Koalition der Unwilligen

Alle Versuche, den Rückzug aus Gaza zu stoppen, blieben erfolglos. Sharons Politik könnte jedoch zu einer Umgruppierung in der israelischen Rechten führen. von jörn schulz

Der Rückzug wird wie geplant beginnen«, sagte Asaf Sharif, der Sprecher des Ministerpräsidenten Ariel Sharon, am Montag. »Wir sind zur Routine zurückgekehrt.« Das Vorhaben der israelischen Regierung, die Siedlungen im Gaza-Streifen zu räumen, hat weiterhin die Zustimmung der Bevölkerungsmehrheit. Einer Umfrage der Tageszeitung Yedioth Achronoth zufolge unterstützen 55 Prozent die Pläne Sharons. Nach Angaben der Regierung haben sogar 60 Prozent der Siedlerfamilien einen Antrag auf Entschädigung gestellt, was einer Zustimmung zum Verlassen Gazas gleichkommt. Es hat aber auch nicht an Versuchen gemangelt, den Rückzug in letzter Minute zu verhindern.

Wer derzeit in Israel orangefarbene Kleidung trägt, muss damit rechnen, dass man ihn für einen Aktivisten der nationalreligiösen Siedlerlobby hält. Orange wurde zur Signalfarbe der Gegner des Rückzugs, die seit Monaten mit Demonstrationen und Straßenblockaden protestieren. Mehrfach versuchten sie, in den Siedlungsblock Gush Katif vorzudringen. Ihre Demonstrationen wurden von der Polizei gestoppt, die Siedleraktivisten haben jedoch Möglichkeiten gefunden, in den Gaza-Streifen vorzudringen.

Am Sonntag nahm die Polizei neun Aktivisten fest, die die illegale Einreise organisierten. Sie beschlagnahmten Personalausweise und von der Armee ausgestellte Passierscheine, die offenbar von Einwohnern Gush Katifs zur Verfügung gestellt wurden, sowie Dokumente mit dem Text: »Ich verspreche, niemandem zu sagen, wie ich nach Gush Katif gekommen bin, und ich verspreche, mindestens zwei Wochen zu bleiben.«

Nach Angaben der Siedlerlobby sind 4 000 Aktivisten zur Unterstützung jener eingereist, die sich der Räumung widersetzen wollen. Die Armee schätzt die Zahl auf höchstens 2 000. In jedem Fall werden die Protestierenden zahlenmäßig weit unterlegen sein. 45 000 Soldaten und Polizisten sollen eine möglichst friedliche Räumung gewährleisten.

Es gilt als unwahrscheinlich, dass sich die Räumungsunwilligen mit Steinwürfen oder gar Waffengewalt widersetzen. Sie dürften eher versuchen, den politischen Druck auf Sharon zu erhöhen, indem sie eine Situation provozieren, in der Soldaten weinende Kleinkinder ihren Müttern entreißen. Ausschließen kann die Militärführung aber keine Eventualität, und für Extremfälle stehen im Antiterrorkampf geschulte Spezialeinheiten zur Verfügung.

Größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der extremistische Flügel der Nationalreligiösen durch Anschläge auf arabische Israelis oder Palästineser Unruhen provoziert, um die Regierung zum Abbruch des Einsatzes in Gaza zu zwingen. Am Donnerstag der vergangenen Woche erschoss der 19jährige Eden Natan-Zada in einem Bus in Shfaram vier arabische Israelis, als er sein Magazin wechseln wollte, wurde er von einem wütenden Mob getötet. Natan-Zada war aus der Armee desertiert, trug bei der Tat jedoch seine Uniform. Der Attentäter war ein »wiedergeborener« Jude, der seine Religiösität erst kurz vor der Tat neu entdeckte. Im Internet fand er Kontakt zu extremistischen Nationalreligiösen, er hatte Verbindungen zu den militanten Organisationen Kach und Revava.

