Hamastan oder Fatahland?

Nach dem geplanten israelischen Abzug erscheint die Zukunft des Gaza-Streifens ungewisser denn je. von andré anchuelo

Wir werden von einem Sieg zum nächsten voranschreiten, bis wir den großen Sieg erringen, wenn nämlich eines unserer Kinder die palästinensische Fahne auf den Mauern der (Jerusalemer) Altstadt und auf seinen Minaretten und Kirchen hisst.« Die Worte, die Ahmed Qurei, der Premierminister der Palästinensischen Autonomiebehörde, am Donnerstag der vergangenen Woche vor 10 000 Anhängern der regierenden Fatahbewegung in Gaza-Stadt sprach, klangen seltsam vertraut. Tatsächlich stammen sie vom verstorbenen Yassir Arafat.

Auf der Kundgebung, in deren Mittelpunkt Qureis Rede stand, wurde der bevorstehende israelische Abzug aus dem Gaza-Streifen und der nördlichen Westbank gefeiert – und der 76. Geburtstag Arafats gleich mit. Dabei sprach Qurei nicht nur von der »Befreiung Jerusalems«. Einmal mehr bemühte er auch den Mythos des bewaffneten Kampfes zur Rückeroberung des ganzen »Heimatlandes«. So erinnerte er sich an den ersten Anschlag der Fatah überhaupt. Das war vor 40 Jahren, als der Gaza-Streifen und die Westbank noch gar nicht unter israelischer Kontrolle standen. »Der Prozess, der 1965 begann, geht jetzt, dank der starken Entschlossenheit und des Willens unseres Volkes, seinen Weg nach Jerusalem, zur Westbank und zum Rest unseres Heimatlandes.« Untermalt wurden die markigen Worte von Mitgliedern der al-Aqsa-Brigaden der Fatah, die mit Maschinengewehren in die Luft schossen.

Doch bevor es in den »Rest unseres Heimatlandes«, also ins international anerkannte israelische Staatsgebiet geht, dürfte die Führung der Autonomiebehörde damit beschäftigt sein, die volle Kontrolle über den Gaza-Streifen zu erlangen. So hat die Behörde mit der Massenkundgebung eine aufwändige PR-Kampagne gestartet, deren Kosten 1,7 Millionen Dollar betragen sollen. Bezeichnend ist der auf Tausenden von T-Shirts abgedruckte Slogan: »Unser Land ist zu uns zurückgekehrt – lasst es uns schützen!«

Der Hintergrund dieser Forderung ist der Machtkampf zwischen der Autonomiebehörde und der Fatah auf der einen und den islamistischen Organisationen Hamas und Jihad auf der anderen Seite. Dabei geht es vor allem um die politische Macht in Gaza, aber auch um die ökonomische Kontrolle der zu räumenden israelischen Siedlungen.

Die Autonomiebehörde stand dem israelischen Abkopplungsplan zunächst reserviert gegenüber. Sie befürchtete, dass es beim Abzug aus Gaza bleiben werde und zugleich israelische Siedlungen in der Westbank ausgebaut würden. Zumindest hätte sie es bevorzugt, dass der Rückzug als Ergebnis ihrer Verhandlungen erfolgt wäre. Ein solcher Erfolg entgeht ihr nun.

Die Islamisten hingegen sahen sofort die Chance, nach dem Vorbild der Hizbollah im Südlibanon durch eine Intensivierung ihrer Terroranschläge das Bild eines israelischen Rückzugs »unter Feuer« zu malen, um dann im Gaza-Streifen ein Hamastan mit islamistischem Tugendterror und fortgesetztem Krieg gegen Israel zu errichten.

