Deutsche Zeitbombe

Wie Wolfgang Kraushaar versucht, den vergessenen Antisemitismus der 68er zu enthüllen. von jan süselbeck

Mit seinem neuen Buch »Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus« will Wolfgang Kraushaar den Historisierungsprozess des deutschen Linksterrorismus vorantreiben. Mittels in Kapiteln angeordneter Ereignisprotokolle, Interviews und locker aufbereiteter Rechercheergebnisse untersucht er den misslungenen Bombenanschlag auf die Jüdische Gemeinde in Berlin, der am 9. November 1969 von der Guerilla-Organisation »Tupamaros West-Berlin« verübt wurde.

An dem Tag fanden sich 250 Menschen in der Gemeinde an der Fasanenstraße ein, um des nationalsozialistischen Pogroms vom 9. November 1938 zu gedenken. Den mutmaßlichen Auftraggeber der antisemitischen Tat hat Kraushaar in Dieter Kunzelmann ausgemacht, dem selbsternannten »Großmufti des Chaos« aus der berüchtigten »Kommune I«: »Mit Geschick zog er aus dem Untergrund die Fäden. Er hatte seine Leute, die bereit waren, für ihn durchs Feuer zu gehen«, urteilt der Autor in einem ganzseitigen Artikel, den er zum Erscheinen seines Buchs in der FAZ publizierte.

Als eigentliche Sensation aber präsentiert Kraushaars Publikation einen ausführlichen Bericht des bis heute im Exil lebenden Albert Fichter, der dem Autor freimütig erzählt hat, wie er die Bombe im Auftrag Kunzelmanns deponierte. Der mutmaßliche Täter nutzt darin den »Augenblick, um bei der Berliner Jüdischen Gemeinde für diese üble Tat um Vergebung zu bitten«.

Wie konnte es zu diesem antisemitischen Anschlag aus den Reihen der Linken kommen? Offensichtlich sah der Kreis um Kunzelmann, in dem Kraushaar einen »Kern aus der Zerfallsmasse der 68er-Bewegung« erkennt, die Möglichkeit, das Scheitern innenpolitischer Zielsetzungen »durch eine Steigerung der Gewaltmittel« zu kompensieren. Dass zu den Zielen dieser Aktionen »vor allem jüdische und israelische Einrichtungen« zählten, insinuiert, dass Kunzelmann Antisemit war. Kraushaar zitiert Fichter: »Der Dieter Kunzelmann hat ja immer von ›Saujuden‹ geredet und ständig gehetzt. Er ist damals wie ein klassischer Antisemit aufgetreten.«

Kunzelmann selbst hat sich in seiner Autobiografie mit dem Titel »Leisten Sie keinen Widerstand« 1998 von dem Anschlag distanziert und seine Beteiligung bestritten: »Jedem Linken hätte eigentlich klar sein müssen, dass eine derartige Aktion keinerlei Sympathien für die legitimen Anliegen der Palästinenser zu wecken vermochte; ganz zu schweigen davon, dass sie sich angesichts der deutschen Vergangenheit von selbst verbietet.« Kraushaar lässt sich von Kunzelmanns nachträglicher »moralischer Brandmauer« nicht weiter irritieren.

Derartige Enthüllungen sind Kraushaars Mission. Im letzten, zusammen mit Jan Philipp Reemtsma und Karin Wieland herausgegebenen Band »Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF« geriet bereits Dutschke ins Fahndungsraster des promovierten Politologen vom »Hamburger Institut für Sozialforschung«. Kraushaar stellte fest, dass das Konzept der gewaltsamen Stadtguerilla auf Dutschke und Kunzelmann zurückgegangen sei – also »die vielleicht wichtigsten Akteure der 68er-Bewegung«.

Auch an den Dadaismus erinnernde Provokationen, die zunächst noch nicht zu blutigem Ernst wurden, sind Kraushaar zufolge erste Anzeichen für die bevorstehende Gründung der RAF. So stellt auch sein neues Buch einen weiteren Abgesang auf die 68er dar. Habe doch die zerfallende Bewegung vor einem offen antisemitischem Antiimperialismus bald nicht mehr zurückgeschreckt. »Ausgestoßene, Marginalisierte, Trebegänger, Tramps« hätten das Ruder übernommen, wie es in der Einleitung des Bands heißt: Typen wie der »Drop-out« Andreas Baader etwa, oder eben der ehemalige Coburger Banklehrling Kunzelmann, der nach Kraushaars Dafürhalten an einer »offenbar tiefverankerten antisemitischen Disposition« laborierte.