Die Regierung hat diesen Terroranschlag scharf verurteilt. Es fällt der Familie des Attentäters sogar schwer, einen Begräbnisort zu finden. Die Armee verweigert eine militärische Beisetzung, und keine Gemeinde möchte zum Wallfahrtsort für Extremisten werden. Gegen potenzielle jüdische Terroristen gehen die Behörden in einzelnen Fällen nun auch mit dem bisher fast ausschließlich gegen Palästinenser angewendeten Mittel der Administrativhaft vor; am Sonntag verfügte Verteidigungsminister Shaul Mofaz die Inhaftierung von drei Aktivisten der Kach-Bewegung.

Die eindeutige Reaktion der Regierung hat wohl dazu beigetragen, dass ein Aufstand der arabischen Israelis ausblieb. Die Verbitterung ist jedoch weit verbreitet. Ein Sprecher des Repräsentativkomitees der arabischen Israelis forderte »eine gründliche Untersuchung, Maßnahmen zur Neutralisierung des extremistischen Milieus und eine Untersuchung des antiarabischen Rassismus«.

Der Anschlag könnte den Druck auf Sharon sogar mindern. Kurz zuvor sagte Bentzi Liebermann, der Vorsitzende der Siedlerorganisation Yesha Council, ein Attentat könne es Sharon ermöglichen, den Abzug aus Gaza »ohne wirklichen Einspruch und mit weit größerer öffentlicher Unterstützung« durchzuführen. Die Mehrheit der Siedlerlobby hofft noch immer, Sharon mit politischen Mitteln stoppen zu können.

Ihr Ansatzpunkt ist die Spaltung der israelischen Rechten, die Sharons Rückzugsplan verursacht hat. Die Mehrheit seiner Likud-Partei stellte sich bei einer Abstimmung gegen ihn, und am Sonntag trat Finanzminister Benyamin Netanyahu, der Sprecher der Gegner Sharons im Likud, zurück. »Ich bin nicht bereit, Partner bei einem Schritt zu sein, der die Realität ignoriert und Gaza zu einer Basis für einen islamischen Terrorismus macht, der den Staat bedrohen wird«, schrieb er in seiner Rücktrittserklärung.

Auch unter israelischen Rechten, die seine Ansichten teilen, ist Netanyahu jedoch nicht allzu beliebt. Er gilt als eloquenter Vertreter israelischer Interessen im Ausland, aber auch als Protagonist eines »amerikanischen«, auf Showeffekte abzielenden Politikstils und als Opportunist. »Wenn er einen Wandel bewirken wollte, hätte er vor langer Zeit zurücktreten müssen«, meinte Israel Harel, einer der Gründer der Siedlerbewegung.

Den Abzug aus Gaza dürfte Netanyahus Rücktritt nicht mehr aufhalten, er könnte jedoch eine Umgruppierung in der israelischen Rechten einleiten. Netanyahu wolle nicht eine Politik stoppen, die er für gefährlich halte, vielmehr versuche er, »sie zu erschweren und der Verantwortung für ihre Durchführung zu entkommen«, urteilt die linksliberale Tageszeitung Ha’aretz. Mit seinem Rücktritt empfehle er sich für die Führung der extremen Rechten, des »nationalistischen und nationalistisch-religiösen Lagers«.

Dort aber herrscht kein Mangel an wortgewaltigen Politikern wie Avigdor Liebermann und Effi Eitam, die über die plötzliche Konkurrenz nicht erfreut sein dürften. Möglicherweise wird es zu einer schärferen Trennung zwischen den konservativen Sicherheitspolitikern um Sharon und den nationalreligiösen Ideologen kommen, die die Likud-Partei endgültig spaltet.

Die Nationalreligiösen, für die der Anspruch auf die Westbank und Gaza ein religiöses Dogma ist, sind eine Minderheit in der israelischen Gesellschaft. Allein der palästinensische Terrorismus verschaffte ihrer Ansicht, dass eine militärische Kontrolle der Westbank und Gazas notwendig sei, breite Unterstützung. Nicht zu Unrecht fürchten sie nun, dass auch die Siedlungen in der Westbank zur Disposition stehen, wenn die Sicherheit Israels ohne die Präsenz der Armee und der Siedler in Gaza gewährleistet werden kann.