Frühe deutsche Spaßgesellschaft

Kein Fall für die Geschichtsbücher: der linke Antizionismus der 68er. von thomas käpernick

Ein Foto zeigt Dieter Kunzelmann 1969 mit einem dicken Pflaster auf dem Auge – als Opfer uniformierter Schläger? Nein, er hatte nur zu exzessiv LSD konsumiert. Er war zu der Zeit vom Generalsekretär des Zentralrates der umherschweifenden Haschrebellen zum Tupamaro Westberlin geworden.

Diese Story gehört zur Selbstinszenierung Kunzelmanns; weniger gefallen wird ihm das Enthüllungsbuch Wolfgang Kraushaars. Jan Süselbeck hat allerdings in seiner Vorstellung dieses Buches in der Jungle World, 27/05 weder den Background Kunzelmanns in der deutschen Linken reflektiert noch dessen Antisemitismus verifizieren wollen. Die bei Kraushaar zitierten Dokumente weisen aber sehr wohl einen eindeutig antisemitischen Charakter auf. Und Vorbild der Kunzelmann-Gruppe waren weniger – wie Süselbeck schreibt – die Tupamaros, sondern eben palästinensische Gruppen, zu denen die deutsche Guerilla bis hin zum Anschlag auf einen Bus jüdischer Auswanderer in Ungarn 1991 Kontakt hielt.

Der bewaffnete Kampf begann in Deutschland mit einem Anschlag auf die jüdische Gemeinde zu Berlin. Der antisemitische Gehalt des gescheiterten Anschlages ergibt sich nicht nur aus der Wahl des Ortes, den potenziellen Opfern und der Anschlagserklärung, bewusst gewählt war auch der Jahrestag der Tat, der 9. November 1969.

In »Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus« legt Wolfgang Kraushaar die Indizien und Aussagen vor, die auf den Kopf der Tupamaros Westberlin, Dieter Kunzelmann, verweisen. Kraushaar hat den damaligen Bombenleger Albert Fichter, der im Auftrag Kunzelmanns gehandelt habe, ausfindig gemacht und zum Sprechen gebracht.

Das Buch rekonstruiert, wie aus dem Zerfall des Berliner SDS die ersten Guerillagruppen entstanden. Nach fehlgeschlagenen Aktionen wie dem Knastcamp in Ebrach machten sich die Haschrebellen um Kunzelmann erst auf den Weg nach Italien, dann auf die Reise zur PLO, um eine Kurzausbildung im bewaffneten Kampf zu durchlaufen. Zurück in Berlin, unternahm die Gruppe eine Serie von Anschlägen. Attackiert wurde neben der Gedenkfeier der Jüdischen Gemeinde zum 9. November auch ein Büro der Fluggesellschaft El Al. Die Verantwortung für den Anschlag auf ein jüdisches Altersheim in München, bei dem 1970 sieben Juden und Jüdinnen starben, bleibt weiterhin ungeklärt.

In seinem Erinnerungsbuch »Leisten Sie keinen Widerstand« hat es Kunzelmann verstanden, seine Stadtguerillazeit, die mit seiner Festnahme im Sommer 1970 endete, so darzustellen, als sei sie nicht gefährlicher als seine Aktivitäten als Spaßguerillero und Politclown, als Eierattentäter und ähnliches gewesen. Er selber habe die Kalaschnikow aufgrund fehlenden Zielvermögens sofort aus der Hand gelegt, auch in seiner Zeit als Tupamaro Westberlin habe niemand bei Anschlägen verletzt werden sollen und man habe mit 15 Leutchen erfolgreich eine große Bewegung simuliert. Der Anschlagsversuch auf das jüdische Gemeindehaus trage nach Kunzelmann die Handschrift deutscher Geheimdienste. Er selbst grenzt sich nicht inhaltlich vom Anschlag ab, dessen Vermittelbarkeit er anzweifelt. Analysiert man aber die damalige politische Taktik Kunzelmanns, die in der Provokation überharter, den faschistischen Charakter der Regierung decouvrierender staatlicher Reaktionen bestand, liegt nahe, dass es ihm gar nicht um »Sympathien für die legitimen Interessen der Palästinenser« ging. Somit liegt der Anschlag sehr wohl in der Logik der Kunzelmannschen Politik. Dies gilt erst recht, wenn man um die von Kraushaar analysierten inhaltlichen Übereinstimmungen zwischen der Anschlagserklärung und den Veröffentlichungen Kunzelmanns weiß.

Nach den Recherchen Kraushaars ist offensichtlich, dass Kunzelmann hier die eigene Geschichte geschönt hat. Sollten die von Kraushaars Zeugen kolportierten Zitate stimmen, vertrat Kunzelmann damals einen aggressiven Antisemitismus. Daniel Cohn-Bendit soll von ihm bei einem Besuch in der Kommune 1 mit den Worten »kleines Judenschwein« empfangen worden sein.

