architektur oder Werkzeug zuständig.

Hypno-Politik

Die low intensity warfare, die Kriegsführung mit verminderter Wucht, erstreckt sich hauptsächlich auf die Gebiete Massenkontrolle (alles erkennen), Gruppenkontrolle (flächendeckend festsetzen) und Gefangenenkontrolle (gezielt ausschalten).

Im Zentrum der Überlegungen zu den gewünschten Wirkungsweisen steht dabei nicht länger eine Stilllegung des rebellierenden Körpers, sondern eine Unterbrechung des Zusammenhangs zwischen Bewusstsein und Aktion. Jüngste Untersuchungen von Friedensforschungsinstituten wie Bradford University’s Peace Studies, dem schwedischen Sipiri (Stockholm International Peace Research Institute) oder Konferenzen wie die im Rahmen des Festivals Futuresonic in Großbritannien (Oktober 2002) richten daher ihr kritisches Augenmerk auf die Bedeutung des Schlafes für die erwünschte »Verhaltensänderung«, das Fernziel der politischen Kontrolle.

Hochgradig spezifizierte Designerpharmazeutika, am Bildschirm entwickelte und erprobte Hypnotika und Anästhetika, verströmen die wichtigsten Botenstoffe der neuen Generation. Nicht bloß »Ruhe und Ordnung«, sondern vielmehr die programmierbare Ohnmacht der aufrührerischen Bevölkerung könnte ein Ziel erster Ordnung in den Rechtsstaaten des 21. Jahrhunderts werden, uns in eine Art »Hypno-Politik« treiben.

Infolge solcher Übereinkommen, die den Einsatz nicht tödlicher Waffen sogar vermehrt als probates Mittel bei der Terrorbekämpfung propagieren, werden beispielsweise gentechnisch modifizierte Kampfgase entwickelt, die ihren Effekt zielgenau an bestimmte Ethnien adressieren können. Durch jüngste Erkenntnisse über die distinktive, sauber trennende Ansprache des genetischen Profils bucht sich das Human Genome Project einen festen Platz im weltweiten Waffengeschäft: als schier unerschöpfliche Informationsquelle darüber, wie man den Menschen mit neuen, sprüh- oder essbaren Waffen »von innen«, über seine DNA, bekämpfen oder sein Verhalten ändern kann.

Mit sprechenden Begriffen wie mood management (Stimmungssteuerung) und mass incapacitation (Massenstillstellung) werben Forscher, Politiker und Polizeisprecher in West- und Osteuropa derzeit für den Einsatz von Hochtechnologie, deren Verträglichkeit mit den bestehenden Gesetzen ebenso problematisch ist wie ihre ethische Dimension. Im Kern soll es darum gehen, künftig mit dem zentralen Nervensystem der Verdächtigen direkt zu interagieren, da ja die europäischen Gesetze in der Regel und die Konventionen zum Einsatz nicht tödlicher Wirkmittel insbesondere vorschreiben, den Körper des Bürgers zu schonen. Eine »vollständige Fragmentierung« der behandelten Personengruppen (Demonstranten, Aufrührer, Terroristen) soll vermieden werden. Die Begriffe »Psychoelektronik« und »Nanotechnologie« tauchen in diesem Zusammenhang irritierend häufig auf. Ein »relativ reversibler Effekt« wird gewünscht.

Wie das funktioniert, beschreiben diverse aktuelle Gutachten, angefertigt beispielsweise im Auftrag des bereits erwähnten Stoa-Programms am EU-Parlament in Brüssel. Der Zusammenhang mit der gleichnamigen griechischen Philosophiebewegung ist so lose, dass sich der Verdacht von Etikettenschwindel aufdrängt. Stoa bedeutet schlicht Scientific and Technological Option Assessment (Bewertung wissenschaftlicher und technischer Optionen) und behandelt ganz pragmatisch allerlei Fragen vom Fischereiwesen über Ökologie bis zu Menschenrechtsthemen.

Steve Wright von der Omega Foundation aus Manchester hat im Oktober 2002 eine Aktualisierung seines Mammutgutachtens »An Appraisal of Technologies of Political Control« (»Eine Bewertung der Technologien politischer Kontrolle«, 1997-2001) mit dem Titel »Future Sublethal« vorgelegt, die unter Berufung auf internationale Fachleute und Kenner der gegenwärtigen Szene besonders die jüngsten Ereignisse in Moskau und die Planungen für den Feldzug gegen den Irak berücksichtigt.

