Der unsichtbare Schatten

Kim Ki-duks neuer Film »Bin-jip« ist zart und brutal und ein kleines Wunder. von tim stüttgen

Was würden eigentlich die Cineasten Europas ohne das asiatische Kino tun? Während der Vorführung einschlafen? Ein Wim-Wenders-Revival einleiten? Es gibt wohl keinen anderen Kontinent, der in den letzten Jahren auf so vielen Film-Festivals seine Spuren hinterlassen hat, auf so vielen Leinwänden neue Ideen präsentierte und so lange von der westlichen Welt ignoriert worden wäre, wie Asien. Erst Japan, dann China, jetzt Korea – das asiatische Kino, oder wenigstens der kleine Ausschnitt davon, den wir in Europa präsentiert bekommen, scheint das Zeitgenössischste der Gegenwart zu sein. Doch wie ging es los mit dem Asien-Hype?

Wir erinnern uns: Es ist Mitte der Neunziger, »Pulp Fiction«, »True Romance« und »Natural Born Killers« bestimmten die Regeln des neuen Genre-Kinos. Robert Rodriguez und Tony Scott machen Karriere mit Tarantino-Drehbüchern, verfilmen stilisiert verspielte Geschichten mit nihilistischen Inhalten, coolen Sprüchen und ästhetisch wirkenden Blutfontänen. Eine neue Ära des Gegenwartskinos ist eingeleitet. Die Postmoderne ist nicht mehr »Blade Runner«, sondern ein eklektizistisches Allerlei aus Vergangenheit, das so aussieht wie Clips auf MTV und so smart selbstreferenziell funktioniert wie »The Simpsons«. Inhalte werden langsam egal, aber immerhin wird der Dualismus Hollywood- und Kunstkino nun von einer unterhaltsamen Fluchtlinie durchzogen.

Als hätten sie auf ein Signal zum Aufbruch gewartet, kamen nun all diejenigen aus ihren Löchern, die jahrelang ein Schattendasein gefristet hatten: Horrorfans und Comic-Freaks, Trash-Experten und Retro-Styler. All ihr Wissen, das in den verstaubtesten Ecken der Videotheken vor sich hin schlummerte, gelangte durch die amerikanische Schule des neuen postmodernen Films zu seiner verdienten Anerkennung. Jeder Filmrezipient, der irgendwie abseitige Spleens in seinem Sehverhalten vorweisen konnte, durfte sich nun etwas auf sein Geheimwissen einbilden und mächtig bei Freunden punkten. Als Cineasten galten nun auch die Konsumenten zweitklassiger Films noirs und pathetischer John-Woo-Epen, und nicht mehr nur die frankophilen Schnösel. Es war der Beginn einer neuen Ära, als Quentin Tarantino mit seinem Drehbuch von »Pulp Fiction« einen Oscar gewann.

Doch es war nur eine Frage der Zeit, bis ein Killer, der wie in »Pulp Fiction« zu Elvis Presley tanzt oder während des Mordes die Bibel zitiert, keinen Zuschauer mehr hinter dem Ofen vorlocken würde. Waren einmal sämtliche Genres durchgenudelt und alle großen Filmzitate des amerikanischen Underground-Kinos verwurstet, wurde es, langsam aber sicher, ziemlich langweilig. Vielleicht fehlte diesem neuen postmodernen Kino auch nur ein bisschen die Seele, vielleicht sehnte man sich wieder nach etwas Sinn hinter den virtuos eingesetzten Oberflächen.

Dass ein bisher im Westen vollkommen unbekannter Filmemacher aus Hong Kong namens Wong Kar-wai gerade von Quentin Tarantino auf abendländische Leinwände gebracht wurde, ist vielleicht nur folgerichtig. Wong Kar-wais Filme »Chungking Express« und »Fallen Angels« mischten mit einem Schlag das ganze Sub-Genre des smarten Popkinos neu auf. Wong Kar-wai wartete mit gesteigertem Tempo und wilderen Bildern auf, aber auch mit mehr Sensibilität. Platz in diesem Universum hatte fast alles: Identitätskrisen unter postfordistischen Arbeitsbedingungen, Liebeskummer und Warenfetischismus, Humor und Sexyness, Gewalt und Melancholie. Gegenüber dieser Mischung konnte das westliche Kino erstmal einpacken. Für den asiatischen Film dauerte es demzufolge nicht lange, bis er mit Palmen aus Cannes, Löwen aus Venedig und Bären aus Berlin überhäuft wurde. Die neue Welle des asiatischen Kinos war endgültig in Europa angekommen.

