Scheiß auf Punk

Wo beginnt Punk, wo endet er? Was von New Wave hat überlebt, was hat sich überlebt? Zwei neue Bücher und diverse Platten fahnden immer noch. von andreas hartmann

The Gang Of Four sind wieder da. Anfang September erscheint mit »Return The Gift« gleich eine Doppel-CD dieser klassischen Post Punk-Band, von der derzeit so oft die Rede ist, wie seit 25 Jahren nicht mehr. Letzte Woche noch drehte sich alles um Funk Punk, weil alle Welt von Bands wie !!! und LCD Soundsystem redete und man als Keimzelle dieses Gebräus aus Disco, Punk, Funk und Kuhglockengebimmel Bands wie A Certain Ratio, Liquid Liquid und ESG neu auskundschaftete. Doch in den nächsten Wochen soll endlich The Gang Of Four gebührend gewürdigt werden. Damit der Bloc Party- und Kaiser Chiefs-Fan von heute endlich eingebläut bekommt: Hier kommt alles her, von dieser Band beinharter Marxisten, die ihre Slogans nicht mehr stumpf herausbrüllten, sondern so funky verpackten wie keine Punk- und Post Punk-Band vor ihr.

Die Comeback-Platte selbst ist eher nichts, eine seltsam unentschlossene Angelegenheit ist sie geworden. Auf der einen CD wurden Stücke von damals neu eingespielt, was ein wenig an die sinnlose Neuverfilmung von Hitchcocks »Psycho« erinnert. Auf der zweiten CD erweisen die Yeah Yeah Yeahs, The Rakes und andere mit Remixen Ehre, wem Ehre gebührt. Sie tun das, weil ihnen oder der Plattenfirma anscheinend nichts besseres eingefallen ist. Es soll hier eben der Link zwischen damals und heute hergestellt und demonstriert werden, wie der Post Punk im Rock von heute fortlebt. Dabei hätte es auch genügt, nochmals nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass Andy Gill von The Gang Of Four inzwischen jede zweite dieser neuen jungen Bands produziert, womit diese automatisch ein wenig The Gang Of Four in die DNA gepflanzt bekommen. Die große englische Band lebt auch ohne dieses Comeback-Irgendwas fort.

Im englischen Rockopa-Magazin Mojo wurde vor kurzem die Annahme geäußert, gar die ganze Welt stünde inzwischen ein wenig im Zeichen von The Gang Of Four, und in The Indepenedence On Sunday wurde sogar geketzert, dass es ja schön sei, dass es Punk gab, weil dieser erst The Gang Of Four ermöglicht hatte, dass diese Band dann aber »bei weitem interessanter war als Punk selbst«.

Verwirrung. Tiefes Luftholen. Aber ist The Gang Of Four nicht auch … Punk? Und die Pistols? Und Crass? Sind nicht das die Besten? Und ist nicht sowieso alles Punk, was nicht Disco war? Doch, schon. Aber, und darum geht es dem Musikjournalisten Simon Reynolds in »Rip It Up And Start Again«, seinem neuen, bislang nur auf Englisch erschienenen Buch über Post Punk in den Jahren 1978 bis 1984 ja gerade: The Gang Of Four waren eben nicht Punk, sondern Post Punk. Und Disco-Fans. Ist das denn nicht alles bloße Erbsenzählerei? Wortklauberei? Mitnichten. Denn Punk ist Punk, die Ramones, die Sex Pistols, The Clash. Das danach, das ist was anderes. Darauf besteht auch der ebenfalls eben erschienene Coffeetable-Wälzer »Punk.«, der von Stephen Colegrave & Chris Sullivan herausgegeben wurde und dem der Punkt nach »Punk« nicht ohne Grund beigefügt wurde: Punk. Punkt. Schluss, aus vorbei, danach kommt nur noch der Tod.

