Transformation der Apathie

Die Linkspartei ist der Ausdruck einer gesellschaftlichen Krise und zugleich deren Kanalisierung in institutionellen Bahnen. von anton landgraf

So viel Hoffnung gab es selten. Nach Jahren der Stagnation wittert die Linke wieder Morgenluft. Seit dem fulminanten Start der Wasg/Linkspartei glauben wieder viele an einen neuen Aufbruch. Eine linke Hegemonie gegen Sozialabbau und neoliberale Politik scheint möglich.

Dabei gestaltete sich die Vorgeschichte der neuen Hoffnung alles andere als verheißungsvoll. Wer erinnert sich? Nur einige Wochen regten sich die Proteste gegen die Hartz-Pläne, ohne allzu viel Elan zu versprühen. »Wir sind das Volk«, schallte es müde vor allem im Osten der Republik. »Wer kämpft, hat schon verloren«, lautete die heimliche Parole. Umso erstaunlicher ist es, mit welchem Schwung eine neue Partei entstanden ist. Trauten sich vor kurzem gerade mal einige tausend auf die Straße, warten heute Millionen auf die Wahlen. Hierzulande scheinen soziale Bewegungen keine große Zukunft zu haben, dafür gelingt es umso schneller, eine neue Partei zu gründen.

Das letzte Projekt, dem bundesweit ein vergleichbarer Aufstieg gelang, benötigte dafür immerhin noch ein Jahrzehnt. Auch die Grünen verdanken ihre Entstehung einer großen gesellschaftlichen Krise, als das fordistische Wachstumsmodell seit den siebziger Jahren langsam, aber stetig zerfiel. Erfolg hatte nun, wer flexibel auf die neuen Verhältnisse reagieren konnte. Die Grünen repräsentierten das Milieu, aus dem sich die modernen Mittelschichten entwickelten. Die Biografien ihrer Protagonisten entsprachen den neuen Verhältnissen. Sie zeigten, dass der soziale Aufstieg für die Bürgerkinder auch in Zeiten des flexibilisierten Kapitalismus möglich ist. Die Karrieren verlaufen nicht mehr so geradlinig wie in der vorigen Generation, ein gebrochener Lebenslauf ist sogar die Regel. Doch trotz aller Turbulenzen gehören sie zu den Gewinnern im fortgeschrittenen Postfordismus. Sie wohnen gerne in »problematischen Vierteln« und ziehen, der Zukunft ihrer eigenen Kinder zuliebe, irgendwann in die besseren Bezirke um.

Die Sozialdemokraten können ihrer weniger gebildeten und weniger flexiblen Klientel keine ähnliche Perspektive bieten. Ihr keynesianisches Verteilungsmodell erwies sich spätestens in den neunziger Jahren als Handicap im weltweiten Standortwettbewerb. New Labour galt nun als Vorbild: Die volkswirtschaftlichen Makrozahlen geben den Rahmen vor, sozialer Ausgleich ist an Effizienz und Stabilität gekoppelt. Der Sozialstaat gilt nur noch so weit, wie die internationale Wettbewerbsfähigkeit gewahrt bleibt; das Wirtschaftswachstum ist das Mittel, um soziale Ziele zu verwirklichen. Für alle soll es günstige Startbedingungen geben, dann muss jeder sehen, wo er bleibt.

Dumm nur, wenn das Wachstum auf sich warten ließ und nur die ohnehin höheren Schichten von den »günstigen Rahmenbedingungen« profitierten. Allmählich bröckelte die sozialdemokratische Basis.

Zu den ersten Verlierern der neuen Wirtschaftspolitik gehörten »schwierige Fälle« wie Langzeitarbeitslose, Ungelernte, Rentner und Alleinerziehende. Ihren Unmut konnte die rot-grüne Koalition noch gut verkraften, denn ihr Protest beschränkte sich zumeist auf Lethargie. Den Wahlen blieb dieses »neue Proletariat« fern und war in organisierter Form allenfalls an den Kassen der Media-Märkte anzutreffen.

Die Situation änderte sich erst, als auch die traditionelle Mittelschicht, die Facharbeiter und Angestellten, massenhaft von dem Sozialabbau in Mitleidenschaft gezogen wurden. Mit Hartz IV kam die Angst, selbst zu den Verlierern zu gehören. Die Arbeiter bei Opel wissen genau, dass ihnen auch großzügige Sozialpläne nichts nützen werden, wenn ihre Qualifikation überflüssig geworden ist.