Waren es in den Fünfzigern die großen Meister aus Japan wie Kenji Mizoguchi und Akira Kurosawa, die dem Westen etwas Neues vom Kino erzählten, kamen nun die asiatischen Innovationen auch aus China, Hong Kong und Korea. Der Erfolg in Europa resultierte nicht nur aus einer Exotik des Neuen, aus der Freude an überbordenden Genre-Kinos und anderen, bisher ignorierten Bildsprachen.

Der Philosoph Gilles Deleuze hatte einmal behauptet, dass das wahre politische Kino historische Umwälzungen beobachtete und neue Bilder für neue Zeiten fände, Bilder der Mutationen von Raum und Zeit. Seien es nun die Attentate der Aum-Sekte in Japan und die New Economy-Krise, oder die diffuse Angst vor der Rückgabe Hong Kongs ans Mutterland China: Es passierte an jeder Ecke in Asien etwas, und in den Filmen spiegelte sich all das (verzerrt) wider. Im Kino von Takeshi Kitano waren die Killer nicht mehr nur Typen mit den richtigen Sprüchen und Anzügen, sondern Outlaws, verstrickt in das Dreieck Familie-Yakuza-Staat. Die besseren Anzüge trugen sie trotzdem. Daneben stand Takashi Miike, ein Filmemacher, der pro Jahr drei bis vier Arbeiten produziert und in allen Genres arbeitet. Auch wenn Miikes Kino ein gefundenes Fressen für jeden verkifften Exotisten ist, der nur darauf wartet, mal wieder zu sehen, wie krass und kaputt die Japaner so drauf sind, zeichnen die Subtexte seiner brutal überdrehten Werke zeitgleich das realistische Psychogramm der japanischen Gesellschaft.

Damit ist er dem gesellschaftskritischen Kino Fassbinders näher, als es auf den ersten Blick scheint. Auch der Regisseur Kim Ki-duk aus Korea ist mit Fassbinder zu vergleichen. Nicht nur, weil auch er zwei, drei Filme im Jahr macht. Sondern weil bei seinem Kino einem das Lachen im Halse stecken bleibt und sich die Figuren mit einer solchen Hilflosigkeit quälen, dass einem Angst und Bange wird. Fragt man den Regisseur, ob seine Arbeit politisch sei, antwortet er lakonisch: »Ja klar.«

Im Westen wurde Kims Kino durch den Film »The Isle« bekannt, einem abstrakten Kammerdrama in einer winzigen Bootsstadt, inmitten eines Sees. Inspiriert von den Gemälden Egon Schieles entwarf der ehemals in Frankreich lebende Landschaftsmaler Kim ein zweistündiges Stillleben aus bewegten Bildern, dessen strukturierende Episoden vom Liebesleben einer Prostituierten handelten. Es ging um die alten Themen, welche, wie Kim erzählt, in Korea immer noch einem Tabu gleichkommen: emotionale Abhängigkeit, der Krieg der Geschlechter, unterdrückter Hass, in der Mitte eine Prostituierte. Danach kam der Film »Bad Guy«, die sicherlich ambivalenteste Arbeit Kim Ki-duks. Sie ist in Deutschland nicht veröffentlicht worden, während in Südkorea die Öffentlichkeit raste. Wegen der Geschichte des gewalttätigen Zuhälters Han-Gi, der eine Studentin erst zur Prostituierten, dann zu seiner Geliebten macht, nannten die Kritiker den Autorenfilmer ein Tier, ein Monster, einen Psychopathen – irgend jemand schrieb sogar, Kims Mutter dürfte ihrem Sohn keine Liebe gegeben haben.

