Nie mehr zweite Liga

Als Fußballfan hat man ein Anrecht auf ein Feindbild. Dumm nur, wenn es einem abhanden kommt. von christian helms

Man kann sich seinen Verein leider nicht aussuchen. In dieser Hinsicht verhält es sich ähnlich wie mit dem Vornamen – eines Tages nimmt man ihn wahr und behält ihn dann ein Leben lang. Mein Club ist der Hamburger SV. Seit jenem Spätsommernachmittag in den achtziger Jahren, als mein Großvater seinen Sohn, seinen Schwiegersohn und seine Enkel in den großen hellgrünen Mercedes lud und die ganze Sippschaft ins Volksparkstadion entführte. Eine Männergruppe, wie sie vorzüglicher auch in die aktuelle Holsten-Kampagne nicht passen würde. (»Auf die Familien!«)

Ich war gerade alt genug, um das Spiel einigermaßen zu verstehen – was zugegebenermaßen auch nicht allzu schwer ist –, die bedeutungsvollen Blicke der Verwandtschaft auf mich wirken zu lassen und zu wissen, dass Fußball offenbar etwas ganz Besonderes ist, wenn die Mannschaft mit den roten Hosen beteiligt ist. Fanwerdung durch Vererbung. Die letzten Happel-Jahre nahm ich also zumindest auf dem Papier noch mit, wenn auch als Kind noch stark darauf angewiesen, dass von Zeit zu Zeit der sehnsüchtig erwartete Shuttle-Benz vorfuhr, den der Opa dem Anlass entsprechend stets mit einer Fahne dekoriert hatte.

Mein Großvater lebt schon lange nicht mehr – und was seinen Verein angeht, ist ihm eine Menge erspart geblieben. Der rasante Weg von einem der stärksten Teams des Kontinents zu einer wenn schon nicht grauen, dann wenigstens recht blassen Maus mit Bundesliga-Abo. 15 Jahre absolute Tristesse, das Dilemma der Nachgeborenen.

»Aber im nächsten Jahr greifen wir richtig an«, so das langjährige Leitmotiv des Clubs, während im Zweiwochenrhythmus unerschrockene Optimisten ins kalte Volksparkstadion pilgerten, sich wärmende Geschichten aus besseren Tagen erzählten, um sich vom Geschehen auf dem Rasen abzulenken, und die Tatsache verfluchten, dass man sich seinen Verein eben nicht aussuchen kann.

In jener Zeit, in der also nach oben und – glücklicherweise – nach unten in der Tabelle recht wenig ging, standen mehr und mehr Mitschüler mit schwarzen Kapuzenpullis, auf denen ein weißer Totenkopf prangte, auf dem Pausenhof. Ein Emblem, das ja schon ein wenig cooler – und darauf achtet ein pubertierender Teenager natürlich besonders – daher kommt als die schlichte HSV-Raute. Das Fandasein hatte plötzlich wieder einen Sinn, das stetige Kräftemessen mit dem kleinen Lokalrivalen brachte endlich wieder Spannung in den Liga-Alltag, und eigentlich war man nur noch richtig zufrieden mit dem Wochenende, wenn der eigene Club das Feld ebenso als Sieger verließ wie der jeweilige Gegner der Braun-Weißen.

Klar, am Millerntor spielte man die bessere Musik und nahm sich außerdem die damals noch sehr seltene Freiheit, politisch zu sein. Als im Volkspark noch dunkelhäutige Spieler wie Souleyman Sané oder aber Oliver Kahn mit Bananen und Urwaldlauten empfangen wurden, sprach man sich beim Nachbarn deutlich gegen solcherlei rassistische Äußerungen aus.

Aber es war eben nicht mein Verein, und so musste der sportliche »Erfolg« herhalten, um das zu rechtfertigen. Zweimal pro Saison gab es das direkte Duell, das bestimmen sollte, wer im Freundeskreis im folgenden Halbjahr welchen Ton anzuschlagen hatte, und ich erinnere mich kaum an andere Spiele, bei denen wir uns nach Toren unserer Mannschaft derart euphorisch um den Hals fielen.

