»Ich fahre ganz gern Bahn«

Wolfgang Kraushaar und Jan Philipp Reemtsma über militante Linke. von stefan ripplinger

Wenn Kunst in die Gesellschaft eindringt, wird sie zu einem Zwitter. Weder ist sie dann noch ganz Kunst, noch ist sie bereits ganz Kommunikation; ihre Zweideutigkeit drängt auf einmal zur Entscheidung. Eine nur technisch fortschrittliche, aber regulierte und rigide Gesellschaft wird von der Konfrontation mit diesem Zwitter gestört, manchmal schockiert. Dass sich solche Störungen und Schocks politisch ausbeuten lassen, wussten die Dadaisten, die Surrealisten und die Situationisten. Kunst kann, außerhalb ihres Bezirks, gewissermaßen auf vorgeschobenem Posten, ein Werbeplakat sein, eine Maskerade, ein Scheck, ein falscher Bart, sie wirkt nun, wie Debord schreibt, als ein »détournement«, eine Beschlagnahme oder Umlenkung.

Das »détournement« der Dadaisten, Surrealisten, Situationisten geriet über Mittelsmänner in die Hände der radikalen Linken. Einer dieser Mittelsmänner war Dieter Kunzelmann, Mitverfasser einer der anregendsten Schriften der europäischen Avantgarde, der »Unverbindlichen Richtlinien« (1962/63). »Realität ist das Integral aller Möglichkeiten«, heißt es in diesem erotisch-theologischen Manifest, das die Möglichkeiten erkundet. »Lasst uns dithyrambisch werden! Das stempelt uns zu harmlosen Irren!« Wesentlich von Kunzelmann angeregt, wagte eine Schar von Drop-Outs dithyrambische Interventionen, von denen die bekannteste das geplante »Pudding-Attentat« auf den US-amerikanischen Vizepräsidenten war. Doch die Methode, die sich alle Möglichkeiten, vor allem die der Ironie, offen hält, lässt sich aus zwei Gründen nicht beliebig lange anwenden: Selbst starre Gesellschaften gewöhnen sich mit der Zeit an solche unsortierbaren Störungen. Wichtiger noch ist, dass politische Strategien eindeutiger, nämlich kommunizierbarer Ziele bedürfen. Und so verarmten sehr bald die Zweideutigkeiten zu Eindeutigkeiten, das situationistische Erbe verlor sich und die politischen Kämpfer wurden wieder eins mit der Gesellschaft, aus der sie gekrochen waren.

Möglicherweise war der Tag, an dem sich dieser Umschlag vollzog, der 9. November 1969, als ein Kommunarde, vermutlich angestiftet, jedenfalls aber publizistisch unterstützt von Dieter Kunzelmann, eine Bombe ins Jüdische Gemeindehaus trug, wo sie gottlob nicht zündete. Den Fall hat der Politologe Wolfgang Kraushaar mit bürokratischer Gründlichkeit aufgehellt. Er hat die Akten von Staatsanwaltschaft und Stasi studiert, Kunzelmanns Tagebuch des Jahres 1969 eingesehen, alte Kampfgefährten dazu überredet, gegeneinander auszusagen. Er hält es für bezeichnend, dass ein antisemitischer Akt den Beginn des westdeutschen Terrorismus bildete, und für erwiesen, dass »der Situationismus« (bzw. was er dafür hält) dabei Pate stand. Wer, schreibt er, die »Wurzeln des bewaffneten Kampfes weiter zurückverfolgen« wolle, der komme nicht umhin, »einer Spur nachzugehen, die in jene avantgardistische Gruppierung führt, die aus dem Traditionsstrom der europäischen Post-Avantgarde, genauer dem Situationismus, hervorgegangen ist«.

Doch auffälligerweise geht er weder der Spur noch der Wurzel noch dem Strom nach. Er liest nicht die situationistischen Schriften, nicht einmal die »Unverbindlichen Richtlinien«. Für ihn ist künstlerische Zweideutigkeit bloß »Camouflage«, hinter den lustigen Aktionen wittert er die primitiven Absichten der Unbürgerlichen, und an Kunzelmann interessieren ihn weder Motive noch Gedanken, sondern allein, dass er Schule und Lehre abgebrochen hat und »nichts weniger als die Destruktion aller Sozialbeziehungen« propagierte. Als Dämon ist er ihm am liebsten.

Kraushaar will kaschieren, dass die Kommunarden, als sie Bomben in jüdischen und israelischen Einrichtungen legten, der Gesellschaft, aus der er sie exorzieren will, näher standen, als ihm lieb sein kann. Nahe standen sie ihr und ihren Organen zuvörderst in einem ganz praktischen Sinn. Die Bombe hatte der Verfassungsschutz geliefert. Das bestreitet auch Kraushaar nicht, der den Umstand freilich nicht kommentieren will. Um der nicht fassbaren, weil schillernden Störung Herr zu werden, war die politische Polizei skrupellos genug, die Bedrohung oder Gefährdung von Überlebenden des Holocaust in Kauf zu nehmen oder gar zu begünstigen. Schon vor dem Verbrechen will die Polizei, noch lange nach ihm will der Politologe aus den Störern Verbrecher machen. Und wie sie zeigt er sich stets erleichtert, sobald Kunzelmann aus dem »Halbdunkel« tritt, in dem er sich sonst bewege. Nun kann er ihn erkennen. Aber erkennen kann man nur, was einem ähnlich ist.

