Mobile Knoten

Das Verkehrsprojekt »Reichsparteitagsgelände« illustriert eine Art oberer Grenze der Effekte im Raum, die mit der Autobahn verbunden sein können. Von Benjamin Steininger

Eine Stelle gibt es im Netz der Reichsautobahn, von der aus die Bautypen »Kreuzung« und »Rastanlage« – die Platzhalter also im Spannungsfeld von Dezentralisierung und Konzentration – noch einmal verdichtet in Augenschein genommen werden können, und zwar, weil sie hier in jeweils besonderer Ausprägung übereinander liegen: ein riesiges, bündelnd zerstreuendes Autobahnkreuz, ein gigantischer, mobil konzentrierender Rastplatz und beides in ihrer Rollenverteilung auf den Punkt gesteuert nach dem striktesten Zeitplan. Die Rede ist vom in »eigenartig schöner Waldlandschaft« im Südosten der Lebkuchen-, Bratwurst- und Rassegesetzestadt Nürnberg gelegenen »Reichsparteitagsgelände«.

Jedenfalls in der Projektplanung konzentrieren sich die für den Autobahnraum als charakteristisch ausgewählten Einzelmotive wie von selbst zu einem zugespitzten Modellbild seines möglichen Funktionierens, lässt sich der praktisch wie begrifflich so mobile und biegsame Raum der Autobahn von einem markanten Geländepunkt aus mit seinen Paradoxien umreißen.

»Die ganze Anlage des Parteitagsgeländes mit seinen Bauten ist die sinnvolle Lösung der schwierigen Verkehrsaufgabe des Massenaufmarsches der Nation«, hatte Fritz Todt 1937 in der Strasse verlautbart, und einer seiner Mitarbeiter, der für allerlei Fragen der Verkehrszählung, Netzplanung und Raumordnung zuständige Rudolf Hoffmann, führt in einem mit Skizzen, Karten und Bildern illustrierten Artikel – »Die Verkehrsbedienung des Reichsparteitagsgeländes durch Reichsautobahn und Kraftverkehr« – ein Jahr später aus, wie diese »schwierige Verkehrsaufgabe« autobahntechnisch fast mühelos zu lösen sei.

Drei in ihrer Größe vergleichbare Gebilde dominieren Hoffmanns Karte: das klassische Ballungsgebiet Nürnberg-Fürth, das diesem Ballungsraum an Fläche fast ebenbürtige Reichsparteitagsgelände mit all seinen Übernachtungslagern, sowie die wiederum ähnlich ausgedehnte Autobahninfrastruktur mit ihren Kleeblättern, Schleifen, Zubringerstraßen und Sonderspuren. Wie auf dem Seziertisch ist das Zentrum bzw. Herz des nationalsozialistischen Autobahnraumes auf dieser Karte ausgebreitet, das Kontrastmittel »erster deutscher Eisenbahnraum Nürnberg-Fürth« inklusive.

Die gesamte Anlage des Reichsparteitagsgeländes, neben dem Kreuzungspunkt dreier Autobahnlinien aus dem Kiefernwald herausgerodet, wirkt hier wie ein auf rund 24 Quadratkilometer aufgeblasener Rastplatz, wo nicht nur wie auf den 15 Hektar am Rasthof Chiemsee das südliche Oberbayern am Sonntagnachmittag eine Art temporäres Zentrum und Schaufenster für Übersee erhält, sondern wo das ganze nationalsozialistische Reich genau einmal im Jahr für ein paar Stunden bis Tage zur totalitären Innen- und Außenschau verdichtet wird.

Verkehrstechnisch wären wohl auch andere Knotenpunkte derart geeignet, doch da in einem hindernislos verknoteten Netz jeder Knoten so gleich viel wert ist wie an einer hindernislosen Straße jeder Punkt, kann man sich die auf- und abzuwertenden Punkte nach verkehrsfremden Kriterien aussuchen und nimmt hier den moorigen, aber gerade deswegen urtümlichen Chiemseestrand, dort das kaiserburggeschmückte Nürnberg, um vorübergehende Zentren zu zaubern. So stellt sich das wie so vieles andere von Albert Speer geplante, zum Teil auch ausgeführte und mehrere Male ausgiebig bespielte Reichsparteitagsgelände ganz im Gegensatz zu den nationalsozialistischen Bauvorhaben in Berlin, München oder auch Linz als neuartiges Transitzentrum dar.