Die Sorgen, die schon zuvor an Stammtischen, in Szenekneipen und der Werkskantine zirkulierten, äußerten sich nun konkreter: Wann hat das ganze Elend begonnen? Mit dem grenzenlosen Euro, den undurchschaubaren Aktienmärkten, den feindlichen Übernahmen? In den vergangenen Jahren wurden diese Fragen in kleinen Zirkeln diskutiert. Heute sammelt die Wasg Gewerkschafter, verbitterte Sozialdemokraten, Aktivisten von Attac und viele der restlichen linken Gruppen ein. Gemeinsam mit der Linkspartei hoffen sie, dass eine nationalstaatliche Regulation den globalisierten Wettbewerbsstaat zähmen könne.

So empfiehlt das aktuelle »Wahlmanifest« der Wasg etwa einen »konsequenten Kampf gegen Steueroasen« und die »Besteuerung internationaler Transaktionen«. Diese Forderungen sind auch deshalb so erfolgreich, weil sie bis weit ins konservative Milieu und noch darüber hinaus reichen. Die Polemik des Spitzenkandidaten der Linkspartei, Oskar Lafontaine, gegen »Fremdarbeiter«, die Ost-Erweiterung der EU und vor allem gegen den Beitritt der Türkei sind ebenso populär wie sein Bekenntnis zu autoritären Lösungen: zum Wohle der Gesellschaft. Und zum Schutz vor Kinderschändern darf der Staat auch mal ein bisschen foltern.

»Lafontaine bringt die Dinge auf den Punkt«, schwärmt Peter Gauweiler, CSU-Bundestagsabgeordneter und Kolumnist der Bild-Zeitung. »In groben Umrissen mindestens«, meint der ehemalige CDU-Sozialpolitiker Heiner Geißler, beantworte die Linkspartei »einige brennende aktuelle Fragen«, auf die die beiden Volksparteien »keine Antworten« mehr geben könnten. Zugleich warnte er seine Partei vor dem »amerikanischen Weg«, der direkt ins soziale Elend führen würde. Selbst die grüne Verbraucherministerin Renate Künast empfahl kürzlich ihren potenziellen Wählern in populistischer Manier, lieber »bei deutschen Herstellern« einzukaufen, um so Arbeitsplätze zu sichern.

Dabei erklären die Vertreter der Linkspartei freimütig, dass sie die Aufgabe jener Partei übernehmen wollen, der viele von ihnen selbst bis vor kurzem noch angehörten. »Die Wahlalternative vertritt in der Wirtschafts- und Sozialpolitik ein Programm, das sich nicht nur mit der langjährigen SPD-Programmatik, sondern auch über weite Strecken wörtlich mit den Vorschlägen der deutschen Gewerkschaften deckt«, schreibt Lafontaine in seiner »Streitschrift für eine gerechte Gesellschaft«. So verwundert es nicht, dass schon intensiv über mögliche Regierungsbeteiligungen spekuliert wird.

Die aktuelle Debatte in der Linkspartei über die akzeptable Höhe eines Mindestlohns bietet die erste Gelegenheit zu sehen, wohin die Reise geht. Der Streit dreht sich hauptsächlich um die Forderung nach einem gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn. Statt der im Programm festgelegten 1 400 Euro hat Lafontaine 1 250 Euro vorgeschlagen, während der Mitbegründer der Wasg, Klaus Ernst, es wiederum »nicht entscheidend findet, ob es am Ende hundert Euro mehr oder weniger sind«. Tatsächlich geht es in der Debatte wohl weniger um die Löhne als darum, rechtzeitig »Politikfähigkeit« und »Realismus« zu demonstrieren. Als »integrierte Opposition« hätte Johannes Agnoli dieses Phänomen bezeichnet.

So ist die neue Partei weniger ein Ausdruck einer neuen linken Hegemonie oder einer eskalierenden gesellschaftlichen Krise, sondern ein Zeichen für die Stabilität der Verhältnisse. Schließlich gelingt heute immer weniger Staaten eine solch reibungslose Transformation von sozialen Konflikten in institutionellen Bahnen. Das Modell Deutschland bewährt sich auch in den Zeiten von Hartz IV.