Old Shatterhand an Jesus

Der österreichische Regisseur Ulrich Seidl hat einen eigenwilligen Film über das Beten gedreht, in dem man das hört, was sonst nur Jesus zu hören bekommt. von andreas hartmann

Auf dem Weltjugendtag letzte Woche in Köln musste sich Jesus bestimmt wieder so einiges anhören. Bei Zehntausenden von Jugendlichen, die kein Pfefferminzplätzchen zu sich nehmen können, ohne vorher ein Tischgebet zum Besten zu geben, kommt so einiges zusammen.

Tischgebete werden meist im Beisein anderer gehalten: »Komm, Herr Jesus, sei unser Gast, segne, was du uns bescheret hast.« Und dann alle: »Amen«. Die Gebete hilfesuchender, zweifelnder Gläubiger jedoch, sind höchst intime Angelegenheiten, sein Zwiegespräch mit Gott verrichtet der Gläubige im Allgemeinen im Stillen. In Ulrich Seidls neuem Dokumentarfilm »Jesus, du weißt« jedoch wird das Kinopublikum Zeuge dieser Rituale geheimer Konversationen.

Der Zuschauer tritt durch die subjektive Kamera unerhörterweise selbst an die Stelle Jesu und kann endlich einmal Mäuschen unter betenden österreichischen Katholiken spielen. Und was er da teilweise in Seidls Film zu hören bekommt, ist schon ziemlich hart. Wenn man endlich einmal mitbekommt, mit welchen Problemen sich Betende den lieben langen Tag an den Allerhöchsten wenden, bekommt man regelrecht Mitleid mit ihm. Gott kriegt bekanntlich alles mit und hört auch alles, und um diese Gabe ist er, so muss man als Zuschauer irgendwann feststellen, wirklich nicht zu beneiden.

Man denke nur an den Stuss, den der von Seidl porträtierte Student andauernd an Jesus heranträgt. Der Student fängt irgendwann an, im Gebet sein schlechtes Gewissen erleichtern zu wollen, indem er dem da oben etwas von seinen »erotischen Phantasien« mitteilen möchte. Ist es schon schwer vorstellbar, dass Jesus wirklich etwas von diesen Phantasien wissen möchte, fängt der Zuschauer in seiner Zwangslage als Ersatz-Jesus gar langsam an, sich als Voyeur ernsthaft unwohl zu fühlen. Und wenn der Student dann fortfährt, davon zu berichten, dass er so seltsame Allmachtsphantasien entwickelt habe und davon träume, Old Shatterhand zu sein, kann man es wirklich kaum noch fassen.

In solchen Momenten, da ist man sich bald sicher, wünscht sich Jesus bestimmt, nie auferstanden zu sein. »Mein Gott«, wird er gerade mal wieder seinen Vater im Himmel anflehen, »warum hast du mich verlassen?«

Insgesamt sechs Betende konnte Seidl dazu bringen, ihre intimsten Geständnisse, die sie normalerweise nur ihrem überirdischen Ersatz-Psychotherapeuten anvertrauen, dem Gekreuzigten, vor der Kamera und für ein Kinopublikum auszusprechen. Wie Seidl sie zu diesem Extremexhibitionismus bewegen konnte, bleibt einmal mehr sein Geheimnis. Wie dokumentarisch und authentisch diese Gebete wirklich sind, ebenfalls. »Jesus, du weißt« ist in dieser Hinsicht eben ein typischer Seidl-Dokumentarfilm geworden, ein Film, dem man einfach nicht glauben kann, dass er hundertprozentig so etwas wie die Wahrheit oder Wirklichkeit zeigt. Seidl war schon immer ein Gonzo- und Borderline-Dokumentarfilmer, aber gerade deswegen sind seine Filme ja auch immer so großartig abgründig.

Dabei ist »Jesus, du weißt« keiner dieser Seidl-Filme, bei deren Betrachtung man sich als Zuschauer permanent peinlich berührt fühlt und einem das Lachen den Hals rauf- und runterrutscht. Gut, es gibt besagten Studenten, und wenn eine der Betenden Jesus darum bittet, sie davon abzuhalten, ihren untreuen Ehemann um die Ecke zu bringen, hat auch das gewisse schwarzhumorige Qualitäten. Doch meist entfaltet dieser Film, der extrem karg inszeniert ist und die Kirche beinahe nie verlässt, eher eine ungemeine Tristesse, die so gar nicht zum Schenkelklopfen einladen mag. Einer der Betenden enthüllt, dass er als Kind von seinen Eltern regelmäßig körperlich gezüchtigt wurde, während eine andere von ihrer Ehehölle berichtet – zuhause hat sie einen kranken Mann hocken, der niemals die Fernsehcouch verlässt und als Moslem glaubt, seine Krankheit sei eine Strafe seines Gottes dafür, dass er eine Christin geheiratet habe. Jesus!

Seidl selbst enthält sich jedes Kommentars. Er zeigt ausschließlich die Betenden in ihrem Betraum, der Kirche. Doch so, wie er sie zeigt, lässt das gelegentlich tief blicken. So kommt es vor, dass er die Kamera penetrant auf den Betenden hält, um dann in einem kurzen Gegenschnitt zu zeigen, wen oder was der Betende in Wahrheit anspricht, nämlich eine beinahe komplett nackte Figur aus Holz, die in einem erbarmungswürdigen Zustand an einem Kreuz hängt. Ein wenig hat man an diesen Stellen das Gefühl, jetzt hätte Seidl auch zeigen können, dass der Betende weiße Mäuse sieht. Eine komische Holzfigur hängt da über dem Kirchenaltar, so deckt die Kamera auf, mehr ist da letztlich nicht.

Überhaupt wird in Seidls Händen die Kamera zu einem erbarmungslosen Instrument. Wie bereits erwähnt, zwingt es den Zuschauer förmlich dazu, die Position des Angebeteten einzunehmen, man wird selbst zu Jesus, ob man will oder nicht. Ganz nebenbei bemerkt, erinnert diese Zurichtung des Zuschauerblicks frappant an eine andere berühmte subjektive Kameraeinstellung der Filmgeschichte, nämlich an die in Sam Raimis »Tanz der Teufel«, wo der Zuschauer nicht anders kann, als zu Beginn des Films den Blick des unsagbar Bösen, des Gegenspielers Jesu, einzunehmen.

Seidl scheint die Funktionsweise des Betens über die Funktionsweise des Kinos selbst erklären zu wollen. Im Kino wie in der Kirche muss man sich auf Illusionen einlassen, sonst funktioniert es einfach nicht. So wie das Kino selbst, vielleicht will Seidl uns das mit seinem Film sagen, so funktioniert auch der Glaube.

Wie der Zuschauer im Kino nimmt auch der Betende in der Kirche an etwas teil, dem mit rein rationalen Argumenten nicht beizukommen ist. Der Gläubige ist gegen die reine Ratio resistent, er sucht vielleicht Hilfe und hat sonst niemand anderen, mit dem er reden könnte. Da wird er einen Teufel tun und zugeben, dass seine Beterei komplett sinnlos ist, genauso wie der Kinogänger nicht gesagt bekommen möchte, auf der Leinwand nur einen Schauspieler zu sehen und keinen echten Cowboy. Wer »Jesus, du weißt« sieht, einen – wenngleich dokumentarischen – Film über das Beten, bekommt letztlich vermittelt, dass er sich als Kinogänger gar nicht so sehr von den gezeigten Betenden unterscheidet.

»Jesus, du weißt« (Österreich 2003). Regie: Ulrich Seidl. Start: 25. August