Während die Entwürfe für die »Reichshauptstadt«, die »Hauptstadt der Bewegung« oder die »Jugendstadt des Führers« funktional wie architektonisch obzwar monströs, doch an klassischen Vorstellungen vom Zentrum orientiert bleiben, wird hier mit teils sehr stabiler, teils sehr ephemerer Kulisse aus Natursteinfassaden und den bekannten Fahnenwäldern bzw. Lichtdomen ein mehrfach transitorisches Zentrum erstellt. Überall herrscht hier Konzentration als konzentrierter Durchfluss enormer Massen: als elektrischer Strom durch lichtdomerzeugende Flakscheinwerfer, als Panzer- oder Fliegerzug über den Truppenaufmarschplatz »Märzfeld«, als in Reih und Glied über granitene Aufmarschrouten gelenkte Menschenmasse.

Dementsprechend ist die Anlage konzipiert. Hier sollen nach Plan Hunderttausende von Personen durch die Militärübungen, Appelle und durch andere Kultveranstaltungen der Nationalsozialistischen Bewegung geschleust werden. Danach wird die Menschenmasse von »Zeppelinwiese«, »Märzfeld«, »Deutschem Stadion« und »Kongresshalle« aus entweder wieder hinter die Kulissen gelenkt, in die im Endausbau 500 000 Personen fassenden SA-, HJ-, RAD-, SS-, NSKK-, und PL-Übernachtungslager, oder gleich wieder an all die Ausgangspunkte zurückbeordert, von denen aus man erst vor ein paar Stunden aufgebrochen war, jedenfalls, so Hofmann, wenn man per Pkw oder Omnibus zum »Einsatzort« unterwegs war.

Die Anschlussstelle der Reichsautobahn, diese ungeheure Schleusenanlage mit ihren mehrfachen Kleeblättern, Schleifen, Zubringer- und dritten Zusatzspuren, die sich über das ganze Aufmarschgelände wie auch weit in den Reichswald hinein erstreckt, saugt diese Massen ebenso kunstfertig und geschwind, wie sie sie vor und für ein paar Stunden ausgespuckt hatte, auch wieder ab.

Den Bahnhof gleich neben dem Märzfeld kann Hoffmann bei seinen Überlegungen getrost ignorieren, ist doch bei für mehr als 400 000 Besucher geplanten Stadien ein Verkehrsträger zu vernachlässigen, der sogar in seiner nicht nur zeitgenössisch effektivsten Variante – als Berliner Olympia-S-Bahn nämlich – trotz vieler Sonderbahnsteige bei (vermutlich bereits maßlos übertriebenen) 48 000 im Nahverkehr abgefertigten Personen pro Stunde seine Transportobergrenze erreicht, vom Fernverkehr und den hier völlig utopischen Zugabfahrten im Minutentakt ganz zu schweigen.

Der Autobahnanschluss und das daran geknüpfte Reichsautobahngesamtnetz mit seiner enormen »Leistungsreserve« sind nach Hoffmanns Berechnungen den Aufgaben sowieso auch allein gewachsen. Die An- und Abfahrt über die Autobahn kann je nach Ausbauzustand der Anschlussanlagen im Lorenzer Reichswald von 135 000 bis 200 000 motorisierten Spektakelbesuchern pro Stunde angetreten werden, wenn »jede zur Verfügung stehende Fahrspur bis an die normale Grenze ihrer Dauerleistung, das heißt mit rund 1 000 Fahrzeugen je Stunde und Spur belastet wird, eine Annahme, die bei der besonderen kreuzungsfreien Anlage der Autobahnen, der Art ihrer Verknotungen und Auf- und Abfahrtsstellen sicherlich gerechtfertigt ist«.

