Die sollen nur spielen

»We take your fun seriously!« wirbt das Hotel »Circus Circus«. Zehn Tage im billigsten Haus von Las Vegas stellen den Humor auf eine harte Probe. von knud kohr (text) und thomas linkel (fotos)

Look!« Der dicke Mann in der Reihe vor mir schnauft aufgeregt und semmelt seiner Frau den Ellbogen in die Seite. Sie drückt sich aus dem engen Sitz und schaut an der Schulter des Mannes vorbei aus dem Fenster.

In meinen Ohren beginnt es zu drücken. Kein Zweifel: US Airways Flug 99 von Philadelphia nach Las Vegas beginnt die Landemanöver. Auch meine Freundin zerrt mich aufgeregt ans Fenster. Seit einer Stunde sind wir nur über eine langsam in der Nacht verschwindende Wüste geflogen. Jetzt erscheint schräg unter uns etwas, das wie ein gewaltiger Computerchip aussieht. Oder wie ein Schaltkreis, den ein Riese im Sand installiert hat. Die Frau vor uns zeigt auf eine Linie, an der die Dioden des Schaltkreises durchzudrehen scheinen. Rot, gelb, grün, pink und vor allem grell leuchten sie ohne erkennbares System zu uns herauf. »The Strip!« murmelt sie fast andächtig. Der Las Vegas Boulevard.

Meine Freundin strahlt mich aufgeregt an. Ich strahle zurück. Doch dann rumpeln wir durch ein Luftloch. Teile der mit Keksen und einem von Mayonnaise triefenden Sandwich gefüllten Snackbox, die ich für teures Geld auf diesem Billigflug gekauft habe, springen aus meinem Magen ein Stückchen nach oben. Tapfer lächle ich weiter. Zehn Minuten später landen wir auf dem McCarran International Airport.

»Las Vegas« ist spanisch für »die Auen«. Ein scheinbarer Euphemismus mitten in der Wüste von Nevada. Doch da es hier schon immer ein kleineres Wasservorkommen gab, versuchte man dieses Gebiet bereits weit vor der offiziellen Stadtgründung von 1905 zu besiedeln, die dieses Jahr so lautstark gefeiert wird. 1855 errichteten Mormonen ein Fort, von dem aus sie die Paiute-Indianer missionieren wollten. Der Ort, der bei Gründung gerade mal 30 Einwohner hatte, gewann rasch an Bedeutung: 60 Kilometer entfernt wurde der Hoover-Damm gebaut. Las Vegas erlaubte das Glücksspiel, sah über das Verbot der Prostitution hinweg und wurde schnell zum Touristenort.

Gleich nach dem Zweiten Weltkrieg begann die Zeit des Las Vegas Strip, der Hotelcasinos mit ihren großen Shows. 1946 eröffnete Benjamin »Bugsy« Siegel das »Flamingo«. Sein Star: Frank Sinatra. Sechs Wochen später war er pleite, kurz darauf wurde er von einem Auftragskiller erschossen. Auf dem Strip aber wuchs ein Hotel nach dem anderen. 1967 auch das »Circus Circus«, in dem wir die nächsten zehn Tage wohnen werden. Als zwei von geschätzten 35 Millionen Besuchern in diesem Jubiläumsjahr der Stadt. Meine Freundin hat einen Auftrag zu erledigen. Ich bin der Begleiter, der mal schauen will, welche Geschichte ihm vor die Füße fällt. Mir stehen zehn harte Tage bevor.

Auf den ersten Blick hat das Circus Circus mehr vom Märkischen Viertel als von Las Vegas. Weißgraue Türme, bis zu 35 Stockwerke hoch, zusammengehalten durch ein flacheres Gebäude in derselben Farbe. Es sieht wesentlich schäbiger aus als die berühmten Häuser weiter unten am Las Vegas Boulevard, die wir auf dem Weg von fern betrachten konnten: das MGM Grand. Das Cesar’s Palace. Das Wynn. Zugegeben: Im Märkischen Viertel steht der Name des Hauses nicht in roten Leuchtbuchstaben an der Fassade. Und es gibt weder einen vorgelagerten Turm mit rosa Kuppel noch eine Magnetbahn, die an der Breitseite dieses Ensembles entlangfährt.