Verschmolzen waren diese Urteile mit Kims Biographie als gesellschaftlicher Außenseiter, als ein angeblicher Koreaner dritter Klasse, ohne Schulabschluss und akademische Filmlehre. Kim zog sich daraufhin zurück, Interviews gab er seither fast ausschließlich in Europa. Einmal sagte er über seine aggressive Hauptfigur, den »Bad Guy« Han-Gi: »Ich habe ihn gehasst, ich habe ihn nicht verstanden. Das Nichtverstehen war der Ausgangspunkt für diesen Film. Er ist es eigentlich bei jeder meiner Arbeiten.«

Andere Interviewer haben Kim Ki-duk andere Informationen entlockt: »Mein Vater ist ein Korea-Kriegsveteran«, sagte Kim einmal in der Zeit, während er anfing, sich selbst zu ohrfeigen. »Ich wurde sehr militärisch aufgezogen«, fuhr er fort, »Schläge gehörten zur Tagesordnung. Ich spüre den Schmerz nicht mehr.« Er soll sich noch mehrmals geohrfeigt haben, die Autorin berichtete von roten Spuren, die in Kims Gesicht zurück blieben. »Erst war Korea von den Japanern besetzt. Dann kamen der Korea-Krieg und die amerikanische Besatzung. Natürlich hinterlassen diese Militärmächte Spuren. Aber sie bleiben abstrakt, man kann die Unterdrückung, die man erlitten hat, nicht wirklich greifen und richtet die Aggression gegen sich selbst. Korea ist eine gebrochene Nation.«

»Mit der Weiterentwicklung der Zivilisation und dem Bildungsanstieg beginnen die Menschen, ihren Hass und ihre Wut tiefer in sich zu verstecken. Das bedeutet aber nicht, dass diese Gefühle verschwinden. Menschliche Beziehungen werden komplexer und abstrakter, die Wut wächst nur immer weiter. Einerseits lädt die moderne Gesellschaft immer mehr persönliche Spannungen auf die Individuen ab – und gleichzeitig werden die Möglichkeiten, diese irgendwo abzuladen, immer kleiner. Das ist eine ungesunde Situation und vielleicht der Grund, warum Kunst existiert. In meinen Filmen ist Rache selten nur eine wirkliche Rache. Es geht mehr darum, Schuldgefühle zu transformieren. Das schuldige Bewusstsein ist das konstante, wiederkehrende Motiv«, sagt auch der Regisseur Chan Wook-Park über seine Arbeit. Letztes Jahr wirbelte Park mit seinem überbordenden und äußerst brutalen Film »Oldboy« den deutschen Kinoherbst gehörig auf.

Kim und Park kennen und schätzen sich. Beide Filmemacher beschäftigen sich mit gewalttätigen Menschen, die sie nicht verurteilen wollen. »Die Gewalt, derer sie sich bedienen, würde ich eine Körpersprache nennen«, sagt Kim über die Motivation seine Figuren. »Ich möchte sie lieber als einen körperlichen Ausdruck verstanden wissen, nicht einfach als negative Gewalt.« Brutalität als Brutalität darzustellen – nicht zu beschönigen –, sich aber trotzdem für die Sehnsüchte hinter den Gesten zu interessieren, sei eines seiner wichtigsten Anliegen. Für Kim liegt wirkliche Brutalität sogar in der Verschleierung realer Gewalt: »Ich will in meinen Filmen nicht melodramatisch werden und scheinheilig um Sympathie buhlen. Ich fühle mich schlecht, wenn Filme Nacktheit und Sex schön zeigen und als Zeichen hundertprozentig positiven Begehrens codieren. Frauen auf der ganzen Welt werden immer wieder zu ungewolltem Sex gezwungen. Entfremdung, Ausbeutung, Gewalt, Schuld und eine leise Hoffnung auf Verständigung – wovon soll ich denn sonst erzählen?«

Trotzdem häufte sich die Kritik an den immer gleichen Konstellationen in Kim Ki-duks Filmen. An den stets unterlegenen Frauen und Männern, die draufschlagen, die nicht sprechen lernen wollen. Seine Zivilisationskritik, die mit einem im Westen schwer verständlichen Buddhismus durchtränkt ist und manchmal so wirkt, als würde man, wenn man einmal die Stadt verlassen hat, um sein Heil auf dem Lande zu suchen, von selbst wieder gesund werden, hat zu heftigsten Diskussionen geführt.