Die fortgesetzte, engagierte und stets mager budgetierte Arbeit anderer zivilgesellschaftlicher Vereine, Verbände und Initiativen wie die von Sunshine-Project (Ed Hammond, Texas, und Jan van Aken, Hamburg), New Global Vision (ein Indymedia-Ableger) oder des Cryptome Netzwerkes, sowie die unermüdliche Arbeit der Abteilung für Landminen und neue Technologien im Internationalen Komitee des Roten Kreuzes in Genf (Robin Coupland und Dominique Loyé) dokumentiert unmissverständlich die Notwendigkeit einer breit angelegten Diskussion über die ethischen und menschheitsgeschichtlichen Konsequenzen technischer Innovation. An diesen Waffen nämlich lässt sich ablesen, wie der Mensch sich verändert. An ihnen können wir sehen, wie wir uns unsere Zukunft und letztlich uns selbst vorstellen.

Menschenrechte

Die in die Zehntausend gehenden Fakten aus der Stoa-Untersuchung zu so spannenden und exotischen Themen wie »trojanische Vehikel«, zu Stoffen aus der neuen »Büchse der Pandora« und zur Wirkung von »gepulsten Energieprojektilen« wurden allerdings auf die Größe von kaum aussagekräftigen Tischvorlagen reduziert, wiederholt und ohne größeres Echo den EU-Parlamentariern vorgelegt. Dabei kann nur eine Diagonallektüre, die alle Fassungen, insgesamt weit mehr als 1 000 Seiten, berücksichtigt, einen Überblick ergeben.

Wer befasst sich mit dem Material vor der Veröffentlichung? Wer trägt es danach in sein Land, stellt es der Bevölkerung vor?

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Studie über die Technologien politischer Kontrolle gehörten Ewa Klamt und Gerhard Schmid zu den deutschen Vertretern.

Klamt, eine langjährige Kennerin der deutschen Starfighter-Anliegen, war zuständig für Menschenrechte bei der Stoa (Abteilung LIBE, Citizens’ Freedoms and Rights, Justice and Home Affairs). Sie ist die Tochter eines CSU-Mitglieds und Verbindungsoffiziers der Bundeswehr aus Straubing und daher in Kalifornien, dem Ort seiner Mission, aufgewachsen.

Als Mitglied der niedersächsischen CDU kann sie nicht verstehen, warum Daueraufenthalte von Drittstaatlern hierzulande nicht unterbunden werden. Frau Klamt ist volksnah und isst nach eigenen Angaben auf ihrer Homepage gerne im Kreis der Bürger von Bad Bevensen Grünkohl.

Der Vizepräsident der Stoa ist Gerhard Schmid. Er tituliert sich selbst im Internet als »Euroschmid« der SPD. Er ist in Straubing geboren wie Ewa Klamt, Mitglied in zahlreichen Vereinen und Organisationen: der vereinten Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, der Arbeiterwohlfahrt, dem Technischen Hilfswerk, der Deutsch-Arabischen Gesellschaft, der Europa-Union, dem Arbeiter-Samariter-Bund, dem Bund Naturschutz, dem Bayerischen Landesjagdverband und der Königlich Privilegierten Hauptschützengesellschaft Regensburg. Als »Euro«-Währungsspezialist seiner Partei zweifelt Schmid laut und stark am Sinn der so genannten Osterweiterung der EU und tritt als Fachmann für die Abwehr organisierter Kriminalität auf.

Opferperspektiven

Für ein besseres Verständnis des Gesamtkomplexes ist es daher unerlässlich, selbst Quellen heranzuziehen und den Gutachtentext zu »übersetzen«, um ihn für eine Debatte unserer Zukunftsperspektiven fruchtbar zu machen. Erst dann liefern die Untersuchungen der Spezialisten um Steve Wright Grundlagen für eine Kritik der Ideologie der »Inneren Sicherheit«. Die Quellen und Papiere der erwähnten Institute und Gruppierungen bilden dabei eine notwendige Ergänzung zu den Gutachtentexten, die von der EU zudem leider auch noch ohne die Bilder und Illustrationen des Originals veröffentlicht werden und dadurch umso schwerer zu erschließen sind.