Eine Reisezeitgraphik mit dem hellen Zentrum Nürnberg und den pro zusätzlicher Reisestunde immer dunkler werdenden Peripherien à la München, Wien oder Berlin illustriert, wie kurz diese massenhaft individuellen An- und Abfahrten von und nach egal wohin einmal sein werden. Fast das ganze Reichsgebiet ist auf »Tagespendel«-Entfernung an das Parteitagsgelände herangerückt und diesem so infrastrukturell gleichsam einverleibt, wenn das Netz der Autobahn einmal fertig ist.

System variabler Intensitätszonen

Auch wenn die Parteitagsanlagen im Lorenzer Reichswald bekanntlich nicht mehr in all ihrer Monströsität fertig gestellt und genutzt wurden und die dortigen Autobahnkreuze erst nach und nach, dann aber in noch größerem Ausmaß als auf Hoffmanns Karte als Bundesautobahnkreuze dem Verkehr übergeben werden sollten, illustriert das Verkehrsprojekt »Reichsparteitagsgelände« eine Art oberer Grenze der Effekte im Raum, die mit der Autobahn verbunden sein können. Von dieser zumindest zeitgenössisch extremsten Vorstellung eines Autobahnzentrums her lässt sich der neue Raum und seine Ordnung folgendermaßen beschreiben und begrifflich fassen:

Unter Autobahnbedingungen ist es möglich, lokale Zentren nach Art einer kleinen Raststadt irgendwo aus dem Nichts hervorzuzaubern (Chiemsee) wie auch Menschenmassen, die andernorts eine ganze Metropole bevölkern könnten, an beliebigen Punkten des Netzes zu konzentrieren. Im Maximalfall wird aus einem Kiefernwald eine mobile Millionenstadt.

Diese enormen Verdichtungen sind im Vergleich zu herkömmlichen, etwa von der Eisenbahn und öffentlichem Schnellbahnverkehr formatierten Metropolen womöglich nicht extraordinär, wohl aber die Geschwindigkeit ihrer Zusammenführung und erneuten Zerstreuung. Innerhalb weniger Stunden können hoch motorisierte Massen von Menschen hin- und herbeordert werden, so dass sich »echte« Metropolen zeitweilig im peripheren Abseits befinden und demgegenüber für 360 Tage im Jahr völlig ungenutzte Kulissen einem ganzen Land als vorübergehendes Zentrum dienen.

Das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg mit seinem einerseits auf das ganze Reich ausgeweiteten Einzugsgebiet und der andererseits auf wenige Tage im Jahr begrenzten Nutzung macht deutlich, wie der Begriff des Zentrums hier zwar weiterhin funktioniert, in all seiner Zuspitzung aber auch einer besonderen Veränderung, nämlich einer Verzeitlichung, unterliegt. Anwendbar scheint er auf den Lorenzer Reichswald als Rastplatz der Bewegung nur noch, wenn er für einen geschwinden Momenteindruck gebraucht wird, eingedenk der Tatsache, dass das eben noch konstatierte Zentrum des nationalsozialistischen Reiches auf der Zeppelinwiese wenig später schon in Auflösung und Rückverwandlung in ein nur peripher vom Verkehr gestreiftes Waldgelände begriffen sein kann.

Orte, und seien es die zentralsten, fungieren im vom Reichsparteitagsgelände aus überschaubaren Raum nirgendwo mehr als zwangsläufig ruhende Größen, die statisch je nach dem, was und wie viel sich dort dauerhaft befindet, als Zentren charakterisiert werden können, sondern sie müssen stets nach der dynamischen Frage sortiert werden, was wie schnell an diesen Punkt gebracht werden kann, um die wofür auch immer geeignete Kulisse zu füllen.

Ermöglicht wird diese dynamische Füllung und Leerung des Raumes, das Hin- und Herwechseln der verdichteten und der ausgedünnten Gebiete per Automobil, das Gleiten also des nationalsozialistischen Zentrums etwa von der Aufmarschpiste aus Granit auf die Abfahrtspiste aus Beton nicht nur durch die hohe Verkehrsgeschwindigkeit des gegenüber der Eisenbahn spezifisch stärker motorisierten Automobils. Entscheidend scheint vielmehr, dass durch die »kreuzungsfreie Anlage der Autobahn«, durch die »besondere Art ihrer Verknotungen«, wie Hoffmann sich ausdrückt, zwischen allen jeweiligen Abfahrtsorten und dem Zielort lauter durchgängige, selbst an Einmündungen und Abzweigen ununterbrochen hindernislose und nahezu gleichmäßig schnelle Strecken ihren Dienst verrichten.