In »Bin-jip«, Kims neuem Werk, gibt es – und das ist ungewöhnlich für Kims Kino – sogar fast einen Helden. Tae Suk (Jae Hee) verteilt Flyer für einen Pizza-Service und hängt sie an die Türen der Leute. Die nicht abgerissenen Flyer deuten darauf hin, dass die potentiellen Kunden im Urlaub sind. So kann Tae Suk in aller Ruhe einbrechen und sich vor den Familienfotos mit seiner Digitalkamera photographieren. Manchmal räumt er auch einfach auf, repariert kaputte Gegenstände oder kocht sich etwas zu essen. Er lässt nie etwas mitgehen.

Eines Tages jedoch bricht er in das Haus eines reichen Arschlochs ein. Erst nach längerer Zeit merkt Tae Suk, dass er nicht alleine ist und schon lange von einer Frau beobachtet wird. Dass sie ein blaues Auge hat, so erfährt er bald, geht auf die Beziehung mit ihrem Ehemann zurück. Im klassisch drastischen Kim-Stil wird fortan der Ehemann für seine Unterdrückung leiden müssen, seine Ehefrau Sun-hwa hingegen folgt Tae Suk und findet Gefallen daran, mit ihm auf dem Motorrad durch die Stadt zu fahren und fremde Häuser von innen kennen zu lernen. Eine Liebesgeschichte entwickelt sich, die natürlich an ihre Grenzen kommen muss. Tae Suk wird sich irgendwann im Gefängnis wieder finden. Sun-hwa erlebt ihre Folter im wieder hergestellten Ehe-Alltag und verliert ihre Sprache. Alles scheint hoffnungslos, wenn nicht Tae Suk irgendwann noch einmal das Appartment aufsuchen würde. Doch um aus dem Kreislauf auszubrechen, muss er unsichtbar bleiben. Im Gefängnis hat er gelernt, aus dem Sichtfeld des Wärters zu entfliehen, dessen Schritte nachzuahmen und sein unsichtbarer Schatten zu werden. Wird er diese Kunst der Unsichtbarkeit auch im Haus seiner Geliebten anwenden können?

»Bin-jip« ist ein kleines Wunder. Einige Kritiker monieren zwar, dass Kim Ki-duk langsam anfängt, sein europäisches Kunstkinopublikum mit weniger brutalen Geschichten zu schonen, aber vielleicht ist das der Ausweg aus den zahlreichen Klischees, die sich in seinem Werk, das mittlerweile zwölf Filme umfasst, bereits gebildet haben. »Bin-jip« ist dazu in nur einem Monat gedreht und fertig gestellt worden. Am 6. August letzten Jahres hatte er mit den Dreharbeiten begonnen, und am 6. September lief »Bin-jip« als Überraschungsfilm auf dem Festival in Venedig. Dass der Film inszenatorische Präzision, klaren Rhythmus und emotionale Genauigkeit besitzt, scheint anhand der kurzen Drehzeit fast unglaublich. Doch diese Unglaublichkeit passt zu den irrationalen Hoffnungsmomenten, mit denen die meisten der so grimmig realistischen Kim-Filme enden.

Dass irrationale Hoffnung als das einzige Mittel erscheint, die rationalistischen Ausbeutungszusammenhänge zu überwinden, die sich im Privaten niederschlagen, mag manchmal etwas irritierend wirken. Aber diese Kino-Vision Kims ist so konsequent wie poetisch und geht nie in einfachen Antworten auf. Dazu sind die brutalen Ereignisse, die einer möglichen Befreiung oder einem zarten Neuanfang vorhergehen, so radikal inszeniert, dass sie zu tiefe Spuren im Zuschauer hinterlassen, als dass er sich am angedeuteten Happy End berauschen könnte.

»Bin-jip«, (Korea 2004). Regie: Kim Ki-duk. Start: 11. August