Denn wer kann beispielsweise – ohne vertiefende Erläuterung – ahnen, dass sich hinter dem harmlosen Stichwort border control technologies (Grenzkontrolltechniken) der Wiederaufbau des Eisernen Vorhangs als elektrische Grenze verbirgt? Was erlebt ein Mensch, der von 50 000 Volt getroffen wird, die sich über einen durch UV-Laser ionisierten Luftraum in seinen Körper entladen? Ist das die lang erwartete Humanisierung der berüchtigten Grenzschutzmine, die aus einem mit Sprengstoff gefüllten Behälter Tausende von Mikropfeilen an dünnen Kabeln in den Körper des Opfers jagt und es, so lange die Batterie hält, bei vollem Bewusstsein lähmt?

Am 19. April 2003 – das Nachgrollen des Irakkrieges hängt noch in der Luft – meldet die dpa, dass eine der kriegsführenden Parteien, Großbritannien, diese lang erprobte und längst geächtete Technologie, zur Pistole umkonfektioniert und aus den USA importiert, den heimischen Polizisten an die Hand gibt: eine Pistole mit 50 000-Volt-Pfeilen an Strom führenden Drähten wird nun in fünf ausgewählten Distrikten des Königreiches eingesetzt, um auf maximal sieben Meter Distanz Muskellähmungen auszulösen, die dann das Anlegen der Handschellen erleichtern. Wie man die metallischen Widerhaken nach erfolgreicher Festsetzung des Delinquenten aus dessen Fleisch entfernt, erwähnt die Pressemeldung nicht.

Wer hätte angesichts der Bauzäune, die in Genua und Barcelona in den Jahren 2001 und 2002 verschiedene innerstädtische Sicherheitszonen markierten, geglaubt, dass area denial devices, die mobilen Barrieren der Zukunft, nicht am Boden der Stadt verankert, sondern auf die Haut der Personen geklebt werden? Was fühlt ein Passant, der mit sticky foam balls, den stark ätzenden und klebenden Polyurethan-Bällchen mit 50fachem Volumenaufschäumungspotential, beschossen wurde und deswegen fest an einer Mauer oder auf dem Boden haftet, bis ihn ein Einsatztrupp mit dem entsprechenden Trennmittel wieder ablöst?

Die US-Marines setzen die Klebekanonen schon seit Jahren immer wieder mal ein, beispielsweise um UN-Soldaten bei Essenausgaben vor hungrigen Afrikanern zu schützen. Andere kinetic-impact-Waffen, die Schaum-, Holz- oder Plastikkugeln verschießen – die ein Gewicht von 120 Gramm haben dürfen und Furcht erregende Blutergüsse erzeugen –, befinden sich in den Arsenalen fast aller europäischen Staaten, ebenso wie Fangnetze, die mit einem Gewehr verschossen werden können und bisweilen mit Klebstoff, Strom oder Rasierklingen aufgerüstet sind. Diese kommen allerdings hauptsächlich hinter Gefängnismauern zum Einsatz. Auch wenn die meisten Mitgliedsstaaten der EU zur Zeit dazu tendieren, mobile Klebstoffe in Europa nicht gegen Personen, sondern nur zur »Raumversiegelung« einzusetzen, schließt das ein unwillentliches Überschneiden der Ziele (Immobilisierung) nicht aus: jeder, der hineintritt, steckt fest.

Was sagt es aus über den Zustand unserer Kultur, wenn in einer geradezu hysterisch auf Hygiene fixierten Zeit riot control weapons vorgeschlagen werden, die weit mehr als das Schamgefühl verletzen? Wie mag es auf die Gemüter wirken, wenn auf einem öffentlichen Platz Sekunden nach einer Besprühung mit einem speziell konfektionierten Gas – sagen wir – 4 000 Menschen gleichzeitig heftigen Durchfall bekommen? Das von Sunshine.org veröffentlichte interne Papier des amerikanischen Joint Non-Lethal Weapon Directorate über »Situationskontrolle mittels olfaktorischer Stimuli«, durch künstlich erzeugte maldorants, übelriechende Stoffe, klingt hinfällig, wenn dies als Begleiterscheinung anderer Anwendungen gratis zu haben ist. Der in der Studie vorgeschlagene Einsatz von bakteriengefüllten Projektilen zur Neutralisierung des Geruchs nach erfolgreicher Zerschlagung der »nicht lenkbaren Unruheherde« behält allerdings Priorität.

