Kritisiert jetzt nicht!

Der letzte linke Student XXXVI

Der letzte linke Student ist glücklich. Denn: die Linke sieht das Morgenrot. Weil: sie wieder die Linke ist. Genauer: weil sie sich zusammenrauft. Der letzte linke Student nämlich hat alles über die neue Linkspartei gelesen. Und: der letzte linke Student hat gesehen, dass das gut ist. Weil: eine neue Linkspartei alle Linken bündeln kann. Und: ein Ansporn ist für die Linken in den Parteien, die nicht mehr links sind.

Deshalb: freut sich der letzte linke Student über die Unterstützung von Basisgruppen für die neue Linkspartei. Denn: je mehr Unterstützung die neue Linkspartei von der Basis erhält, desto größer wird der Erfolg. Und: wenn die neue Linkspartei von der Basis gestützt wird: kann sie die Basis nicht verraten. Daher: wird mit der neuen Linkspartei alles anders als mit den alten Linksparteien.

Allerdings: der Führer der neuen Linkspartei ist nicht immer ein Linker. Etwa: wenn er Naziwörter sagt. Oder: für staatliche Repression ist. Oder: nicht so nett ist zu den MigrantInnen, wie man sein sollte. Doch: wenn der Kopf einer neuen Linkspartei nicht immer links ist, wie kann dann die Partei, die dem Kopf folgt, eine linke sein? Einwand: der Führer der neuen Linkspartei hat erheblichen Erfolg. In den Umfragen macht die neue Linkspartei bereits den alten Linksparteien erheblich Konkurrenz. Zudem: nimmt sie den Naziparteien die Wähler weg. Was ja: gelebter Antifaschismus ist.

Dennoch: da ist ein Problem. Das Problem ist, dass der Führer der neuen Linkspartei die neue Linkspartei eventuell in eine falsche Richtung lenkt. Dann aber ist die neue Linkspartei eine Rechtspartei oder zumindest keine neue Linkspartei mehr. Sondern stattdessen nur: eine alte. Der letzte linke Student muss also: abwägen.

»Erfolg macht vieles wett«, schreibt er jetzt in sein besonderes Notizbuch, »denn Erfolg ist eine Garantie für Macht. Macht brauchen wir, um unsere Ideen umsetzen zu können. Wenn wir jetzt Erfolg haben, kommen wir vielleicht an die Macht. Erfolg haben wir zurzeit nur mit Aussagen, die nicht immer unsere sind. Ohne diese Aussagen hätten wir vielleicht weniger Erfolg. Daher dürfen wir diese Aussagen jetzt nicht kritisieren. Lasst uns also unser Programm kritisieren, wenn wir an der Macht sind. Nur so nämlich hat die Linke eine echte Option.« Der letzte linke Student hält inne. Das ist nicht besonders moralisch, was er da geschrieben hat. Aber: es ist politisch. Zudem gilt: »Immer nur Rückgrat haben ist bürgerlich.« Sagt Brecht. Auch das steht im besonderen Notizbuch. Der letzte linke Student ist stolz auf sich. Er kann nämlich plötzlich pragmatisch denken. Früher: dachte er immer nur dialektisch. Jetzt aber: hat er sich einen zweiten Denkweg erarbeitet.

Der letzte linke Student legt das besondere Notizbuch beiseite. Er schaut in den Spiegel. Ja, auch seine Gesichtszüge sind entschlossener geworden. Bald schon: ist er ein richtiger Mann. Erst mal aber: geht er zum Parteibüro. Dort holt er: Werbematerial. Weil man: anfangen muss. Und auch wir müssen nun erkennen, dass wir, wenn wir erst teilnehmen, auch endlich erwachsen geworden sind.

jörg sundermeier