Die Hirten von Babylon

Der Schuldenerlass, für den sich die Regierungen beim Gipfel der G 8 feiern, ist eine ökonomische Notwendigkeit. Denn zahlen könnten die afrikanischen Staaten ohnehin nicht. von jörn schulz

Seit es Schulden gibt, gibt es auch Schuldenerlasse. In Babylon war es bereits vor 4 000 Jahren üblich, dass ein neuer König die Schuldurkunden, die damals Tontafeln waren, zerbrechen ließ, um sich als »wahrer Hirte« einer »gerechten Ordnung« zu präsentieren. »Der Mächtige verübt keinen Raub«, ließ Ischme-Dagan, der von 1953 bis 1935 vor Christus regierte, seinen Schreiber notieren. »Gerechtigkeit hast du in Sumer und Akkad geschaffen, es dem Lande wohlergehen lassen.« Sogar die Schulden, die babylonische Biertrinker in den Schenken gemacht hatten, wurden gestrichen.

So großzügig werden die Staats- und Regierungschefs der G 8-Staaten, die sich in dieser Woche im schottischen Gleneagles versammeln, nicht sein. Anders als die babylonischen Könige können sie sich frühestens dann für soziale Maßnahmen begeistern, wenn ihre Amtszeit sich dem Ende zuneigt. Eines aber hat sich nicht geändert: Damals wie heute dienen Schuldenerlasse der Stabilisierung der sozialen Ordnung. Denn Verschuldung mindert die ökonomische Leistungsfähigkeit. In Babylon war die Macht der Könige gefährdet, wenn zu viele Steuern zahlende und kriegsdienstfähige Bauern versklavt wurden, weil sie ihre Schulden nicht bezahlen konnten.

Im modernen Babylon begannen die Regierungen der G 7-Staaten Anfang der achtziger Jahre, sich über die Verschuldung Sorgen zu machen. Die Sowjetunion, deren Kernstaat Russland als achter in der Runde aufgenommen wurde, war noch das »Reich des Bösen«, als der US-Präsident Ronald Reagan 1983 die Abschlusserklärung des Gipfels von Williamsburg verlas: »Wir betrachten die internationale finanzielle Situation mit Besorgnis, besonders die Schuldenlast vieler Entwicklungsländer. Wir stimmen einer Strategie zu, die auf effektiver Anpassungs- und Entwicklungspolitik der Schuldnernationen, angemessener privater und staatlicher Finanzierung, offeneren Märkten und einer weltweiten ökonomischen Erholung basiert.«

Diese Leitlinien gelten noch immer. Die Forderung nach einer »effektiven Anpassungs- und Entwicklungspolitik« wird heute in der schwammigen Formel »Good Governance« zusammengefasst. Zu einer guten Regierungsführung gehört auch die pünktliche Zahlung der Schulden. Es gibt jedoch eine Reihe von Staaten, insbesondere in Afrika, die nicht zahlungsfähig sind. Die Entschuldung ist in diesen Fällen schlicht ein Gebot der ökonomischen Vernunft. Erstaunlich ist deshalb nicht, dass sich die Regierungen der G 8-Staaten auf dem Treffen ihrer Finanzminister Anfang Juni dazu entschlossen haben, die Schulden von vierzehn afrikanischen und vier lateinamerikanischen Staaten zu streichen, sondern dass der Erlass so spät kommt und so wenige der überschuldeten Staaten einbezieht.

Die Alternative zur Entschuldung wäre, ein Regelwerk für den Staatsbankrott und die Pfändung durch eine internationale Verwaltung zu entwickeln. In Ländern wie Äthiopien gibt es jedoch wenig zu pfänden. Zudem würde ein neokoloniales Schuldenmanagement Unruhen provozieren, die Elendsverwaltung aber überlassen die G 8-Staaten lieber den afrikanischen Regierungen. Und da ist man nicht pingelig. Dass in Äthiopien Anfang Juni 36 Menschen erschossen wurden, weil sie gegen Wahlbetrug protestiert hatten, führte nicht dazu, dass der Regierung Meles Zenawis das Etikett »Good Governance« aberkannt wurde.

