Engel vor dem Fall

Der Bürgerkrieg in der Türkei hat die meisten Jeziden nach Europa vertrieben. Doch so manche ihrer Probleme sind selbst geschaffen. von sabine küper-büsch, batman

Auf dem Weg von Batman in das jezidische Dorf Besir erzählt Mehmet Eren von den dunklen Jahren des Krieges zwischen dem türkischen Militär und der kurdischen PKK. Vor fünf Jahren wurde der jezidische Dorfvorsteher aus Besir von Unbekannten erschossen. In den Jahren des Ausnahmezustandes war das südostanatolische Batman eines der Zentren der Contraguerilla. Diese paramilitärischen geheimen Einheiten, die sich aus türkischen Nationalisten, Überläufern aus der PKK und der islamistischen Hizbollah zusammensetzten, ermordeten PKK-Sympathisanten, Funktionäre der prokurdischen Parteien, Gewerkschafter, Lehrer und Intellektuelle. Mehmet, der beim Menschenrechtsverein aktiv ist, erzählt, dass sie damals mit einem großen Konvoi zum Begräbnis des Dorfvorstehers nach Besir gefahren sind.

Obwohl die Sommer glühend heiß sind und die kurdischen Provinzen zu einen Großteil schrecklich verarmt, fallen uns auf dem Weg die grünen Felder und die stabilen Dorfhäuser auf. Mehmet brummt, die Dörfer seien reich, weil Geld aus Deutschland komme. Auf unser Interesse an den religiösen Minderheiten in der Region reagiert er leicht gereizt. Lieber möchte er vom kurdischen Befreiungskampf und der Unterdrückung der Kurden erzählen. Die Ermordung des Dorfvorstehers scheint das einzige zu sein, was er mit unserem Reiseziel, dem jezidischen Dorf, anfangen kann.

Bereits im Menschenrechtsverein von Batman, den wir zuvor besucht hatten, war eine Diskussion darüber entbrannt, wer die Jeziden überhaupt seien. Aus Gründen der politischen Korrektheit traute sich niemand, den geläufigen Begriff »Teufelsanbeter« zu benutzen, er schwebte jedoch im Raum und verbreitete eine ulkige, konspirative Atmosphäre, als führten wir geheime kultische Handlungen durch.

Mehmet Eren ist weit davon entfernt, ein frommer Muslim zu sein. Aber unsere Beschäftigung mit einer religiösen Minderheit widerspricht dem, was er für politisch relevant hält. Die Jeziden sind Kurden, das ist für ihn entscheidend, ihre religiöse Andersartigkeit aber macht ihn misstrauisch.

Diese Sicht hat historische Gründe. Die kurdische Gesellschaft war lange durch das Clandenken bestimmt, während der Islam das Bindeglied zur osmanischen Führung bildete. Beide Elemente beeinflussten und bedingten einander und führten in bestimmten historischen Situationen zu Diskriminierungen und Vertreibungen anderer Minderheiten. Im Ersten Weltkrieg war es nicht allein die osmanische Armee, die die Armenier aus Anatolien deportierte, auch viele kurdische Feudalherren beteiligten sich an den Vertreibungen, um ihre Treue zum Staat zu demonstrieren und sich an den verlassenen armenischen Gütern und Ländereien zu bereichern. In den neunziger Jahren standen die christlichen Süryani (Assyrer), Chaldäer und auch die Jeziden oft zwischen Staat und prokurdischem Nationalismus, dem sie wegen ihren Erfahrungen als ungeliebte religiöse Minderheit in der Regel nicht viel abgewinnen konnten. Fast 80 Prozent von ihnen verließ in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Türkei in Richtung Europa oder USA.

Auch in Besir sind von drei Vierteln der Häuser nur noch Steingerippe übrig geblieben. Einst lebten hier 60 Haushalte, heute sind es ganze vier.

Fast alle Bewohner haben sich versammelt, um uns vor dem Haus des Dorfvorstehers zu empfangen. Unser Besuch ist eine willkommene Abwechslung. Die Kinder sind begeistert, dass es nach dem Tee Coca-Cola gibt, die Ehefrau und die Tochter des Dorfvorstehers ziehen sich zurück, um für die Gäste zu kochen. Im Empfangszimmer des Gastgebers hängt ein Porträt des Staatsgründers Kemal Atatürk an der Wand, ansonsten nur Familienfotos, keine religiösen Symbole.