Der Shuttlebus vom Flughafen bringt uns zwischen den Parkhäusern hindurch zum Hintereingang, wo sich die Rezeption befindet. Die Frontseiten der Hotels am Strip sind traditionell für die Casinos reserviert. Auf den wenigen Metern vom Bus zum Eingang erwischt uns die Hitze wie ein Haartrockner. 38 Grad Celsius lange nach Einbruch der Dunkelheit. Die Gebäude selbst sind ausnahmslos auf 17 Grad heruntergekühlt – Las Vegas ist für den Kreislauf eine echte Herausforderung.

Wir ziehen unsere Koffer durch die Schiebetüren der Lobby – und schauen auf zirka 300 Hintern. Der Andrang vor den Check-In-Schaltern ähnelt dem bei einem Charterflug am ersten Ferientag. Das Circus Circus verfügt über 3 700 Betten, und da der durchschnittliche Besucher von Las Vegas lediglich drei bis vier Nächte in der Stadt bleibt, ist die Fluktuation entsprechend. Selbst an einem Sonntagabend um 22 Uhr. Im Hintergrund ist ein leises Klingeln zu hören. Noch wissen wir nicht, dass es die Slotmachines in den Casinos sind. Doch dieses Geräusch wird uns in den nächsten zehn Tagen verfolgen, wann immer wir unser Zimmer verlassen.

Es dauert eine halbe Stunde, bis wir die Rezeption erreichen. Zeit genug, die anderen Gäste zu betrachten. Das Hotel wirbt mit dem Slogan »Best Deal on the Strip«. Weil die Gäste so viel Geld wie möglich zum Spielen haben sollen, gibt es Zimmer mit zwei Doppelbetten unter der Woche schon für 50 Dollar. Alleinreisende sind in den Warteschlangen nicht zu entdecken; selbst ein Paar wie meine Freundin und ich scheint die Ausnahme zu sein – ungefähr 280 der 300 Hintern gehören zu Mitgliedern von Kleinfamilien. Schreiend bunte T-Shirts und Leggings dominieren den Raum. Zwei von drei Menschen haben Übergewicht, einige mit besonders massiven Wampen fahren auf kleinen Elektrowagen durch das Hotel. Anscheinend zieht das Circus Circus vorwiegend Unterschichts-Amerikaner an, die sich bei Walmart einkleiden und bei McDonald’s ernähren. In den Ecken zappeln hyperaktive Kinder auf dem Teppich herum. Ein Achtjähriger von sicherlich 70 Kilo Körpergewicht grabscht mit der linken Hand unaufhörlich in eine Tüte mit Marshmellows, während er mit der Rechten seine kleine Schwester im Schwitzkasten hält.

Im Zimmer schmeißen wir uns auf die Betten. Obwohl wir im 14. Stock wohnen, haben wir kaum Aussicht auf die Stadt; vor dem Fenster türmt sich die rosa Kuppel. Als wir den Fernseher einschalten, beginnt ein seltsames Schauspiel: Auf Programmplatz eins läuft das abgewetzte Video des fiktiven Haussenders CTV (»Circus TV«). Ein Mann mit Clownsmaske – laut Einblendung Biff Skizzy, Anchorman des Senders – führt durch ein 20minütiges Werbeprogramm für das Hotel. Ab und an wird der Wahlspruch des Hauses eingeblendet: »We take your fun seriously!« Nach wenigen Sekunden Pause beginnt das Video erneut, in Endlosschleife.

Trotz dieser Einschränkungen ist das Zimmer gar nicht schlecht. 30 Quadratmeter groß, mit gut ausgestattetem Badezimmer. Doch auf den zweiten Blick merken wir: Es gibt keinen Kühlschrank, keine Minibar, und im Fernsehen stehen weder Nachrichten- noch Musiksender zur Auswahl. Auch hier gilt: Die Gäste sollen es sich nicht auf ihren Zimmern bequem machen. Sie sollen spielen. Doch für heute machen wir nur noch das Licht aus.

Am nächsten Morgen wache ich viel zu früh auf. Viertel vor sieben. Ich beschließe, meine Freundin mit einem Frühstück zu überraschen und schleiche aus dem Zimmer.