Die afrikanischen Regierungen haben es ansonsten allerdings nicht leicht. Um sich für den Schuldenerlass zu qualifizieren, müssen sie das komplexe Verfahren der im Jahr 1999 auf dem G7-Gipfel in Köln beschlossenen Initiative für »hoch verschuldete arme Länder« (HIPC) durchlaufen. Dabei wird das Verhältnis von Exporteinnahmen und Schuldenzahlungen berechnet, um eine »Schuldentragfähigkeit« zu ermitteln. Zudem sollen die Regierungen einerseits den Geboten des Freihandels folgen und die Staatsausgaben senken, andererseits aber Erfolge bei der Armutsbekämpfung vorweisen. Den HIPC-Staaten werde »ein fragiles exportorientiertes Entwicklungsmodell« aufgezwungen, kommentierte Daniela Setton von der NGO Weed.

In Äthiopien, einem der Länder, das sich für den Schuldenerlass qualifiziert hat, liegt die Lebenserwartung bei 46 Jahren. Fast die Hälfte der Kinder sind unterernährt. 84 Prozent der Bevölkerung leben von der Landwirtschaft, deren ohnehin dürftige Erträge durch verheerende Dürren weiter gemindert werden. Zudem ist der Weltmarktpreis für das Hauptexportprodukt Kaffee in den vergangenen 20 Jahren um 73 Prozent gesunken. Trotz der extrem niedrigen Löhne ist das Land auch als Standort für so genannte Sweatshops unattraktiv, da eine moderne Infrastruktur fehlt und fast zwei Drittel der Äthiopier Analphabeten sind.

Die Probleme der meisten afrikanischen Länder sind ähnlicher Art. Jede Entwicklungsstrategie basiert auf der Abschöpfung des bäuerlichen Mehrprodukts, das in die industrielle Entwicklung oder auch den Dienstleistungssektor geleitet werden muss. Bei den meisten afrikanischen Bauern gibt es jedoch kein Mehrprodukt, das abgeschöpft werden könnte.

Wer jemals eine afrikanische Großstadt besucht hat, weiß, mit wie viel Fantasie und Verzweiflung die Menschen jede Gelegenheit nutzen, um ihre Waren und Dienstleistungen anzubieten. Anders als während der Industrialisierung in Europa haben die Menschen, die sich auf dem Land keinen Lebensunterhalt mehr verdienen können, auch in der Stadt kaum eine Chance auf eine reguläre Lohnarbeit. Die wirtschaftsesoterischen Predigten über den Segen freier Märkte ignorieren diese ökonomische Realität ebenso wie die Tatsache, dass auch eine erfolgreiche kapitalistische Entwicklungspolitik, wie sie die asiatischen »Tigerstaaten« praktizierten, in der Phase der Akkumulation einen Schutz der neuen Industrien, Investitionslenkung und andere derzeit verabscheute »dirigistische« Maßnahmen erforderte. Es ist fraglich, ob die in der keynesianischen Phase des Kapitalismus erzielten Entwicklungserfolge in einer Zeit wiederholt werden können, in der selbst in den reichsten Industriestaaten der Lebensstandard der Bevölkerungsmehrheit sinkt.

Der Schuldenerlass, für den sich die Regierungen der G 8-Staaten in dieser Woche feiern, dient allein dazu, die weltwirtschaftliche Integration Afrikas zu erhalten. Man kann darüber streiten, ob eine globale keynesianische Wende, eine neue Wachstumsphase der Industrie und des Massenwohlstands, Afrika die ausreichende Basis für eine nachholende Entwicklung bescheren würde oder ob es dazu der gesellschaftlichen Kontrolle über die Produktionsmittel bedarf. Zweifellos aber ist es nicht damit getan, mehr Entwicklungshilfe und einen weiter gehenden Schuldenerlass zu fordern, wie es die Mehrzahl der NGO und der 200 000 globalisierungskritischen Demonstranten am Sonntag in Edinburgh taten.

Es ist kein Wunder, dass sich auch der britische Premierminister Tony Blair eines jener weißen Bänder kaufte, die von den Organisatoren der Kampagne »Make Poverty History« als Logo präsentiert und vertrieben werden. Mit einer Kritik, die sie nur auffordert, mehr von dem zu tun, was sie ohnehin tun wollen, können die westlichen Politiker gut leben.