Wichtiger als die Frage nach der Verantwortung und der Motivation Kunzelmanns sind die Fragen nach der Geschichte des linken Antizionismus. Die von Kraushaar befragten Zeugen und Zeuginnnen stellen die Geschichte immer noch so dar, als habe man es mit dem Anschlag nicht ernst gemeint. Albert Fichter behauptet, er habe sich vor dem Attentat von der Funktionsuntüchtigkeit der Bombe überzeugt. Und Ex-Militante werden einsilbig, wenn sie zum 9. November 1969 Auskunft geben sollen. Nein, wer es war, darüber hätten sie nichts gehört. Und wenn nachgebohrt wird, welche Bedeutung der Antizionismus und die Kontakte zu palästinensischen Terrorgruppen für die Berliner Linke hatten, kommt blanke Ignoranz gegenüber der Antisemitismusdiskussion zum Vorschein – wie vor einigen Jahren in Freiburg, als ein ehemaliges Mitglied der Bewegung 2. Juni über sein Politleben plaudern sollte, konkrete Fragen etwa zum Anschlag vom 9.November 1969 aber abbügelte.

So viel wird aus den von Kraushaar dokumentierten Erklärungen und Briefen von 1969 deutlich: Der linke Antizionismus hat etwas zutiefst Deutsches an sich.

Schon in der Anschlagserklärung wird der Bogen zum Nationalsozialismus geschlagen: »Die Kristallnacht von 1938 (wird) heute täglich von den Zionisten in den besetzten Gebieten wiederholt.« Neben dieser Relativierung der NS-Judenverfolgung wird der Vorwurf erhoben, dass Auschwitz für die »faschistische« Politik Israels instrumentalisiert werde. In einem »Brief aus Amman« spricht Kunzelmann vom »Judenknax« der Linken. Und in dem zweiten »Brief aus Amman« vom April 1970 gibt er die Losung aus: »Wann endlich beginnt bei euch der organisierte Kampf gegen die heilige Kuh Israel? … Die Parole ›Amis raus aus Vietnam‹ ist nie transformiert worden in die Parole ›Raus aus Deutschland‹.« Kunzelmann bietet eine krude Mischung von ordinärem deutschen sekundären Antisemitismus und nazikompatiblen Parolen.

Noch deprimierender ist der Befund, wenn man liest, welchen Stuss seine politischen Gegenspieler auf der Linken absonderten. Tilmann Fichter, ehemaliger Westberliner SDS-Vorsitzender und Bruder des Attentäters, nutzte die Parolen der Tupamaros Westberlin, um eine sich auf die Klassiker des ML berufende Deutung des Antisemitismus zu wagen. In vulgärmarxistischer Tradition unterstellte er den Juden eine »kleinbürgerliche Gesellschaftsdisposition« und warf dem Zionismus vor, sich – selbst Schuld! – den »kleinbürgerlichen Antisemitismus« zu eigen gemacht zu haben.

Wieso kam ab 1967 die israelfreundliche Linke im SDS, welche Kibbuzreisen organisierte, dazu, sich gegen die Überlebenden des NS zu wenden und sich damit auf Seiten derer zu positionieren, gegen die zu revoltieren sie angetreten war? Der Bruch mit der Vätergeneration der Täter, die Entlarvung von NS-Funktionären in hohen bundesdeutschen Rängen ist das, was sich vom inflationären Faschismusvorwurf der 68er verdienstvoll abhebt. Wieso aber brach nun ein deutscher Diskurs durch, in dem emphatisch vom »Volk« geredet wurde und in dem die deutsche Schuld endlich abgeschüttelt werden sollte? »Die Bombe hat gezündet … Springer, Senat und die Galinskis wollen uns ihren Judenknax verkaufen. In das Geschäft steigen wir nicht ein … 25 Jahre nach der faschistischen Diktatur kommt den Herren noch einmal ihre Vergangenheit hoch. Für ihre Bewältigung ist es schon lange zu spät.« Dieser auf einer Anschlagserklärung per Tonband veröffentlichte Sprung aus der Geschichte hinein in eine Identifikation mit den Palästinensern ist in seiner Simplizität sicherlich untypisch. Aber in der einfachen Negation der deutschen Nachkriegsgesellschaft, die in unkonkreter Rede vom »Faschismus« steckenblieb, steckte eine überraschend hohe Akzeptanz des Postfaschismus. Die von Kraushaar favorisierte These vom Irrlauf von Angehörigen des zerfallenden SDS, welche »orientierungslos« auf Radikalisierung setzen und in Antisemitismus machen, überzeugt nicht. Gehört es doch gerade zum Problem des deutschen Antizionismus, dass er nicht nur von der Stadtguerilla, sondern auch von K-Gruppen propagiert wurde. Tendenziell prägt er auch mit der unter Brandt formulierten Erklärung des europäischen Parlaments für das »Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser« das Regierungshandeln. Die staatliche Rolle beim Anschlag auf die Jüdische Gemeinde ist übrigens nach wie vor ungeklärt. Ein V-Mann des Verfassungsschutzes war sogar nach offiziellem Eingeständnis im Besitz der verwendeten Bombe.