Tatsache ist allerdings, dass auch der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) bald begann, »offen antiisraelisch aufzutreten und damit Kritikern Gelegenheit zu geben, aus ihrer antizionistischen Einstellung eine kaum verdeckte antisemitische herauszulesen«, wie Kraushaar schreibt. Plötzlich galt es als schick, in den Nahen Osten zu reisen, um sich dort in palästinensischen Terrorcamps für den bewaffneten Kampf ausbilden zu lassen.

Kraushaar verknüpft diese zeitgeschichtlichen Beobachtungen mit der Analyse des Attentats vom 9. November: Was hier geschah, ist für ihn nur im Zusammenhang mit vorangegangenen antisemitischen Ausfällen wie etwa dem Vorfall vom 9. Juni 1969 in der Frankfurter Universität erklärbar, wo der erste israelische Botschafter in der Bundesrepublik, Asher Ben-Natan, auf Einladung des Bundesverbandes Jüdischer Studenten in Deutschland (BJSD) einen Vortrag zur israelischen Position im Nahostkonflikt halten sollte.

Ben-Natan wurde »im berühmt-berüchtigten Hörsaal VI« von palästinensischen Störern und Studenten niedergebuht. Die von Kraushaar zitierte Bild-Zeitung titelte damals: »Beschämend! Krawalle wie bei den Nazis«, während die Welt erklärte: »Wer heute ›Zionisten raus aus Palästina!‹ ruft, muss wissen, dass er den Völkermord beschwört, dass er ein zweites Auschwitz für die Juden will.«

Es waren nicht wenige SDS-Mitglieder, die seinerzeit plötzlich begannen, Linienmaschinen zu besteigen, um als herzlich empfangene Gäste des damaligen Al Fatah-Anführers Yassir Arafat in Jordanien für den revolutionären Guerillakampf zu trainieren. Hans Jürgen Krahl, den Kraushaar in seinem Buch als den »intellektuellen Kopf des Frankfurter SDS« vorstellt, erklärte damals der Zeit: »Was sollen wir in Israel? Dort gehen wir hin, wenn’s sozialistisch geworden ist.«

Auch Kunzelmann absolvierte einen solchen Wüsten-Kursus frei nach dem Motto: »Mit dem Joint in der linken Hand, Revolution in Arabienland«. Ein Ausflug, den Kraushaar genauer nachzuzeichnen versucht. »Bei meinen Schießübungen bestand nicht nur für mich, sondern auch für alle Umstehenden allerhöchste Gefahr«, erinnert sich Kunzelmann in einem der von Kraushaar zitierten Selbstzeugnisse.

Inwiefern bei derartigen Wehrsportübungen bereits Pläne für das Attentat vom 9. November 1969 gefasst wurden, bleibt ungeklärt. Kunzelmann und die Seinen nahmen sich jedenfalls nach ihrer Rückkehr nach Berlin eine Stadtguerilla-Bewegung aus Uruguay, die Tupamaros, zum Vorbild. Auch nach der glücklicherweise nicht detonierten Bombe im jüdischen Gemeindehaus verübten sie noch eine ganze Reihe weiterer chaotischer Brand- und Sprengstoffanschläge, frei nach der Parole: »High sein, frei sein, Terror muss dabei sein«.

Ob nun Kraushaar am Ende damit Recht hat, »dass der Antisemitismus für die in Deutschland operierende Stadtguerilla nichts weniger als ein Konstituens gewesen ist«, das sich für die Geschichte der RAF »als kontinuitätsstiftend erwiesen hat«, bleibt dahingestellt. So vermitteln die Aussagen der hilflos wirkenden Komplizin Kunzelmanns, Annekatrin Bruhns, die von Kraushaar zitiert wird, zumindest den Eindruck, hier hätten akute Drogenprobleme und bizarre persönliche Abhängigkeiten mindestens eine ebenso große Rolle gespielt.

Vorbei kommt man an den wichtigen Fragen, die Kraushaars Studie aufwirft, trotzdem nicht mehr.