Der »Punk.«-Ziegelstein ist ein opulenter Bildband mit wunderschönen Fotos und schlecht übersetzten Texten, in denen Leute von damals erzählen, die Legs McNeil für seine Oral History des Punk, das Buch »Please Kill Me«, zu langweilig waren und der mit seinem Kunstbandformat grotesk unpunkig wirkt. Hier schlagen die Herausgeber des Buchs vor, dass Punk ja 1976 schon wieder mehr oder weniger vorbei gewesen sei, also noch vor »Never Mind The Bollocks«. Gnädigerweise endet das Buch dann aber doch erst im Jahr 1979, nicht ohne am Ende nochmals rumzujammern, wie schlimm nach 1976 alles geworden sei: »Punk wurde nun die Zuflucht der Uninformierten. Es war eine Schande.« Auch die Post Punk-Bands bekommen ihr Fett weg: »Im Vergleich mit 1976 beeindruckte die Vielfalt und Zahl der Bands, doch nur wenige kannten oder verstanden die originale Ethik des Punk.«

Die originale Ethik des Punk – puh! Genau diese verstanden die Bands nach 1976 sehr wohl. Die lautet nämlich nicht: Spiel’ dein Leben lang Rock’n’Roll etwas schlechter als Eddie Cochran und frisier dir morgens die Haare mit Bier. Sondern: Mach was Eigenes, Neues, Selbstbestimmtes, Unerwartetes. Gegen genau diese dämlichen Authentizitätsmythen und gegen das hehre Punkethos, der in »Punk.« nochmals klischeehaft ausgebreitet wird, schreibt Simon Reynolds in seinem Buch an. Er sagt: Stimmt, Punk war bald tot – und es war herrlich. Denn nun ging der große Spaß ja erst los, der echte Wahnsinn, erst jetzt wurde die Musik wirklich aufregend, erst jetzt schlugen beinahe wöchentlich dauernd neue und unglaublich neuartig klingende Bands wie This Heat, The Pop Group, Joy Division oder Cabaret Voltaire ein.

Reynolds ist ein begnadeter Mythenzertrümmerer und ein penibler Rechercheur, der seine Geschichtchen und Anekdoten auch noch einigermaßen spannend aufzuschreiben weiß. Er ist genau der Richtige für diesen Job. Er ist aufgewachsen mit dieser Musik, hat sich dann irgendwann, wie jeder vernünftige Mensch, dem Techno zugewandt und 1998 mit »Energy Flash« das bis heute beste Buch über diese Musik verfasst. Mit seiner neuen Arbeit hat er nun nicht nur eine Geschichte nach Punk, sondern auch ein Prequel zu »Energy Flash« verfasst. Das Buch endet da, wo es mit Chicago-House und Detroit-Techno so langsam losgeht.

Genüsslich zaubert Reynolds in »Rip it up and start again« dann eine Kröte nach der anderen aus seinem Zylinder, die er den aufrechten Punkrocker zu schlucken zwingt. Diese ganze Punk-Kiste – gegen die Hippies, das Kiffen, lange Haare, Mami und Emerson, Lake & Palmer – gab es, so Reynolds, nur einen klitzekleinen Moment lang, und selbst hier wurde nachträglich einiges verklärt. John Lydon aka Johnny Rotten etwa war weniger Pink Floyd-Hasser als vielmehr Disco- und vor allem Reggae-Fan. Johnny Rotten goes Disco! Schon vor den Sex Pistols. Und die wirklich spannenden Bands der New Wave – die von Reynolds stets Post Punk genannt wird, um den Bezug auf Punk und die gleichzeitige Abgrenzung davon besser zu verdeutlichen – lebten ähnliche musikalische Vorlieben wie Lydon dann auch vehement aus.