Der letzte Sieg des FC St. Pauli, über den ich mich richtig geärgert habe, war das berühmte 2:1 über den FC Bayern München – das »Weltpokalsiegerbesieger«-Logo, tausendfach auf T-Shirts gepresst, dürfte auch außerhalb des Hamburger Stadtgebietes hinlänglich bekannt sein. Dreieinhalb Jahre ist dieser vorletzte Bundesligasieg der so genannten Kiez-Kicker gerade erst her. Es folgte ein beeindruckender Absturz in die Regionalliga, der um Haaresbreite sogar wegen der angespannten Finanzlage des Clubs in einer noch niedereren Spielklasse geendet hätte. Spätestens seit der Verein damals auf große Betteltour ging und die letzten »Retter«-Hemden zur Lizenzsicherung in McDonald’s-Filialen oder Drogeriemärkten verramscht wurden, verscherbelte man am Heiligengeistfeld aber auch seinen Ruf als der »etwas andere Verein«. Image-Schlussverkauf gewissermaßen.

Wer heute im Millerntor-Stadion steht, spürt vom einstigen »Mythos St. Pauli« leider nur noch sehr wenig, vielmehr umweht ihn dort ein reichlich provinzieller Regionalliga-Mief. Was nicht nur daran liegt, dass die Gegner aus Erfurt oder Emden kommen. Lauwarme Reste der in den Erstligajahren mit reichlich Möchtegern-Linken verwässerten braun-weißen Fan-Suppe, von denen sich viele noch immer für etwas Besseres halten. Wo ich früher manchmal ein wenig neidisch guckte – natürlich hätte ich das nie zugegeben –, ist heute fast ein bisschen Mitleid vorhanden.

Es ist ein wenig wie in den Agentenfilmen des letzten Jahrzehnts, die mit dem Wegfall des Ostblocks ebenfalls enorm an Kraft verloren haben. Die Welt war zuvor so wunderbar einfach in Gut und Böse aufgeteilt, heute muss man sich seine Rivalen mühsam zusammensuchen. Mir jedenfalls fehlt der damalige FC St. Pauli, nicht als sportlicher Gegner, sondern vielmehr als Gegenentwurf zum HSV, der das Vermarktungsspiel ja mittlerweile auch hervorragend beherrscht. Die neue Arena, die ein wenig wie ein riesiger Kuchenblock daherkommt, führt den Verein trotz insgesamt wenig beeindruckender Leistungen von Dauerkartenrekord zu Dauerkartenrekord.

Ein Stadion aus Plastik, abwaschbar wie die Toiletten an einem Autobahnparkplatz, in das wie ehedem, so scheint es manchmal, vor allem Großväter aus der Vorstadt ihre Familien kutschieren, um das Gesamtpaket mit Trikot, Maskottchen und Halbzeitthüringer zu beklatschen.

Vielleicht sind diese Veränderungen ja auch der Grund dafür, dass man beim Hamburger Regionalliga-Derby zwischen dem FC St. Pauli und der zweiten Mannschaft des Hamburger SV übermäßig viele Endzwanziger stehen sieht, die das Spiel mit leicht nostalgischen Schmährufen begleiten, und sich daran erinnern, wie man sich noch vor zehn Jahren leidenschaftlich beschimpft hat. Heute aber erfahren sie im Normalfall eher beiläufig aus ihrer Tageszeitung, wie sich der Antipode geschlagen hat. Der FC St. Pauli ist mit drei Siegen in diese Spielzeit gestartet, und eigentlich ist es mir völlig egal, ob er nun wieder aufsteigt oder nicht, wie wohl auch kein St. Pauli-Anhänger sich darum scheren dürfte, ob der HSV in der kommenden Woche in Valencia das Hintertür-Ticket in den UEFA-Cup bucht. Oder eben dann »im nächsten Jahr richtig angreift«.

Völlig entkoppelt existieren die Vereine nebeneinander her. James Bond und Dr. No haben sich auseinander gelebt, spielen nicht einmal mehr im gleichen Film mit – und haben dadurch leider extrem an Faszination eingebüßt. Wenn ich mich in Hamburg momentan für einen der beiden »großen« Clubs entscheiden müsste, wüsste ich wirklich nicht, wie ich wählen würde. Aber zum Glück kann man sich seinen Verein ja nicht aussuchen.