Wer dächte trotz des Medienkunstrauschens der vergangenen Biennalen ernsthaft daran, die Teilnehmer einer Zukunftsschau aus den Reihen der Polizei zu kuratieren? Was verspürt der Gast einer öffentlichen Kundgebung, wenn man ihn mit einer sonischen Halluzination traktiert, die es ermöglicht, eine (Fehl-)Information auf mehrere hundert Meter Distanz zu projizieren und der Wahnidee von der körperlosen »Stimme im Kopf« die technische Lösung nachliefert? Wer würde angesichts von Bill Violas oft gezeigter meditativer Installation mit Schlafenden ihre Verbesserung als 3-D-Videoprojektion wünschen, die bei Tageslicht und im öffentlichen Raum einsetzbar ist und als lebendige Simulation auf der Oberfläche transparenter Gase erscheint?

Es wirkt, als ob die Technokraten der Inneren Sicherheit die Wurzeln der Demokratie nicht in der Athener Polis, sondern eher im Krieg der Griechen gegen die Trojaner sehen. Die mobile tactics der Handbücher für subletale Kriegsführung und zivile Konfliktregulierung reden explizit von trojanischer Technologie, zum Beispiel wenn Einsatzfahrzeuge gemeint sind, die äußerlich wie ein Krankenwagen aussehen, innen aber gefüllt sind mit Cyber-Cop-Technik. Durch Beschuss aus einem rollenden »Trojaner« können selektiv Bürger einer genetisch gemischten Bevölkerung behandelt werden – einige werden dann unbeschadet weiterlaufen können, während andere sich in Schmerzkrämpfen am Boden winden oder ihnen die Sinne schwinden.

Als der Action-Streifen »Copkiller« (USA/ Italien 1983) anlief, sprachen wochenlang alle Kinobesucher von der Szene, in der Ex-Sex-Pistol Johnny Rotten seinen Kopf in eine Küchenmikrowelle stecken muss. Wer spricht 20 Jahre später darüber, dass deutsche Großforschungsinstitute gemeinsam mit der Bundeswehr eine Mikrowellenkanone entwickelt haben, die den Informationsfluss von feindlichen Flugzeugen unterbindet? Sicher ahnt angesichts eines Fotos der zukunftsgerecht in Blau lackierten Maschine niemand die multiplen Anwendungsmöglichkeiten des Richtstrahls, der in einer reduzierten handheld-Version die Körpertemperatur von Lebewesen innerhalb von Sekunden auf 42 Grad »aufkocht« und deswegen im Verzeichnis der nicht tödlichen Waffen aufgelistet ist. All diese Funktionsspektren erwähnt der EU-Bericht als denkbare, aktuell in Forschung und Testlauf befindliche Beispiele. Anwendungen werden bislang abgestritten.

Verstecken

Zu den Pionieren unter den Soldaten, die sich hinter Technik verstecken, zählen Odysseus und seine 23 Begleiter im Bauch eines hölzernen Riesenpferdes. Die Göttin Athene hatte ihr rollbares Kriegsspielzeug als List ersonnen, die Stadt Troja zu erobern. Odysseus raubt ihr später den Ruhm für die Erfindung. Epeios, der das Pferd baut, gilt als geschickter Faustkämpfer und hervorragender Handwerker, ist aber aufgrund göttlicher Strafe als Feigling geboren. Dichte Nebel solcher bedeutungstragenden Elemente umhüllen das trickreiche Gerät von Anbeginn. Ein harter historischer Kern ist schwer auszumachen.