Da die palästinensischen Organisationen »jedes Mal, wenn sie anfangen miteinander zu streiten, auf Juden schießen«, wie der israelische Kommentator Yoel Marcus treffend bemerkte, war klar, was kommen musste: Seit Anfang Juli vermehrten sich die Mörser- und Raketenangriffe von Hamas und Jihad auf israelische Ziele; innerhalb weniger Tage gab es über 100. Als am 12. Juli schließlich ein Selbstmordattentäter des Jihad sich in der israelischen Stadt Netanya in die Luft sprengte, erhöhte sich der Druck auf den Vorsitzenden der Autonomiebehörde, Mahmoud Abbas, endlich zu handeln. Vor allem die Angst vor einer größeren israelischen Militäraktion im Gaza-Streifen dürfte ihn bewogen haben, seine Appeasement-Politik gegenüber dem islamistischen Terror vorläufig zu unterbrechen.

Doch als zwei Tage später Mitglieder der Hamas, die neuerliche Raketenangriffe vorbereiteten, von Truppen der Behörde attackiert wurden, begannen im gesamten Gaza-Streifen bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen zwischen PA- und Fatah-Kräften und der Hamas. Denn an verschiedenen Orten schlugen die Hamas-Milizen kurzerhand zurück. Erst einige Tage und mehrere Tote später beruhigte sich die Lage nach ägyptischer Vermittlung wieder. Offenbar fürchteten beide Seiten eine weitere Eskalation und kehrten zum vorherigen Zustand zurück.

Der allerdings besteht aus einer bereits im März vereinbarten so genannten Abkühlung, die sporadische Terroranschläge der Islamisten keineswegs ausschließt, sondern deren Zahl und Ausmaß lediglich unterhalb eines gewissen Levels hält. Dafür will die Autonomiebehörde der Hamas politisch entgegenkommen. Über die Art des Entgegenkommens streiten sich beide Seiten bis heute. Während die Hamas ein gemeinsames Komitee zur Verwaltung des Gaza-Streifens vorschlägt, will Abbas die Konkurrenz in die Führung der Behörde einbinden und sie so unter Kontrolle bringen.

Den jüngsten Umfragen zufolge hat die Hamas ihre potenzielle Wählerschaft in den vergangenen fünf Jahren verdoppelt und liegt derzeit in den gesamten Palästinensergebieten bei 33 Prozent, während die Fatah auf 44 Prozent kommt. Im Gaza-Streifen jedoch ist die Zustimmung zur Hamas deutlich höher, bei den Kommunalwahlen im Frühjahr kam sie auf etwa 50 Prozent der Stimmen. Der Sieg, den sie sich bei den für Mitte Juli angesetzten Parlamentswahlen erhoffte, wurde durch die Verschiebung des Wahltermins auf Januar 2006 vorerst vereitelt.

Mittelfristig könnte die Strategie der Hamas auch international erfolgreich sein. Denn der von ihr begonnene Prozess, sich durch die Teilnahme an Wahlen und die Übernahme politischer Ämter in eine respektierte politische Partei umzuwandeln, trägt schon jetzt erste Früchte. So hat die Europäische Union bereits im Frühsommer begonnen, unterhalb der Botschafterebene ihre Kontakte zur Hamas zu erneuern, obwohl die gesamte Organisation, nicht bloß ihr so genannter militärischer Arm, seit Herbst 2003 in der EU offiziell als terroristisch gilt.

Selbst in den USA gibt es einflussreiche Stimmen, die mit der Teilnahme der Hamas an demokratischen Wahlen deren Status als Terrororganisation in Frage gestellt sehen und sie als legitime Verhandlungspartnerin betrachten möchten. Beispielsweise meint Mark Perry vom US-amerikanischen Think Tank »Allianz für Sicherheit«, die Hamas gehöre nunmehr zu den Bewegungen, die die »historische Wahl« getroffen haben, »ihre Gesellschaften auf Werten aufzubauen, die uns lieb sind – auf Gerechtigkeit und Frieden, auf Verantwortlichkeit und Transparenz«. Man darf gespannt sein, wie viele israelische Bürger für die Friedensliebe der Hamas noch ihr Leben lassen müssen.