So schließlich, bei den auf Hoffmanns Entfernungsgraphik mit der bereits fertig vorgestellten Autobahn von überall her nach überall hin freigeschalteten Linien, ist nicht nur schnell aus dem dunklen Reich ins helle Nürnberg zu fahren – fast jeder Ort am Netz könnte dann seinerseits als Zentralpunkt für auf ihn zurasende, zahllos ungebremste Linienbündel mit all ihren individuellen Verästelungen verstanden und genutzt werden, als helle Mittelzone eines nach außen hin immer dunkler werdenden Fahrzeitdiagramms.

Die spezifischen Zentren also einer fertig gestellten Autobahn sind damit offenbar nicht nur in einigen aus Lärchenschindeln und Telefonkabeln errichteten Ausflugsanlagen oder in einer gigantischen, aber doch singulären Aufmarschmaschine aus Granitplatten und Speerschem Flakscheinwerferlicht zu suchen, die verkehrstechnische Beliebigkeit des Netzpunktes »Nürnberg« in Hoffmanns Fahrstundentabelle macht das deutlich. Indem transitorische Zentren bis hin zu diesen Ausmaßen – jedenfalls was die realistisch einplanbare transitorische Bevölkerung anlangt – fast überall im Netz vorstellbar und realisierbar sind, erscheint der ganze von der Infrastruktur der Autobahn erfasste Raum als zentraler wie peripherer Möglichkeitenraum. Er erscheint sowohl als Anfahrtsgebiet wie auch als potenzieller Standort eines mobilen Zentrums, als insgesamt – so der hier gewählte Begriff für dieses räumliche Gebilde der De/Zentralisierung – »zentrale Zone«.

Dass und wie sich dieses Raumkonzept flüchtiger und potenzieller Verdichtung vom Eisenbahnraum mit seinen auf Jahrzehnte hinaus mehr oder weniger statischen Kristallisationszentren unterscheidet, ist klar. Doch auch von der »endlosen Stadt« des Automobils, die McLuhan »entlang der Landstraßen« in Nordamerika wachsen sieht, von diesem konturlosen, die klassischen Größen »Stadt« und »Landschaft« aus Gelände und Karte nivellierenden Gebilde, ist der Raum der Autobahn, verstanden als »zentrale Zone«, abzugrenzen.

Die Autobahn nivelliert den Unterschied von Stadt und Land immerhin nicht nur auf ein gleichmäßig niedriges Niveau allenfalls suburbaner Dichte. In der variablen Zonenlandschaft der Autobahn wird Raum durchaus scharf kontrastiert, wenn auch nicht mehr wie in Räumen klassischer Zentren auf Dauer, sondern flüchtig. Der Raum der Autobahn besteht aus Gebieten reichlich niedriger momentaner Intensität – der Lorenzer Reichswald, als Walter Ostwald ihn durchfährt – sowie aus Gebieten reichlich hoher momentaner Intensität – der Lorenzer Reichswald, wie ihn Rudolf Hoffmanns Planungen vorsehen bzw. etwas aktueller, ungeplanter und doch ganz auf dieser Linie, der Lorenzer Reichswald, in dem Hunderttausende zu diversen ostdeutschen Ferienanfängen in den neunziger Jahren unfreiwillig einen Eindruck von der schließlich nur noch schleppend mobilen bundesdeutschen Metropole auf der Autobahn gewinnen konnten, als sich dort bis zu 100 Kilometer lange Staus gebildet hatten.

Die Autobahn geht weiter

In seinem Text »Die Mitarbeit der lebendigen Natur beim technischen Werk« blickt Hans Lorenz aus dem Jahr 1941 in die Zukunft. Selbstverständlich hat Deutschland den Krieg gewonnen und in- und ausländische Ingenieure sind an einem »schönen Sommertag des Jahres 1966« unterwegs, um die Landschaft, die die Autobahn umgibt, zu begutachten.