Die Trojaner holen das Pferd, das die Griechen durch eine Aufschrift auf der Flanke als Geschenk an Athene kennzeichnen, eigenhändig in ihre Stadt. Weil es nicht durch die Tore passen will, müssen sie einen Teil der Stadtmauer niederreißen. Sie missachten die Gegenstimmen im eigenen Volk, ignorieren Warnungen von weitsichtigen Mitbürgern, die das tierförmige Gebälk für hohl, aber nicht für leer halten. Kassandra erklärt ausdrücklich, dass im Verborgenen bewaffnete Männer säßen. Sie fordert die Verbrennung des falschen Geschenkes. Bei der Entscheidung, das Geschenk dennoch anzunehmen, spielt die Überlegung, den Zorn der Göttin abzuwenden, eine wesentliche Rolle. Athene, der ein Tempel im Stadtzentrum Trojas gewidmet war, hätte es den Trojanern nicht nachgesehen, wenn sie es gewagt hätten, ein für sie bestimmtes Geschenk zurückzuweisen.

Auch Helena durchschaut das Versteckspiel, weil sie sich in den Strategen Odysseus hineindenken kann. Sie extrapoliert die Methoden des listenreichen Odysseus und erkennt das Pferd als Quintessenz des Verhohlenen, des unheilvollen Inhaltes. Sie überprüft ihre Eingebung mit einem ziemlich riskanten Jux. Sie lockt beinahe die Männer aus ihrem diskreten Versteck, indem sie die Stimmen ihrer Ehefrauen nachäfft.

Verstellen

Die Homer-Forschung war lange unzufrieden mit dem Bild des hölzernen Pferdes. Nach Pausanias handelte es sich um eine pferdeähnliche Maschine zum Bezwingen der Mauern, für andere gab es lediglich Pferdezeichen auf den Schilden der Kämpfer, die in der Verwirrung des Gemetzels helfen sollten, Freund von Feind zu unterscheiden. Wahrscheinlich, so Robert Ranke-Graves, ist Troja mit einem Turm erstürmt worden, der zur Abwehr brennender Pfeile mit nassen Pferdehäuten überzogen war. Im Übrigen hatten die Helden im Bauch der Maschine lediglich die Aufgabe, das Feld für die nachrückenden Truppen vorzubereiten, die Tore für den Einmarsch zu öffnen. Gegen alle Versprechen des Odysseus gab es ein unsägliches Massaker unter der Zivilbevölkerung Trojas.

In der Tiefe der Sprache des Mythos finden sich noch weit mehr Zugänge zum Motiv des Behälters, der über seinen Inhalt täuscht. »Mythos ist das Urbild des Ingeniösen, des Schlauen, des Erfinderischen, des Idea-Schöpfers«, sagt der Kunsthistoriker Gustav René Hocke in seinem Opus Magnum »Die Welt als Labyrinth«. Das Urbild dessen sei Odysseus und das Meisterstück des odysseischen Ingeniums das trojanische Pferd, das »Ur-Kunststück der Ver-Stellung«.

Der italienische Maler Gianfilippo Usellini hat diesen Gedanken in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gleichnishaft ins Bild übersetzt. Sein Gigantpferd steht in der hohen Halle einer Bibliothek, ein falsch platzierter Behälter in einem großen Behälter des Wissens, der Tausende von kleineren Wissensspeichern beinhaltet: Bücher als paradigmatische Holzpferde, deren Umschlag nichts von der Durchschlagskraft ihres Inhaltes erahnen lässt. Zwischen Büchern und Pferd die Köpfe der europäischen Geistesgeschichte, ihre Autoren. Durch ihre Gegenwart überhöht Usellini das Pferd als ein Sinnbild vorwissenschaftlicher Erkenntnis.

Ausstreuen

Jean Starobinski hat diesen Gedanken weiter gesponnen. In seiner Kulturgeschichte der Gesten, »Gute Gaben, schlimme Gaben«, verweist er auf die Bedeutung von »auctor« als Vermehrer, der seine Autorität sichert, Wohlstand schafft und es um sich her wachsen lässt, indem er verteilt. Aus dem Auctor wurde der Autor. Starobinski wendet ein, dass »sparsio« der engere und daher bessere Begriff für die Macht erhaltende Gabe wäre, das Sprengen, Streuen, Spritzen von Samen oder Geldstücken, das Verteilen von Gegenständen an die Menge. Über das Motiv des unheilvollen Inhaltes und Überlegungen zur Bewusstheit der Geste des Austeilens fügt er folgerichtig zwei Mythen zusammen: die Box der Pandora und das hohle Pferd der Griechen, »et dona ferentes …«, die man fürchten muss, auch wenn sie Geschenke bringen, wie Vergil den Laokoon ausrufen lässt.