Punk wurde damals als Damm gegen den Disco-Tsunami errichtet, was besonders ein Anliegen von Leuten wie Legs McNeil war, auf den der Begriff »Punk« ja zurückgehen soll. Für Reynolds, der auch auf die rassistischen und homophoben Untertöne dieser »Fuck Disco«-Bewegung hinweist, da Disco eben weniger »Saturday Night Fever« und die Bee Gees war als vielmehr die Musik schwarzer Schwuler, brach dieser Damm jedoch recht bald und Disco und Funk, überhaupt schwarze Musik, sickerten überall in den Post Punk ein. Plötzlich wollten alle solche abartigen funky Basslines wie Chic, im englischen 2 Tone und New Pop wurde erneut die Vorliebe für Northern Soul (dem direkten Vorläufer von Disco, wenn man so will) ausgelebt, die Aufbruchstimmung und die Lust, alles mit allem zu clashen, war riesig. Es ging voran. »Die Sex Pistols sangen ›No Future‹, aber es gibt eine Zukunft, und wir versuchen, eine aufzubauen«, zitiert Reynolds Allen Ravenstine von der amerikanischen Post-Punk-Band Pere Ubu.

Punk war vielleicht so etwas wie das schwarze Quadrat von Malewitsch. Eine Zäsur. Ein Ende. Ein Anfang. Punk war eine Idee, Post Punk war tolle Musik. Punk hat zu den Toten Hosen, den Bösen Onkelz und Blink 182 geführt, Post Punk zu Techno und den aufregendsten Rockentwürfen unserer Tage, zu Black Dice oder Wolf Eyes. Punk war dämlicher Pogo, bei dem die Kerls die Mädchen von der Tanzfläche schubsten, Post Punk griff Machismen aktiv an, und ermutigte Mädchen, selber eine Band zu gründen. Punk ist tot, tot, tot, und wenn heute eine linke Politband klingt wie The Crass damals, dann wird die Revolution halt ohne mich stattfinden.

Post Punk aber lebt. Reynolds Buch unterstreicht die Veränderung im Popdiskurs, in dem sich mit rasender Geschwindigkeit von der Fixierung auf Punk verabschiedet wird. Sein Buch füllt eine empfindliche Lücke und kann jetzt schon als Standardwerk zum Thema gelten. Die beiden wichtigsten Bücher über Punk, Greil Marcus’ »Lipstick Traces« und Jon Savages’ »England´s Dreaming«, versuchten herauszufinden, wie es zu den Sex Pistols und Johnny Rotten kommen konnte. Beides las sich höchst interessant, und auch die Geschichte mit dem Dadaismus und den Situationisten ist ganz spannend. Doch dass es nach den Sex Pistols bei Malcolm McLaren und Johnny Rotten, der sich dann freilich wieder John Lydon nannte, nochmals so richtig losging, das fiel bei diesen Büchern eher unter den Tisch.

Diese zwei aus der Riege der Hauptprotagonisten des Punk waren dann nämlich auch entscheidend am Post Punk beteiligt. Malcolm McLaren steckte Adam Ant in die richtigen Klamotten, lebte mit Bow Wow Wow bizarre Teensexträume aus und rappte, mehr schlecht als recht, absurderweise mit »Buffalo Gals« einen frühen Klassiker des HipHop ein, den er als den »Punk der Schwarzen« erkannte. Lydon gründete PiL, bekannte sich endlich offen zu seiner Liebe zu Reggae und Disco, und schon die zweite PiL-Platte, so will es Reynolds erkannt haben, klingt ganz offensichtlich nach Pink Floyd (Reynolds versteht das als Kompliment, Lydon auch). Später lässt Lydon auf der PiL-Platte »Album« niemand anderen als einen der Erzfeinde des Punk, Ginger Baker von der Superstar-Katastrophenband The Cream, mittrommeln. Nun ja, wenn es Punk ist, gegen das zu opponieren, was von einem erwartet wird, dann ist die Geste, Ginger Baker hinters Schlagzeug zu klemmen, fast schon wieder Punk – doch lassen wir das. Auch Reynolds verzichtet schließlich dankenswerter Weise komplett auf diesen Schwachsinnsdiskurs, wer wann und wo Punk oder nicht Punk war und was Punk von Hardcore unterscheidet und ob jemand, der nicht streng nach den zehn goldenen Regeln des Punk lebt, mit lebenslangem Zwangshören von Britney Spears bestraft gehört.