Im Erdgeschoss ist das Klingeln schon an der Fahrstuhltür zu hören. Diesmal gehe ich ihm entgegen. Gleich hinter der Rezeption beginnt das erste Casino: Mehrere hundert Slotmachines drängen sich aneinander. An wenigen von ihnen sitzen schon Spieler. Aus Pappbechern voller Vierteldollars füttern sie mechanisch die Automaten. Einige von ihnen sehen übernächtigt aus, einige noch nicht richtig wach. Nur lächeln tut keiner der Spieler. Warum auch? Jeder Quarter kann den Jackpot bringen, kann auf einen Schlag das ganze Leben ändern. Da bleibt keine Zeit zu grinsen. Unterhaltungen sind bei diesem Geräuschpegel ohnehin kaum möglich. Ab und zu ertönt ein einzelner Schrei, gefolgt von metallischem Klackern – eine der Maschinen hat den Gewinnauswurf freigegeben.

Hinter dem Casino folgt eine Reihe von Black-Jack-Tischen. Dahinter ein weiteres Casino. Wachmänner in blauen Uniformen, die frappierend an die der Polizei von Entenhausen erinnern, patroullieren durch die Gänge oder schützen Angestellte, die die Geldfächer der Maschinen leeren. Erst dann, nach einem Fußmarsch von mindestens fünf Minuten, erreiche ich den Vorderausgang des Circus Circus. Doch draußen wartet nur die asphaltierte Auffahrt, die um diese Zeit bereits auf 40 Grad aufgeheizt ist. Da ich weder Mütze noch Sonnencreme dabei habe, drehe ich um.

Parallel zu den Casinos verläuft eine Art Einkaufspassage, die schon gut besucht ist. Souvenirläden, Ticketcounter, ein noch geschlossenes Steakhouse. Ein Uhrengeschäft, in dessen Schaufenster keine einzige Uhr die korrekte Zeit anzeigt. Öffentliche Uhren an den Wänden gibt es erst recht nicht – unter dem Kunstlicht der Casinos ist die Zeit ausgeschaltet. In einem Laden für Zeitungen und Lebensmittel stehen mehrere Schwarze vor den Regalen. Alle tragen weiße T-Shirts mit der Aufschrift »Robinson Familiy-Reunion 2005«. Alle schauen irritiert auf die Preise. Der billigste Liter Wasser kostet hier 1,29 Dollar. Im Supermarkt bekommt man eine Gallone, also knapp vier Liter, für 1,59. Pflaumen wechseln pro Stück für einen Dollar den Besitzer. Plötzlich wird mir schwindelig. Meine Brust krampft sich unter unbestimmten Angstgefühlen zusammen. Ich lasse mich auf eine Bank fallen. Atme tief durch und fange mich wieder. Dieses Gefühl ist mir nicht unbekannt. Kulturschock. Das hatte ich schon häufiger auf Reisen. Aber noch nie in einem Hotel. Mit zwei überteuerten Joghurts kehre ich auf das Zimmer zurück.

In der Tat wird die Ernährung zum größten Problem unseres Aufenthalts. Für preisbewusste Gäste ist den ganzen Tag das Buffet geöffnet. Neun Dollar fürs Frühstück, zehn fürs Mittagessen, elf fürs Abendbrot. Um hinein zu kommen, muss man ein umständliches Procedere über sich ergehen lassen. Vor dem Eingang drängen sich den ganzen Tag Dutzende, in Stoßzeiten Hunderte von Gästen. Etwa zehn Meter vor der Kasse ist ein Schild angeschraubt: »Ab hier 15 Minuten Wartezeit«, verkündet es in mehreren Sprachen. Hat man dann endlich bezahlt, sieht man endlich das Restaurant, das an den Speisesaal einer monströsen Jugendherberge erinnert, geht es in die nächste Schlange. Eine strenge Wächterin mit Walkie Talkie teilt die Hungrigen in kleine Grüppchen. »Next five are comin’«, bellt sie in das Funkgerät. Die Gruppe bekommt die Anweisung: »Follow the red flag!«. Tatsächlich: Etwa 20 Meter und drei Ecken entfernt wedelt eine Angestellte mit einer roten, in anderen Fällen grünen oder gelben Flagge, um einen endlich an den Tisch zu bringen.

Alternativ verfügt das Hotel über sechs Restaurants. Am dritten Tag kann meine Freundin den Wunsch nach Spaghetti nicht mehr unterdrücken: Wir gehen ins »Stivali«, den hauseigenen Italiener. Auch hier gibt es Wartenummern, und statt Rotwein werden Pappbecher für Softdrinks ausgegeben. Die Kleinsten fassen 0,4 Liter. Das Essen kommt auf schwarzen Plastiktellern mit durchsichtiger Abdeckung. Das Besteck besteht aus silbern gefärbtem Plastik.