Verwirren

Starobinski: »Die Gebärde der Pandora ist nicht die Sparsio, … sondern die fatale Öffnung eines Gefäßes, das man hätte geschlossen halten sollen. Als ob es sich um ein Prinzip handelt, das künftig nicht mehr verborgen bleiben kann, entweicht der Inhalt und dehnt sich aus, ohne dass in der Geste des Öffnens eine deutliche Absicht gelegen hätte. Die Geste ist Zufall und Unfall.« Starobinskis Ausgangsüberlegung lautet, dieses Geschenk hätte niemals angenommen werden dürfen. Sie führt ihn über die beiden mythischen Figuren, Odysseus und Pandora, zur semantischen Doppelheit von »Gift« in den alten germanischen Sprachen, als Geschenk und als Toxikum, ein etymologisches Phänomen, das seine Entsprechung im Altgriechischen hat: »dosis« ist sowohl Gabe wie Portion von tödlichem Stoff.

Zurück zum Bild des Labyrinths bei Hocke. Er verweist auf eine weitere Stelle bei Vergil, wo sich ein Tanz der Täuschungen, der Labyrinth-Tanz als »lusus Troiae«, beschrieben findet. Im Etruskischen ist »truia« das Wort für Labyrinth. Das trojanische Pferd, aus der etymologischen Vogelperspektive betrachtet, ist eine vertrackte, aus ineinander verschlungenen »tracks« gebildete, mehrhäutige Dopplung: eine nachdrückliche Behauptung der Ver-(w)irrung.

Tarnen

»Trojanische Vehikel« nennt also die europäische Fahrzeugindustrie Autos, die für Polizei und Sondereingreiftruppen konfektioniert werden. Sie firmieren offiziell als discreet order vehicles, mit der sprechenden Abkürzung Dov(e), Taube. An dem Projekt, vierrädrige Maschinen mit »non-aggressivem Design« herzustellen, beteiligen sich u.a. Sicherheits-Transport in Österreich; Renault, Saviem und Panhard in Frankreich; Bonowi, Mercedes-Benz und Thyssen in Deutschland; Fiat und Iveco in Italien; DAF Special Products Division in den Niederlanden; Land Rover und eine Firma namens Trojan Vehicles in Großbritannien, ein starker Bruder der Rolls-Royce-Aircraft-Tochter. Insgesamt mehr als 20 Firmen stellen Dov(e)s her, die man sich unwillkürlich, und ganz im Sinn der Namensgeber, weiß vorstellt: als Friedenstauben.

Immerhin 80 Seiten stark und bis zum Rand angefüllt mit derlei Absonderlichkeiten ist das Lexikon nicht tödlicher Waffengattungen, das zuerst 1998 erschien, herausgegeben von Prof. Robert J. Bunker, California State University San Bernadino, in Zusammenarbeit mit John B. Alexander, aus dessen Feder über 30 Artikel als Referenzen für die Definitionen stammen.

Schlachtfeld Gehirn

Alexander bekleidet zu dieser Zeit das Amt eines US-Gesandten im Nato-Beratungsausschuss und führt bei America Online eine E-Mail-Adresse unter dem Pseudonym »Apollinair« (ohne e!). Bei Guillaume Apollinaire können wir lesen, dass der Künstler unmenschlich sein muss, als adäquate Reaktion auf die gegenwärtigen Bedingungen. Wie sehr die Sentenz zutrifft, weiß man spätestens nach der Lektüre des Lexikons, das hunderte »optisch-akustischer Granaten«, Verdunklungsapparate und zersetzender Strahlenwaffen, sortiert nach Klassen, Funktionen und Einsatzzielen vorstellt. Wahrscheinlich verdanken wir solchen Publikationen eine wachsende wechselseitige Durchdringung der Zuständigkeiten und Einsatzstile von Polizei und Militär sowie eine gemeinsame Nutzung diesbezüglicher Forschung. Der für Demokratien gefährliche Prozess der Auflösung der Grenze zwischen militärischer und polizeilicher Zuständigkeit lässt sich an Alexanders Vita ebenso beispielhaft nachvollziehen wie ein geradezu vorsätzliches Überschreiten der Grenzen von Wissenschaft und Forschung hin zu Grenzwissenschaft, Magie und mystischer Spekulation.