Alles Mögliche wird besichtigt und den ausländischen Gästen gezeigt: die standortgemäße Begrünung von Felshängen, Brachen und Böschungen in freier Aussaat – »Wie anders hätten wir die großen Strecken im Osten bewältigen sollen?« –, ein Straßenvermessungstrupp mit Kleinflugzeug, Reitpferden und in Omnibusse eingebauten Auswertungsgeräten berichtet von seiner Arbeit, und zur Mittagszeit wird selbstverständlich die »ureigenste Anlage des Kraftfahrers« angefahren, ein Rasthof: »Eine kurze Allee hatte uns vom Parkplatz zum Rasthaus geführt. Durch die Empfangshalle hindurch traten wir auf die Terrasse. Dort spielte über einer Brunnenschüssel ein zarter Wasserstrahl im flimmernden Licht, eine geordnete Fülle von Sommerblumen duftete und leuchtete, ein Anblick, wie man ihn im täglichen Leben selten antrifft. Darüber hin schweifte unser Blick ins Land hinaus, während wir den Hang hinunter Obsthaine und Gemüseland, mit Blumenbändern durchwirkt, sich dehnen sahen. Zwischen den Beeten der Gärtnerei arbeiteten braungebrannt die jungen Gärtnerinnen. Eine von ihnen kam mit einem großen Korb frisch geernteten Salats soeben den Hang heraufgeschritten, um ihre Last in der Küche abzuliefern. Wird es zum Nachtisch auch noch von den großen roten Erdbeeren geben, die dort so verlockend unter dem dunklen Laub hervorleuchten? Wo könnte man frischeres und schmackhafteres Essen bekommen, als hier in der ureigensten Anlage des Kraftfahrers, im Rasthof?«

Die reinste Urlaubsstimmung herrscht hier also direkt neben der Autobahn, eine Art sich selbst versorgender Bauernhof, mit Milchvieh und Gemüsegärten im Dienste gut gelaunt gebräunter Angestellter und zufriedener Gäste.

Von Gästescharen ist in Hans Lorenz’ Vision der Sixties allerdings wenig zu spüren, jedenfalls nicht der von Walter Ostwald schon 1939 beschriebene »Betrieb, der an Berlin erinnern könnte« und der sich nach Ostwalds Prognose in einem Nachkriegsdeutschland noch erheblich steigern dürfte: »Durch den KdF-Wagen und die allgemeine deutsche Motorisierung wird nach dem Kriege auf den von Dr. Todt so wunderschön gebauten und auf den noch kommenden Reichsautobahnen ein wesentlicher Teil des deutschen Lebens sich abspielen.« In der Tat hat sich der Raum der Autobahn im Nachkriegsdeutschland eher nach Walter Ostwalds Motorisierungsprognose als nach Hans Lorenz’ idyllischer Szenerie entfaltet.

Dass und wie das deutsche Autobahnnetz als Netz von Bundesautobahnen, als aus immer festeren Fäden immer dichter geknüpfter Teppich, das Land bedeckt, zeigt jeder Blick auf die Landkarte. Legt man überdies einen Maßstab an, nach dem schon in halber, d. h. einbahniger Ausführung etwa in Schlesien oder Ostpreußen ausgeführte Strecken als veritable Reichsautobahnen galten, so gibt es in Deutschland – mindestens im ehemaligen Westen – kaum einen Flecken, der über alle Straßenbauwellen hinweg (Wirtschaftswunder, Leberplan, Zonenrandförderung etc.) nicht von autobahnähnlicher Infrastruktur, ob mit schwarz-gelben oder weiß-blauen Schildern, erfasst worden wäre.

Die Wellenbewegung zwischen Verdichtung zu Zentren, Ausgleich in der Fläche und erneuter Verdichtung, hat so die mobile Konzentriertheit der Reichsautobahnbauten und -pläne in der Fläche verteilt und noch verstärkt. In den Städten wurden mit den Bombentrümmern auch die Pläne für Gauforen, Nord-Südachsen etc. noch von ihren eigenen Planern beiseite geschafft und dafür autogerechte Schneisen durch jede mittlere Großstadt gelegt. Auf dem Land, das heißt in Kleinstädten der Größenordnung Memmingen, Kaufbeuren, Neu-Ulm oder Kempten, trugen die Nachfolgebetriebe der hochmodernen, zentral auf dem Land dezentral versteckten Zuliefererbetriebe z.B. der Flugzeugindustrie nicht unwesentlich zum wirtschaftlichen Aufschwung Deutschlands bei.