Wenn man »Rip It Up And Start Again« durch hat – Reynolds findet nur schwer ein Ende und wälzt die Geschichte auf epische Länge aus – ist einem ganz schwummrig. Es geht um Rough Trade, Red Crayola, Throbbing Gristle, The Contortions, Human League, ABC, The Slits, The Raincoats, Factory, Joy Division, Delta 5, Orange Juice, Rip, Rig and Panic, New Age Steppers, es geht um Berlin, New York, London, Manchester, Sheffield – kurz tief Luft holen –, es geht um Clubs wie das Roxy´s, CBGB´s, Mudd-Club, Danceteria, es geht um Trevor Horn, Gregg Ginn, Brian Eno, David Bowie, um so unglaublich viele unterschiedliche Musik, Szenen, Subszenen, Namen. Irgendwann franst die Erzählung etwas aus, es kommen Duran Duran, Wham! und U2 mit ins Spiel, aber was soll man machen: Darum ging’s eben auch zwischen 1978 und 1984.

Reynolds macht bei seinem fieberhaften Herumstöbern, hauptsächlich im UK und in den USA, kein Geheimnis daraus, dass seine echte Liebe dem englischen Post Punk gilt. Während in den USA, etwa rund um das Label SST, Musik als harte Arbeit aufrechter Männer (Henry Rollins!) zelebriert wurde, zog man sich in England goldene Anzüge oder Frauenklamotten an, schminkte sich, sah super aus und verwischte eifrig Geschlechtergrenzen. Reynolds sieht in Amerika das Männliche, in England das Weibliche bzw. Androgyne. Der eben erschienene Sampler »GRLZ – Women ahead of their time«, der ausschließlich rein weiblich besetzte Bands dieser Zeit featured, stellt nicht ohne Grund hauptsächlich Acts aus England vor.

In den USA ging es um Proletarisierung, in England um Intellektualisierung, die bis hin zur Verkultung von Derrida bei Scritti Politti führte. All diese herrlichen Fashion Victim-Konzepte, die Neo-Mod-Bewegung, in der man sich genau die teuren Anzüge leistete, die einem Margret Thatcher nicht gönnte, der Lad, der Wimp, all das kam aus England. Aus den USA kamen die Typen mit den Holzfällerhemden und Jeans und gerade mal Devo, für die andauernd Karneval war und die in ihren Uniformierungen herrlich bekloppt aussahen. Vor allem in England kam es für Reynolds immer wieder neu zu dem, was seinem Buch letztendlich zum Titel verholfen hat, zu: Rip It Up And Start Again – Zerreiß es, und fang von vorne an. Entliehen hat er sich den Titel übrigens bei dem gleichnamigen Song von Orange Juice, dieser wunderbaren Wimp-Pop-Band aus Glasgow, die mit ihrem Bandnamen auf ihre bevorzugte Droge hinweisen wollte und auch sonst alles andere versuchte, als irgendwie »punkig« zu wirken. Auch für Orange Juice wäre es an der Zeit, im großen Stil neu entdeckt zu werden. Der Anfang wurde bereits gemacht. Das gleiche Label, das uns Franz Ferdinand geschenkt hat, konnte nicht widerstehen, eben erst mit »The Glasgow School« eine Orange Juice-Überblicks-CD zu veröffentlichen. Weil das Label sich angeblich beim Signing von Franz Ferdinand damals dachte: Diese Band könnte unsere Orange Juice werden.

Gang Of Four: Return the gift (V2)

Various Artists: GRLZ – Women ahead of their time (Crippled Dick Hot Wax!)

Orange Juice: The Glasgow School (Domino/Rough Trade)

Colegrave & Sullivan: Punk. Collection Rolf Heyne, München 2005, 399 Seiten, 48 Euro.

Simon Reyolds: Rip It Up And Start Again. Faber and Faber, Oxford 2005, 576 Seiten, 16,99 Pfund.