Die Nudeln auf dem Teller meiner Freundin schwimmen in einer Wasserlache. Den Fotografen, der inzwischen als Unterstützung in Las Vegas angekommen ist, trifft es noch härter: Er bestellte Bolognese – auf seinen Nudeln liegt eine Frikadelle. Später am Tag finden wir einen Ort, der am ehesten den europäischen Vorstellungen eines Cafés entspricht. Immerhin sitzt man auf geflochtenen Stühlen an einer Art Plaza. Gut, die Plaza befindet sich im zweiten Stock, und gegenüber kann man in einer Art Aufnahmestudio einen Videofilm von sich selbst auf einem fliegenden Teppich machen lassen – aber immerhin.

Die nächsten Tage werden einsam für mich. Freundin und Fotograf kreuzen im gemieteten Cadillac durch die Stadt, um ihre Arbeit zu tun. Ich versuche, mir die Zeit auf eigene Faust zu vertreiben. Mehrfach entschließe ich mich, die Stadt per Bus zu erkunden. Zumindest den Strip auf und ab zu spazieren. Doch allein und bei diesen brüllenden Temperaturen? Meistens bin ich nach zwei Stunden schon wieder zurück. Es ist, als würde mich ein unsichtbares Gummiband zum Hotel zurückziehen.

Also schaue ich, was das Circus Circus mir an Unterhaltung zu bieten hat. Die rosa Kuppel vor unserem Zimmer ist der »Adventuredome«. Eine Art Europapark Brühl mit Dach. Für 14 Dollar könnte ich eine Tageskarte kaufen und mit massenhaft Kindern Indoor-Achterbahn fahren. Oder mich eine Wasserrutsche hinunter stürzen. In einem anderen Teil des Hotels gibt es Wurf- und Schießbuden aller Art, dazwischen bieten mäßig motivierte Artisten ihre Künste dar. Tag und Nacht rennen Kinder herum. Die meisten schleifen Plastiktüten voller Stofftiere hinter sich her, die sie an den Buden gewonnen haben. Nicht selten sind die Tüten größer als die Träger.

Am zweiten einsamen Tag sitze ich auf der Plaza und lese. Die Leute gehen vorsichtig an mir vorbei. »Xcuse me«, raunt mir mancher zu, obwohl er mich gar nicht berührt hat. Ein Wachmann beginnt mich misstrauisch zu beäugen.

»Restrooms?« Ich zucke zusammen. »Restrooms?« wiederholt ein alter Mann seine Frage an mich. Irritiert weise ich ihm mit dem Finger den Weg. Mir fällt auf, dass ich in den letzten acht Tagen außer mit Freundin und Fotograf mit niemandem ein Wort gewechselt habe. Abends zeige ich Anzeichen einer depressiven Verstimmung. Am nächsten Morgen begleite ich die beiden bei der Arbeit. Lieber den ganzen Tag auf dem Rücksitz als einen weiteren Tag allein im Hotel.

An unserem letzten Tag in der Stadt bemerken wir, dass wir noch keines der anderen Casinos auf dem Strip von innen gesehen haben. In knittrigen Jeans und T-Shirts schlurfen wir ins Bellagio. Und zucken gleich in der Lobby zusammen. Gut gekleidete, schlanke Menschen flanieren an hübschen Cafés und kleinen Restaurants vorbei, aus denen es angenehm duftet. Wann habe ich mich eigentlich zum letzten Mal rasiert? Beschämt schaue ich an meiner Kleidung herab. Vor mir auf dem Boden liegen drei einzelne Dollarnoten, die ich aufhebe.

So unauffällig wie möglich schleichen wir uns auf den Innenhof. Vor uns schießen Fontänen ihr Wasser mindestens 30 Meter hoch. Dem Fotografen fällt zuerst auf: Dieses Schauspiel kennt er schon, aus der Schlussszene des Films »Ocean’s eleven«. Stimmt! Wir gucken eine Weile zu und bemühen uns, trotz unserer Kleidung wie Brad Pitt, Julia Roberts und George Clooney auszusehen. Dann wedle ich mit den drei Dollarnoten. »Die werden jetzt verzockt!« Die beiden anderen nicken. »Und danach fahren wir noch in unserem Cadillac den Strip auf und ab!« lächelt Julia Roberts mich an. Eigentlich kann es ganz nett sein in Las Vegas. Man darf nur nicht im Circus Circus wohnen.