In die Mitte der Kommunikationsgesellschaft waren die Kommunarden zurückgekehrt, indem sie unmissverständlich wurden. Das waren sie, als die Bombe und noch bevor das propalästinensische Bekenner-Flugblatt auftauchte. Dass nämlich die Bombe nicht zündete und bis heute nicht sicher festzustellen ist, ob der Attentäter selbst oder der Verfassungsschutz dies einkalkulieren konnten, ändert nichts daran, dass es sich um einen Sprengsatz und nicht etwa um eine Attrappe handelte. Die Drop-Outs kehrten in die verachtete Gesellschaft zurück, indem sie einen antisemitischen Anschlag versuchten. Zugleich schlossen sie damit an die klassische Linke an, die, wie Micha Brumlik richtig feststellt, seit dem französischen Frühsozialismus antisemitisch gestimmt war. Sie schlossen damit aber auch an die bürgerliche Tradition an, denn auch deren Philosophen, je aufgeklärter umso deutlicher, waren fast ohne Ausnahme Antisemiten. Und schließlich schlossen sie an die älteste echt-deutsche Tradition an, die Luthers, der die Juden brennen sehen wollte. Die Attentäter taten etwas, was vielen Deutschen gut gefiel – auch wenn Springer protestierte.

Davon, dass die »ungebrochene Wirksamkeit eines antisemitischen Latenzzusammenhangs« auf einer gesellschaftlichen Gravitation beruht, will Kraushaar nichts wissen, für den nur eine Handvoll Irre, Verwirrte und Drogensüchtige hinter dem Terror stecken. Er ahnt wohl, dass, wer über den Antisemitismus nachdenkt, leicht vom Hundertsten ins Tausendste und vom Fernsten aufs Nächste gerät. Nehmen wir ihn selbst als Beispiel. Das Geld, von dem er seit 1987 seine Forschungen bestreitet, stammt aus dem Hamburger Institut für Sozialforschung, also von Jan Philipp Reemtsma, dem Erben eines Konzerns, welcher seinen Aufschwung dem Reichsmarschall Göring verdankt. Zur Familiengeschichte befragt, antwortet der Erbe ungewöhnlich wortkarg, er habe sich für sie im »Positiven nie besonders interessiert. Und also auch nicht im Negativen.« Seine moralische Autorität enthebt ihn der peinlichen Frage nach der moralischen Integrität.

Wie Kraushaar will sich auch Reemtsma mit dem Terrorismus einer Linken entledigen, die seine Kreise stören könnte. Wie für seinen Adlatus gibt für ihn die bürgerliche Gesellschaft das Maß allen Handelns und Denkens. Anstatt aber wie jener Zweideutigkeiten zu entlarven, kennt dieser ohnehin nur das Eindeutige und Eigentliche. Im Stil einer voluntaristisch verplumpten Systemtheorie zieht er Gründe und Ziele ab, lässt allein Zweck und Weg übrig. »Wer von A nach B will, nimmt – schon beim ›meist‹ zögert man ja, sagen wir also: oft das schnellere Verkehrsmittel, doch (selbst alle Zusatzbenutzung wie Lesen, Schreiben, Essen, Schlafen beiseite gestellt) gibt es nicht das Moment des ›Ich fahre ganz gern Bahn‹ oder ›Ich hasse die Bundesbahn‹?« heißt es in seinem Vortrag vor der Evangelischen Akademie Arnoldshain. Seine Syntax will nicht von A nach B, doch glücklicherweise errät man schon beim A, was das AA sein wird. »Manche Menschen sind gern gewalttätig, manche sind es nicht.« Die Terroristen, durchweg von »elementarer Dummheit« und »komplett verrückt«, verfolgten demnach keine ernst zu nehmenden Ziele, aber einen Zweck, nämlich den, ihre Blutgier zu stillen.

Weil ihnen das in Gruppen besser gelang denn als Desperados, bildeten sie Banden. »Solidarität respektive Kameradschaft, das wussten Hannah Arendt und Sebastian Haffner, sind für solche, die das bürgerliche Leben nicht aushalten, weil es sie überfordert.« Ulrike Meinhof schloss sich also der RAF an, weil das bürgerliche Leben sie überforderte. Reemtsma und Kraushaar überfordern den Leser nicht, geschweige denn sich selbst.

Wolfgang Kraushaar, Jan Philipp Reemtsma, Karin Wieland: Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF. Hamburger Edition, Hamburg 2005, 143 S., 12 Euro

Wolfgang Kraushaar: Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus. Hamburger Edition, Hamburg 2005, 300 S., 20 Euro