Diese nach irgendwohin verlagerte Industrie, die man dort oft noch nicht mal wie bei den aufs Land verlegten Großindustriewerken wie Salzgitter oder Wolfsburg ahnen würde, machte aus Deutschland einen großen Gewerbepark, mit auf die Autobahn verlagerten, rollenden Stapelflächen und zunehmend gleich an die Autobahn verlegten Verkaufszentren. Der führende Staffelstab mobiler Zentren, den die Reichsautobahn für sehr kurze Zeit in sehr merkwürdiger Prägnanz innehatte, ist in dieser von 0 bis 24 Uhr pulsierenden, von Stau und Massenkarambolagen bedrohten und deswegen von Staumeldern für das Rundspruchmedium und Ex-»Heeresgerät« Radio wie von Rettungsteams im Hubschrauber überflogenen, längst europäischen Autobahnzone, in der alte Städte und beschauliche Gegenden wie bewohnte Kulturdenkmäler auf Verkehrsinseln wirken, schon länger weitergegeben an den großen, noch öldurstigeren Bruder des Automobils: den Flugverkehr und seine Infrastruktur.

»Der Flughafen wird zur neuen Stadt, die Transitstadt mit ihren zehn Millionen ›pro Passagierjahr‹ wird zur letzten Stadt. Flächenmäßig steht sie in nichts hinter den größten Metropolen zurück (der Flughafen von Dallas hat die gleiche Grundfläche wie die Stadt Paris)«, hatte Paul Virilio in seinem Text »Fahren Fahren Fahren…« Ende der siebziger Jahre den, bis zur wirklichen Einlösung der Versprechen von Weltraum- bzw. Cyberstädten, vorläufigen Fluchtpunkt des Kurses beschrieben, der in nationalsozialistischen Transitstädten wie Chiemsee und Nürnberg – um bei den nicht sofort tödlichen Orten der Massenkonzentration zu bleiben – schon ausgegeben war. Extra Suiten für Despoten wie das »Führerzimmer« am Rasthof Chiemsee sind dabei vermutlich noch nicht einmal an heutigen Großflughäfen anzutreffen, warum auch, man gelangt, wenn schon nicht mit der gepanzerten Limousine, so mit dem Hubschrauber sowieso in ein paar Minuten von der Suite ins Flugzeug.

Despotisch und aggressiv sind die Transitstädte heutiger europäischer Prägung deswegen kaum weniger, am wenigsten in der Durchsetzung ihrer selbst. Neben mehreren Großflughäfen mit dem Flächenverbrauch etlicher Innenstadtquartiere nennt etwa Paris seit den neunziger Jahren eine weitere Spezies von marktbefohlenen Transitwesen sein eigen: das europäische Disneyland, etwa so groß wie der Flughafen Charles de Gaulle. Und in Berlin fordert 1998 der despotische Spekulant in Gestalt der Daimler-Chrysler-Tochter »Debis«, das sowieso schon als eine Art Vorstadtraumschiff in der so genannten Innenstadt – Ex-Stadtrand, Ex-Regierungsviertel, Ex-Sektorengrenze – gelandete Suiten- und Vergnügungsareal Potsdamer Platz mit einem Asphalt-Link ins Umland nachträglich zur Autobahnraststätte zu befördern.

Bleiben die Protagonisten des hier vorgestellten Autobahnraums: Schkeuditz, Chiemsee und Nürnberg. Am wenigsten spektakulär ist dabei die konkrete Karriere des ersten, schon wegen der in der DDR einigermaßen gedämpft einsetzenden Motorisierungswut und der ohnehin eher unauffälligen Rolle des Kreuzes im Transitraum.