Der Dorfsvorsteher Osman Balat ist 72 Jahre alt. Seine fünf Söhne leben in Europa. Sie schicken Geld und kommen zumindest im Sommer mit ihren Familien. Sie haben zwei schöne stabile Dorfhäuser gebaut, die die meiste Zeit leer stehen. Wir lenken das Gespräch vorsichtig auf die Religion, denn in der Fachliteratur und in anderen Publikationen werden die Jeziden als höchst verschlossen und misstrauisch geschildert.

Die Vorsicht erweist sich als unnötig. Osman Balat freut sich über das Interesse und strahlt, als wir ihn nach dem »Engel Pfau«, melek tawusi, fragen, dem höchsten der von den Jeziden verehrten sieben himmlischen Erzengel, dessen Verehrung den Jeziden den Ruf als »Teufelsanbeter« einbrachte. Mehmet Eren streicht sich nachdenklich den Schnurrbart, als Osman Balat uns die Bedeutung des Pfauenengels bei den Jeziden zu erklären versucht. »Der Engel Pfau ist für alle Menschen da, auch für die nicht an ihn Glaubenden.«

Die Furche zwischen Mehmets Augenbrauen vertieft sich, als das geistliche Oberhaupt des Dorfes, Scheich Musa Cali, uns eine jezidische Legende erzählt. »Wisst Ihr, der Pfauenengel ist ein himmlisches Wesen. Er half Gott bei der Erschaffung der Welt. Weil er so schön war, entwickelte er Hochmut. Das ärgerte Gott, deshalb schickte er den Pfauenengel in die Hölle. Der weinte dort 7 000 Jahre lang, bis das Höllenfeuer verloschen war. Da verzieh ihm Gott und erhob ihn wieder. Seitdem gibt es keine Höllenfeuer und keine Verdammnis. Jeder Mensch kommt in den Himmel.«

Die im Empfangszimmer sitzenden Jeziden nicken ernst und feierlich. Mehmet Eren rutscht unbehaglich auf seinem Sitzkissen herum. Ungerührt erwähnen wir, dass einige der von den Jeziden verehrten Engel Parallelen zur islamischen Mythologie aufweisen und dass alle Buchreligionen den Engel Gabriel verehren. Fast dankbar greift er zu dem kulturanthropologischen Buch mit dem Titel »Die Jeziden und das Jezidentum«, das Osman Balat ihm reicht.

Scheich Mehmet erzählt uns betrübt, dass die Dorfgemeinschaft zerfallen sei. Es gebe nur noch Pir-Familien und den Scheich, alle Laien seien ausgewandert. Wir können das insgeheim verstehen, denn die jezidische Gesellschaft untergliedert sich in ein Kastensystem, das die Laien benachteiligt. Sie müssen dem Scheich Tribut zahlen und durften in der Vergangenheit oft nicht einmal lesen und schreiben lernen, um die geistige Führung der »Wissenden«, der Pir- und der Scheich-Familien, nicht zu gefährden. Traditionell sind Ehen zwischen Angehörigen verschiedener Kasten nicht erlaubt, geschweige denn Eheschließungen mit Nicht-Jeziden. »Das muss sich ändern«, sagt Scheich Musa, »unsere Religion ist zu streng, wir verlieren unsere Jugend, wenn wir uns nicht ändern.«

Tatsächlich muss sich das Jezidentum religionsgeschichtlich aus ständigen Wandlungen entwickelt haben, denn es gilt als »synkretische Religion«, die von den Buchreligionen, aber auch vom Zoroastrismus beeinflusst ist. Der schmähende Begriff als »Teufelsanbeter« geht auf die Mythologie vom Pfauenengel zurück, den Nicht-Jeziden oft vorschnell mit ihren eigenen Teufelsvorstellungen identifizieren, obwohl er verschiedene Elemente enthält, nicht zuletzt fernöstliche Vorstellungen einer dialektischen Einheit von Gut und Böse. Mehmet Erens Miene hellt sich bei der Lektüre des Buches auf. Zufrieden stellt er fest, dass das Jezidentum ja eine alte kurdische Religion sei.