Sein als bahnbrechend geltender Artikel »The New Mental Battlefield« (dt. etwa »Schlachtfeld Gehirn«) beschreibt bereits 1980 die Möglichkeiten, psychologische Kriegsführung gefechtsmäßig einzusetzen. Als Mitarbeiter von General Burt Stubblebine, US Army Intelligence and Security Command (Inscom), erlangt Alexander Berühmtheit für seine federführende Beteiligung an Programmen, die unsere »menschlichen Potenziale« in bis dato unerprobter Manier ausforschen. Unter anderem ist Stubblebine legendär für seinen im Dienst der Armee betriebenen Versuch, durch Wände zu gehen und durch bloße Konzentration den Herzschlag von Warmblütern anzuhalten. Dabei scheint das Sammeln von Informationen über extra-sensuelle Wege im Vordergrund zu stehen. Die Zuständigkeit für diese esoterischen Forschungsansätze schieben CIA und DIA (Defense Intelligence Agency) beständig zwischen einander hin und her. Sie beziehen dabei zwischenzeitlich die Science Applications International Corporation (Saic) mit ein.

Die Saic ist eine High-Tech-Schmiede für vielerlei Prototypen von Waffen. In den vergangenen Jahren befassten sie sich auch mit der Aufstellung einer mobile robot infantry für den Einsatz in urbanen Katastrophengebieten. Nach seiner Entlassung aus dem Militärdienst arbeitete Alexander an der amerikanischen Eliteforschungseinrichtung in Los Alamos, wo er sein Konzept der »Nonletalität« ausbauen und an Militärs, Geheimdienstspitzen, Akademiker und Politiker vermitteln kann. Später lässt er sich bei einer privaten Forschungseinrichtung in Las Vegas anstellen und ist Direktor im Board der »International Remote Viewing Association«, einer meta-militärisch-sektiererischen Vereinigung zur Pflege von »mentalen Kapazitäten«, mit deren Hilfe Informationen außerhalb der Sinnesorgane aufgenommen und übermittelt werden können. Mit solchen Kenntnissen und Ideen ausgestattet, übernimmt Alexander schon früh einen Job als Berater des Weißen Hauses.

Mobile Taktik

Robert J. Bunker und seine Co-Autoren des »Lexikons nicht tödlicher Waffengattungen« stellen sich den Einsatz der Doves wie folgt vor: »Mobile Tactics ist eine Arbeitsmethode, bei der ein Anti-Riot-Team an Bord eines Fahrzeugs rasch in die Nähe von Aufständischen gefahren wird, flink aussteigt und auf die Menge zuläuft, wobei ihr ein zweites Team gleicher Art nachfolgt und abschöpft, was die erste Gruppe präpariert hat.«

Zur Ausrüstung sagen sie im gleichen Artikel weiter unten: »Im Gegensatz zu konventionellen tödlichen Waffen, die ihre Ziele gewöhnlich durch Sprengung, Durchdringung oder Fragmentierung zerstören, bedeutet die Anwendung nicht tödlicher Waffen etwas anderes als vollständige physische Auflösung, allerdings mit dem Ergebnis, trotzdem das Ziel am Funktionieren zu hindern. Von westlichen Staaten verwendete nicht tödliche Waffen intendieren einen relativ reversiblen Effekt auf Personen oder Material.«

Wer als Virilio-Leser zwei Jahrzehnte lang geglaubt hat, der Krieg fände künftig nur noch zwischen Sehmaschinen statt, und unter der Camouflage von Tarnkappen sei das Hautnahe des Konfliktes endgültig verschwunden, der sieht sich neuerdings eines Besseren belehrt. Der diskrete Auftrag ist hart wie der Kampf um Troja.

Redaktionell gekürzter Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Olaf Arndt: Demonen – Zur Mythologie der Inneren Sicherheit. Edition Nautilus, Hamburg 2005, 160 S., 12,90 Euro