Weder haben sich hier also wie an der in deutsch-deutscher »Zusammenarbeit« wiederaufgebauten Saalebrücke bei Hirschberg bauhistorische Possen auf Weltniveau abgespielt, noch ist eine ganze Stadt wie um das Autobahn-Bayer-Kreuz Leverkusen herum in Sicht, und auch mit einer so prominenten Rolle im Radioraum, wie sie das Kamener, das Biebelrieder, das Westhofener oder das Kreuz Dortmund-Unna innehaben, kann vorläufig nicht gedient werden. Immerhin gibt es am ersten von mittlerweile Dutzenden deutschen Autobahnkreuzen bei Schkeuditz bald den »Interkontinentalflughafen für Mitteldeutschland« samt europäischem DHL-Paket-Drehkreuz und bereits jetzt diverse Gewerbeareale.

Durchaus mehr ist im Lorenzer Reichswald passiert. Das verkehrsmäßig voll bis halb erschlossene ehemalige Reichsparteitagsgelände mit seinen umfangreichen Übernachtungslagerflächen wurde nach dem Krieg, d.h. nach 1957, vom gigantischen Nationalrastplatz zu einer fast normalen bundesdeutschen Trabantenstadt mit Autobahnanschluss rück- bzw. weiterentwickelt: zur Trabantenstadt Nürnberg-Langwasser.

Neben 32 000 Bewohnern findet man zwischen den etwa nach Gleiwitz, Beuthen, Breslau oder Bertolt Brecht benannten Straßen so statisch mobile Einrichtungen wie ein Werk des Elektronikkonzerns Grundig, den U-Bahn-Betriebshof, ein Briefzentrum, eine Durchgangsstelle für Aussiedler, die erste Gesamtschule Bayerns, das Messegelände der Stadt Nürnberg und das mehrfach umgebaute Frankenstadion (zuletzt zur Fifa-WM 2006). Speers Bauten wurden zum Teil gesprengt, zum Teil als Ruinen weiterverwendet. Die Freifläche »Zeppelinfeld« dient als Schauplatz für Rockkonzerte (1978 sehen/hören 80 000 Menschen dort Bob Dylan, der sich der Brisanz der Location wohl bewusst ist – es gibt dort »Rock im Park« bzw. »Monsters of Rock«-Konzerte, ohne »Led Zeppelin« allerdings, die spielten mehrmals in den Messehallen einige Straßenecken weiter) sowie für Autorennen wie die »200 Meilen von Nürnberg« auf dem »nach Monte Carlo berühmtesten Innenstadtkurs der Welt«, dem »Norisring« (Ziel vor der Zeppelinfeldhaupttribüne). Die dekonstruktivistisch überarbeitete Bauruine der so genannten Kongresshalle beherbergt seit 2001 das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände.

»Chiemsee Recreation Center«

Auf ganz andere Weise erstaunlich ist die Karriere des Rasthauses Chiemsee. Nach nur 13 Monaten Bauzeit am 27. August 1938 dem Verkehr übergeben, wurde die Anlage nach nur 20 Monaten zivilen Durchgangsverkehrs am 28. April 1940 zum Genesungsheim der Wehrmacht. Diese Rolle spielt das falsche Märchenschloss bis zum Ende des Krieges weiter, ohne etwa wie das echte Schloss Steinach bei Straubing, das auch als Raststätte – an der Autobahn Regensburg-Passau – vorgesehen war und das als Lagerstätte für Reichsautobahnakten genutzt wurde, bombardiert zu werden.

So verbrannten keine Todt’schen Akten am Chiemsee und auch sonst blieb bei Kriegsende einiges intakt zwischen Ruhpoldinger Marmor, bajuwarischem Neptun und geschrubbter Fichtendecke. Die US-amerikanischen Truppen übernahmen mit der Hardware der Anlage auch gleich das Nutzungskonzept und führten das Rasthaus Chiemsee als Erholungsheim für Militärangehörige einfach unter eigener Regie weiter.

Am 6. Februar 1974 wurde das Gelände schließlich unter Denkmalschutz gestellt und 1995 der letzte Umbau des »Chiemsee Recreation Center« – bestehend aus »Park Hotel« und »Lake Hotel« mit insgesamt 156 Zimmern – vorgenommen, wobei offenbar noch einmal alles getan wurde, den Charakter der Anlage als Musterbeispiel für »old European charme and history« beizubehalten. So blickten etwa Bickls »Volkstypen des bayerischen Oberlandes« in der großen Gaststube noch bis zum 2. September 2003, dem wehmütig und mit großem Feuerwerk gefeierten Ende der US-Karriere der Anlage, auf die amerikanischen GIs mit ihren Familien herunter, wie sie zuvor schon auf den deutschen GI, den Generalinspektor Todt, auf Seifert, Hitler, (von) Braun etc. heruntergeblickt hatten. So grüßt Neptun wohl bis auf den heutigen Tag von seiner steinernen Gedenktafel zur Einweihung des Rasthauses ins zivil verwaltete Leere.

Geboten wurde den GIs, die sich vor der fatalen und letztlich für die vorzeitige Schließung verantwortlichen Urlauberflaute im Zuge von »Iraqi Freedom« zur »First Class Vacation« am Chiemsee entschlossen hatten, wie auch im zweiten »AFRC« (Armed Forces Recreation Center) in Deutschland – dem ehemaligen Olympia-Hotel in Garmisch –, eine angenehme Hotelatmosphäre zu einem günstigen Preis – »Armed Forces Network television, on site restaurant and lounge facilities, state of the art fitness equipment, and facilities for the handicapped«.

Daneben gab es am Chiemsee (und gibt es wohl noch heute am neu errichteten AFRC in Garmisch, dem am 7. Mai 2002 begonnenen und im September 2004 eröffneten »HQ Edelweiss Lodge and Resort«) volles Programm mit insgesamt 32 Aktivitäten. Neben allerlei Sportlichem wie Paragliding, Tauchen, Surfen, Segeln, Mountainbike- oder auch Langlauftouren standen Ausflüge in die nähere bis weitere Umgebung auf dem Programm. Angeboten wurden Fahrten zur ersten Riege bayerischer Märchenschlösser – Herrenchiemsee, Neuschwanstein, Linderhof –, es ging in die Berge zum Skifahren, Wandern, Radfahren etc. – »You can hike Almbach Klamm, a canyon with 50 waterfalls and cascades« –, oder man fuhr nach Wien, Salzburg, »Munich City / Dachau« bzw. Berchtesgaden – »featuring the Salt Mines, Bunkers and Hitler’s Eagle’s Nest«.

Die seltsam perfide Strategie der Erbauer des Rasthauses Chiemsee, mit diesem künstlichsten aller alteingesessenen Gasthöfe und Märchenschlösser am Ufer des »bayerischen Meeres« eine Art oberbayerisch-nationalsozialistisches Disneyland avant la lettre zu errichten, um ausländischen Besuchern Pars pro Toto »Deutschland« ins Photoalbum zu diktieren, ist auf eigenartige Weise aufgegangen, der entwendete Brief hatte – wie immer – seinen Empfänger erreicht. Das »Chiemsee Recreation Center« konnte offenbar mühelos einem Vergleich mit dem »echten« Disneyland in Florida, inmitten dessen sich – wie auch in Seoul und auf Hawaii – ebenfalls ein »AFRC«-Resort befindet, standhalten.

»AFRC-Europe Garmisch and Chiemsee … the best backdrops to every picture you’ll ever take! Being a part of these resorts is a must if you are ever stationed in Europe«, hieß es auf einschlägigen Websites, die Angehörigen der amerikanischen Streitkräfte den Urlaub wenige Meter neben der Bundesautobahn A 8 (E 52) ans Herz legten, und weiter: »… Home Away from Home …«, »… Our prized possession …«, »… the HOTTEST resort around …«.

Nicht einmal Hans Lorenz hätte sich wohl träumen lassen, dass ausländische Besucher aus der Zukunft einer Anlage der Reichsautobahn so viel Wertschätzung entgegenbringen.

Gekürzter Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Benjamin Steininger: Raum-Maschine Reichsautobahn. Zur Dynamik eines bekannt/unbekannten Bauwerks. Kulturverlag Kadmos, Berlin 2005. 257 S., über 80 Abbildungen, 19,90 Euro. Das Buch erscheint dieser Tage.